Zusammenfassung
Die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ – beispielhaft de Sade, Hobbes, Mandeville, Nietzsche – fungieren in der Dialektik der Aufklärung (und in der Kritischen Theorie insgesamt) als dialektische Umschlagspunkte. Sie vertreten die Perspektive der jeweils Herrschenden mit einer Radikalität, die in der offiziösen Philosophie ihrer Zeit eher verschleiert wird, die sich aber bei entsprechend gesellschaftstheoretisch aufgeklärter Lektüre für gegenläufige, herrschaftskritische Interessen nutzbar machen lässt. In diesem Sinn interpretieren Horkheimer und Adorno, einer Anregung Geoffrey Gorers folgend, auch de Sades Rechtfertigung ‚faschistischer‘ Verhaltensweisen. Sie skizzieren eine epochale Tendenz der gesellschaftlichen Verdrängung ethisch-universalistischen Orientierungswissens durch wissenschaftlich-technisches Verfügungswissen.
Notes
- 1.
Bereits 1934 hatte Erich Fromm in der Zeitschrift für Sozialforschung eine wohlwollende Besprechung dieses Buches veröffentlicht.
- 2.
Wobei Gorer auf das seiner Ansicht nach verbreitete Missverständnis hinweist, „that the ghastly projects he [de Sade] puts into the mouths of his reactionary ‚fascist‘ characters were taken to represent his own desires“ (Gorer 1934, S. 99). Gorer berücksichtigt allerdings zu wenig die subjektive Ambivalenz der Sadeschen Szenarien, die nicht nur überspitzte Züge der Gesellschaft des Ancien Régime enthalten, sondern auch de Sades Wunschträume und Ersatzbefriedigungen. In der de-Sade-Forschung insgesamt bleibt die Frage umstritten, wie weit der Autor für schrankenlose Triebbefriedigung eintrat oder deren Darstellung von ins Absurde getriebenen Konsequenzen als Demaskierung der jeweils Mächtigen verstanden wissen wollte. – In der 1953 veröffentlichten zweiten Auflage von Gorers Schrift, die auch der 1959 erschienenen deutschen Übersetzung zugrunde liegt, sind die Hinweise auf damalige nationalsozialistische Gräuel und andere zeitgeschichtliche Verbindungen weitgehend getilgt, weil der Autor in den 1950er-Jahren davon ausging, dass diese Hinweise „den meisten Lesern heute ohne ausführliche historische Fußnoten wohl unverständlich bleiben müssten“ (Vorwort zur zweiten Auflage, in: Gorer 1959, S. 9).
Literatur
Adorno, T. W. (1980). Minima Moralia (1951). In T. W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Adorno, T. W. (1996). Probleme der Moralphilosophie (1963). In T. W. Adorno, Nachgelassene Schriften Bd. IV. 10. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Camus, A. (1997). Der Mensch in der Revolte (1951). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
DdA : Horkheimer, M. & Adorno, T. W. (Hrsg.). (1987). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In M. Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 5 (S. 11–290). Frankfurt a. M.: Fischer.
Durkheim, E. (1967). Soziologie und Philosophie (1924). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Gorer, G. (1934). The revolutionary theories of the Marquis de Sade. Paris: Collection „Le ballet des muses“.
Gorer, G. (1959). Marquis de Sade. Schicksal und Gedanke. Wiesbaden: Limes.
Gross, R. (2010). Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. Frankfurt a. M.: Fischer.
Hegel, G. W. F. (1970). Phänomenologie des Geistes. In G. W. F. Hegel, Werke Bd. 3. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Heine, H. (1995). Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834). In H. Heine, Werke Bd. 3 (S. 169–319). Köln: Könemann.
Horkheimer, M. (1985). Die Aktualität Schopenhauers (1960). Gesammelte Schriften Bd. 7 (S. 122–142). Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1987a). Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930). GS Bd. 2 (S. 177–268). Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1987b). Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie (1927). GS Bd. 9. Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1987c). Dämmerung. Notizen in Deutschland (1934). GS Bd. 2. Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1988a). Materialismus und Moral (1933). GS Bd. 3 (S. 111–149). Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1988b). Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie (1935). GS Bd. 3 (S. 249–276). Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1988c). Autorität und Familie (1936). GS Bd. 3 (S. 336–417). Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1989). Die Aufklärung. Vorlesungsnachschrift von Hilmar Tillack (1959/60). GS Bd. 13 (S. 570–645). Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1991). Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1947). GS Bd. 6 (S. 19–186). Frankfurt a. M.: Fischer.
Horkheimer, M. (1996): Briefwechsel 1941–1948. GS Bd. 17. Frankfurt a. M.: Fischer.
Kant, I. (1996a). Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783). In I. Kant, Werke Bd. XI (S. 51–61). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kant, I. (1996b). Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). In I. Kant, Werke Bd. XI (S. 31–50). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kant, I. (1996c). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In I. Kant, Werkausgabe Bd. VII (S. 7–102). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kant, I. (1996d). Die Metaphysik der Sitten (1785/86). In I. Kant, Werkausgabe Bd. VIII. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kant, I. (1996e). Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787). In I. Kant, Werke Bd. III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Lind, G. R. (1969): Einleitung. In: de Sade (1969, s. dort) (S. 7–22).
Mendelssohn, M. (1785). Morgenstunde oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Berlin: Voß. Bayerische Staatsbibliothek. http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10043935_00041.html. Zugegriffen am 11.12.2016.
Mittelstraß, J. (1989). Kant und die Dialektik der Aufklärung. In J. Schmidt (Hrsg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart (S. 341–360). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Mittelstraß, J. (2002). Bildung und ethische Maße. In N. von Killius, J. Kluge & L. Reisch (Hrsg.), Die Zukunft der Bildung (S. 151–172). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Nietzsche, F. (1969). Aus dem Nachlass der Achtziger Jahre. In F. Nietzsche , Werke (Hrsg.), von K. Schlechta Bd. IV. München: Hanser.
Sade, D. A. F. Marquis de (1969). Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner bleiben wollt (1795). In D. A. F. Marquis de Sade, Schriften aus der Revolutionszeit (Hrsg.), von G. R. Lind, (S. 149–205). Frankfurt a. M.: Sammlung Insel.
Schmid Noerr, G. (1990). Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Schmid Noerr, G. (2001). Auf dem Weg zur Kritik der Konsumgesellschaft. Nietzsche und die Kritische Theorie. In G. Schweppenhäuser & J. A. Gleiter (Hrsg.), Nietzsches Labyrinthe. Perspektiven zur Ethik, Ästhetik und Kulturphilosophie (S. 78–87). Weimar: Bauhaus-Universität Weimar, Universitätsverlag.
Schweppenhäuser, G. (2001). Ein Wort für die Moral. Horkheimer und Adorno lesen Nietzsche. In G. Schweppenhäuser & J. A. Gleiter (Hrsg.), Nietzsches Labyrinthe. Perspektiven zur Ethik, Ästhetik und Kulturphilosophie (S. 88–99). Weimar: Bauhaus-Universität Weimar, Universitätsverlag.
Steinert, H. (2007). Das Verhängnis der Gesellschaft und das Glück der Erkenntnis: Dialektik der Aufklärung als Forschungsprogramm. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Weber, M. (1982). Wissenschaft als Beruf (1919). In J. von Winckelmann (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (S. 582–613). Tübingen: Mohr.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2017 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this entry
Cite this entry
Schmid Noerr, G. (2017). Wie die „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“ die Dialektik der Aufklärung erhellen. In: Bittlingmayer, U., Demirovic, A., Freytag, T. (eds) Handbuch Kritische Theorie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12707-7_5-1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-12707-7_5-1
Received:
Accepted:
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-12707-7
Online ISBN: 978-3-658-12707-7
eBook Packages: Springer Referenz Sozialwissenschaften und Recht