Zusammenfassung
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich die Marxsche Schule der Philosophie in einer außerordentlich ernsten Krise befindet, vollständig aus der Mode gekommen ist, ja um ihr Bürgerrecht in der wissenschaftlichen Kultur (Negt) bangen muß. Wenn in diesen Tagen originäre Verächter dieser Denkschule das Ableben einer theoretischen und praktischen Bewegung in mehr oder weniger gut formulierten Nachrufen festhalten zu müssen glauben1, so ist man dennoch geneigt, sich an Vorzüge eines historisch aufgeklärten Bewußtseins zu erinnern. Wir kennen doch recht genau die Frivolität (um einen Begriff der jetzt auch bei uns publizierten frühen Tagebücher Georg Lukács’ aufzugreifen) solcher Totsagungen. Es sei gar nicht erst an Hegel erinnert.
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Literatur
Einer der großen Irrtümer von Peter Koslowski: Nachruf auf den Marxismus-Leninismus, Tübingen 1991, besteht in der faktischen Gleichsetzung von Marxismus und Marxismus-Leninismus, die dem Differenzierungsvermögen des Autors (oder seinem Kenntnisstand) kein gutes Zeugnis ausstellt.
Zum umfangreichen Spätwerk zahlen neben der “Eigenart des Ästhetischen” und “Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins” die “Prolegomena” (Lukacs’ letztes philosophisches Statement), sein politisches Testament “Sozialismus und Demokratisierung” sowie seine Notizen zur Ethik, die demnächst publiziert werden.
Im folgenden zitiere ich nach der Seitenzählung des Typoskripts. VdPh, 1.
VdPh, 2.
VdPh, 2.
VdPh, B.
VdPh, 9.
VdPh, 14.
VdPh, 19.
Marx/Engels sprechen in der “Deutschen Ideologie”, MEW 3, 36, von der “weltgeschichtliche(n) Existenz des Menschen, die unmittelbar mit der Weltgeschichte verknüpft ist”.
Vgl. Georg Lukacs: Ontologie II, 7–116.
Wäre der Begriff nicht bereits von Lucien Goldmann besetzt, so ließe sich die Methode der “Ontologie” am besten als genetischer Strukturalismus bezeichnen. Lukacs geht in einem doppelten Sinne vom Primat des Einfachen aus: Primat besitzen die historisch früheren Ausprägungen des gesellschaftlichen Seins, also vor allem die “einfache” Urform der Arbeit, sowie das alltägliche Denken. Es ist Aufgabe einer “ontologischen Kritik”, dem Alltagsdenken gegenüber den Verdinglichungen der Wissenschaft seinen Platz zu sichern. Der Status dieser “ontologischen Kritik” ist schwer zu fixieren, ihre Aufgabe ist aber klar: sie soll den Homogenisierungstendenzen des wissenschaftlichen und philosophischen (System-) Denkens und dem damit verbundenen Wirklichkeitsverlust entgegenarbeiten. Vgl. hierzu Rüdiger Dannemann: Das Prinzip Verdinglichung, Frankfurt/M. 1987.
Während es eine recht ausgedehnte Spezialliteratur zum Arbeitskapitel der “Ontologie” gibt, fehlen seriöse Untersuchungen zu Lukacs’ unkonventioneller Verwendung der Begriffe Reproduktion, Ideologie und Entfremdung. Auch wäre es lohnend - zum Teil an Goldmann anknüpfend -, eine systematische vergleichende Analyse der Lukacsschen Ontologie mit der Existentialontologie Martin Heideggers durchzuführen, ohne sich von polemischen Abgrenzungen zumal Lukacs’ beirren zu lassen Ähnliches gilt (eventuell sogar in einem strikteren Sinne) von Sartres dialektischem Spätwerk.
In einem sehr bemerkenswerten Essay hat O. Negt - zu Recht - von dem „marxistischen Verbrechen der Erkenntnissicherheiten“ gesprochen (O. Negt: Karl Marx - Kein Bürgerrecht in der wissenschaftlichen Kultur, in: Dialektik H.2/1991, 22). Der Skeptizismus des späten Lukacs bietet m.E. für die Bewältigung des angesprochenen Defizits Ansätze, die nicht zuletzt Folgen der neukantianischen Denkgewohnheiten des frühen Lukacs sind.
Vgl. vor allem Georg Lukács: Ont. II, 501ff., 658ff. und 698f1.
Ebd., 682ff.
Ebd. II, 543.
Ebd. II, 554.
Ebd. II, 656ff.
Vgl. die einschlägigen Arbeiten von Eörsi und Hermann sowie Agnes Hellers biographisch sehr aufschlußreichen Essay “Der Schulgründer”.
Georg Lukâcs: “Spiegel”-Interview vom 22.1.1970, Originalprotokoll, 25.
Georg Lukács: Ont. II, 684.
Georg Lukács: “Spiegel”-Interview, 26.
Georg Lukács: Ont. I, 337.
Ebd. II, 635.
G. Lohmanns pessimistisches Fazit seiner Beschäftigung mit Marx, dieser habe mit einer objektivistischen Geschichtsphilosophie die Gegenwart geopfert, sein latenter Ökonomismus habe die Kultur geopfert, sein Produktivismus die Moral (vgl.: Indifferenz und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1991, 362), betrifft - dies hoffe ich zumindest einigermaßen plausibel gemacht zu haben - eine reflektierte Praxisphilosophie mitnichten.
Ont.II, 155ff.
Georg Lukács: Goethe und seine Zeit, Bern 1947, 22.
Georg Lukâcs: Die ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens und Handelns, in: F. Benseler (Hg.): Revolutionäres Denken - G. Lukâcs, Darmstadt/Neuwied 1984, 278.
Alex Demirovic: Neuer Universalismus, alter Universalismus und Partikularismus, in: Grünes und alternatives Jahrbuch, hg. von E. Jurtschisch u.a., Berlin 1986, 182.
Ebd.
Vgl. hierzu Rüdiger Dannemann: Rätebewegung und Basisdemokratie. Das politische Testament Georg Lukács’, in: Sozialismus und Demokratisierung, Frankfurt/Main 1987, S.137ff.
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Dannemann, R. (1995). Georg Lukács’ Kritik der gesellschaftlichen Vernunft. In: Dannemann, R., Jung, W. (eds) Objektive Möglichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-12263-0_12
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