Zusammenfassung
Ausgehend von der Unterscheidung von Gemeinschaften und Gesellschaften ermöglicht der Inklusionsbegriff eine gesellschaftstheoretisch fundierte Klärung der Frage nach den Bedingungen und Erfordernissen sozialer Integration unter den Bedingungen moderner, funktional differenzierter Gesellschaften. Grundlegend dafür ist die Einsicht, dass moderne Gesellschaften durch heterogene Teilnahmebedingungen von Teilsystemen und Organisationen charakterisiert sowie von sozialstrukturellen Ungleichheiten gekennzeichnet sind. Im Unterschied zum Integrationsbegriff wird damit die Annahme einer gesellschaftseinheitlichen Regulierung der Teilnahme von Individuen durch ein Verständnis eigenständiger und heterogener Inklusions-/Exklusionsordnungen der Teilsysteme ersetzt. Inklusion vollzieht sich auch nicht als umfassende Integration der Individuen, sondern als selektive Inanspruchnahme und Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und Leistungen. Vor diesem Hintergrund wird aufgezeigt, dass eine gesellschaftseinheitliche Übereinstimmung in Bezug auf Werte und Normen, Lebensstile, Sitten und Gewohnheiten weder erforderlich, noch gesellschaftsstrukturell verankert und auch nicht anstrebenswert ist. Vielmehr ermöglicht die Struktur moderner Gesellschaften einerseits soziokulturelle Pluralität und eine weitgehende Autonomie der privaten Lebensführung, mutet den Individuen damit andererseits aber den Verzicht auf ein sinnstiftendes gesellschaftseinheitliches Weltbild und die Akzeptanz eines Zusammenlebens unter Bedingungen von Anonymität und Fremdheit zu. Dies hat wiederkehrend zu reaktionären antimodernistischen Gegenbewegungen geführt, die auf eine Gestaltung von Gesellschaften als identitätsstiftende, möglichst homogene Gemeinschaften ausgerichtet waren und sind. Demgegenüber können die Menschen- und Grundrechte als Institutionen verstanden werden, die auf die politische und rechtliche Gewährleistung der soziokulturellen Pluralität und individuellen Autonomie zielen, welche durch die Struktur moderner Gesellschaften ermöglicht, durch strukturelle Zwänge und soziale Ungleichheiten aber auch eingeschränkt werden.
Notes
- 1.
Während der klassische Marxismus als zentrale Problematik die antagonistischen Interessengegensätze der sozialen Klassen annimmt, wurde bei Emile Durkheim die zunehmende gesellschaftliche Arbeitsteilung und damit die Auflösung einer auf der Ähnlichkeit der Lebensbedingungen und Erfahrungen beruhenden Solidarität zum Thema. Max Weber diagnostizierte einen Pluralismus der Kulturwertsphären und den Verlust eines einheitlichen sinnstiftenden Weltbildes, Georg Simmel zeigte die Tendenz zur Individualisierung auf, die sich aus der Vervielfältigung der sozialen Kontexte ergibt.
- 2.
Das. heißt nun aber keineswegs, dass das gesellschaftliche Zusammenleben zureichend als ein in sich differenzierter Funktionszusammenhang beschrieben werden kann, in dem sich Sozialität allein noch durch ökonomische Abhängigkeits- und politische Machtverhältnisse herstellen lässt. Vielmehr koexistieren unter Bedingungen der modernen Gesellschaft Formen der Vergesellschaftung von Individuen durch Erwerbsarbeit, Recht, schulische Erziehung usw. (s. u.) mit Formen der Vergemeinschaftung in Familien, Freundeskreisen, Dorfgemeinschaften, religiösen Gemeinden, politischen Gruppierungen, usw. Darauf werde ich im Weiteren noch zurückkommen.
- 3.
Das. heißt nicht, dass die Struktur moderner Gesellschaft ausschließlich durch funktionale Differenzierung bestimmt ist. Dass eine stratifikatorische Differenzierung (Klasse, Schichten) in ungleiche Positionen, eine segmentäre Differenzierung in gleichartige Untereinheiten (Familien, Verwandtschaften, Städte) und Formen der Zentrum-Peripherie Differenzierung weiterhin bedeutsam sind, wird ausdrücklich angenommen (s. dazu Luhmann 1977, S. 595 ff.). Zur Verwendung des Klassenbegriffs in der Theorie funktionaler Differenzierung s. Luhmann 1985.
- 4.
Das ist in Bezug auf die Ökonomie der funktional differenzierten Gesellschaft bereits bei Marx unter dem Stichwort der doppelten Freiheit der Lohnarbeiter/innen herausgearbeitet worden: Die Enteignung der Subsistenzmittel und die Freisetzung aus ständischen Bindungen ermöglichen die Inanspruchnahme als Arbeiter im kapitalistischen Betrieb unter ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten (s. zu dieser Übereinstimmung zwischen der Theorie funktionaler Differenzierung der und der marxschen Kapitalismustheorie Scherr 2016).
- 5.
Dabei sind drei Aspekte zu unterscheiden (vgl. Bommes und Scherr 2012, S. 163 ff.):
- die generelle Exklusion von Individuen aus den sozialen Teilsystemen, also die Tatsache, dass Menschen von den gesellschaftlichen Teilsystemen nicht alle Dimensionen ihrer Individualität in einem Teilsystem aktualisieren können und müssen;
- spezifische Exklusionen aus Teilsystemen, d. h. der Fall, dass Individuen als Personen in den Blick treten, die nicht die Zugangsvoraussetzungen zu Teilsystemen erfüllen, wie sie durch Organisationen als Teilnahmebedingungen spezifiziert werden;
- die quantitative Begrenzung von Mitgliedschaft und Leistungen durch Organisationen mit der Folge, dass Mitgliedschaften und Leistungen reglementiert und von Organisationen als Sozialsysteme mit Exklusionsbefugnis verwaltet werden.
- 6.
Teilnahme an Erwerbsarbeit ist keineswegs per se besser als Nicht-Teilnahme, was daran sichtbar wird, dass Reichtum dazu befähigt, nicht arbeiten zu müssen und es dann auch anstrebenswert sein kann, dies nicht zu tun. Auch ob z.B. Teilnahme an Religion oder am Leistungssport besser oder schlechter als Nicht-Teilnahme, ist keineswegs normativ vorentscheidbar.
- 7.
Niklas Luhmann (1996b: 11) formuliert seine diesbezügliche Diagnose wie folgt: „Zu den vielleicht auffälligsten Veränderungen gehört das Verschwinden der bäuerlich-handwerklichen Familienökonomie […]. Das Leben mag sich noch in ‚Familien‘ oder ähnlichen Lebensgemeinschaften vollziehen, aber es ist jetzt bis in die Details hinein vom Markt und von den Organisationen der Berufsarbeit, der Produktion und Dienstleistung abhängig, also von Veränderungen abhängig, die vom einzelnen als extern und unbeeinflussbar empfunden werden. Die Integration von Individuum und Gesellschaft wird zur Angelegenheit von Konjunkturen und Karrieren […].“
- 8.
Aber selbst Familien sind unter Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht in der Lage, das Versprechen eines umfassenden, ganzheitlichen und unauflöslichen Einbezugs der Individuen einzulösen, denn sie können keine schulische Erziehung und keine organisierte Krankheitsbehandlung ersetzen und gewöhnlich auch keinen Zugang zu Erwerbsarbeit gewährleisten.
- 9.
Dies ist offenkundig möglich und wurde als Primat der Politik in den Ländern des realen Sozialismus auch praktiziert – mit der erwartbaren Folge wirtschaftlicher Ineffizienz.
- 10.
- 11.
Insofern ist es paradox, wenn wiederkehrende Appelle an tatsächliche oder vermeintliche Integrationserfordernisse mit der Tendenz zu einer primär ökonomischen Ausrichtung der gesellschaftlichen organisierten Erziehung und Bildung einhergehen.
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