Zusammenfassung
Die feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft kann nicht losgelöst von den unterschiedlichen Entwicklungen der feministischen Theorie betrachtet werden. War es zuerst die Frauenforschung (women’s studies), die Männlichkeit als Norm und Weiblichkeit als von der Norm abweichend analysierte, so wird mit der Geschlechterforschung (gender studies) nicht nur der Forschungsschwerpunkt auf beide Geschlechter gelegt, sondern es geht damit auch ein Paradigmenwechsel in den Grundlagen der feministischen Theorie einher. Mit der de-/konstruktivistischen Wende sind theoretische und erkenntnistheoretische (epistemologische) Positionen neu formuliert worden. Fragen nach dem Herstellungsprozess von Geschlecht (Doing Gender), nach der Dekonstruktion des sex/gender-Systems, nach der Berücksichtigung weiterer Differenzkategorien wie Ethnizität, „Rasse“, Klasse, sexuelle Orientierung, Inter/Transgeschlechtlichkeit, Alter, Religionszugehörigkeit u. a. werden zentral und bedurften einer kritischen Reflexion und Reformulierung feministischer Basiskategorien. Nach wie vor stellt sich feministische Theorie als ein heterogenes, unabgeschlossenes Theoriegebäude dar, das sich immer wieder neuen Herausforderungen stellt und gerade angesichts aktueller Entwicklungen wieder neue Fragen ins Zentrum der Betrachtung zu rücken hat.
Leicht erweiterte und korrigierte Fassung meines Beitrags in Dorer und Klaus (2008, S. 91–100). Mein Dank gilt Gitti Geiger und Brigitte Hipfl für ihre kritischen Kommentare.
Notes
- 1.
Die Begriffe werden hier synonym verwendet, vgl. dazu: Dorer und Klaus (2003, S. 550).
- 2.
- 3.
- 4.
- 5.
Die Grundgedanken der poststrukturalistischen Strömungen haben Angerer und Dorer (1994, S. 14–16) anderorts ausführlicher dargestellt.
- 6.
Artikulation wird von Laclau und Mouffe (1991, S. 155) in Anlehnung an Karl Marx als nicht notwendige, aber sich als natürlich gerierende Verbindung mehrerer Elemente verstanden.
- 7.
Vereinfacht gesprochen handelt es sich bei einem Antagonismus um ein Verhältnis zwischen Feinden, bei einem Agonismus um ein Verhältnis zwischen Gegnern. (Mouffe 2005, S. 52).
- 8.
Vgl. dazu die Weiterentwicklung der Debatte „Gleichheit versus Differenz“ in Richtung „Gleichheiten und Differenzen“ in: Butler und Laclau (1998).
- 9.
Einführend dazu: Walgenbach 2012.
- 10.
Der Begriff inkludiert in dieser Verwendung neben postmodernen Identitätskonzeptionen auch semiotische, neopsychoanalytische und diskurstheoretische Ansätze, die aber im engeren Sinne nicht zur Postmoderne gezählt werden. V. a. in der US-feministischen Wissenschaft erfolgt meist eine Gleichsetzung von Poststrukturalismus und Postmoderne. Singer (2005, S. 36–38) übernimmt mit ihrer Einteilung nach Sandra Harding diese Ungenauigkeit.
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Dorer, J. (2019). Feministische Theorie als Fundament feministischer Kommunikationswissenschaft. In: Dorer, J., Geiger, B., Hipfl, B., Ratković, V. (eds) Handbuch Medien und Geschlecht. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20712-0_1-1
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- 31 January 2019
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