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Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie

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Handbuch Kritische Theorie

Part of the book series: Springer Reference Sozialwissenschaften ((SRS))

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Zusammenfassung

Die bürgerliche Theorie ist wesentlich affirmativ, sei die adaequatio rei et intellectus nur kontemplativ oder auch praktisch, als Veränderung der res gefaßt. Das Resultat des Erkenntnisprozesses ist die Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand. Die Erkenntnis ist positive Theorie positiver Gegenstände, und das Subjekt des Erkenntnisprozesses befindet sich in dessen Resultat in Übereinstimmung mit sich und mit den Gegenständen. Von daher erscheint die Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft unbegründet, denn diese setzt voraus, daß der autonom und vernünftig bestimmte Wille von den Gegenständen unabhängig sei, sich von ihnen unterscheide, was nur möglich ist, wenn diese Gegenstände heteronom sind. Heteronome Gegenstände unterstehen nicht der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Wenn diese als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung ist, so ist kein heteronomer Gegenstand denkbar. Die Möglichkeit der Kritik der Heteronomie, die erst durch die Preisgabe der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft, von Wissenschaft und Moral eröffnet wird, impliziert die Unmöglichkeit, den vernünftig bestimmten Willen affirmativ auf die Gegenstände der von ihm zu bestimmenden Handlungen zu beziehen. Die Entgegensetzung von Autonomie des vernünftig bestimmten Willens und Heteronomie der Gegenstände, auf die sich das vom Willen bestimmte Handeln richtet, ist aufgehoben in der affirmativen Theorie der Geschichte, in der Autonomie und Heteronomie als Momente des fortschreitenden historischen Prozesses erscheinen. Dieser Theorie zufolge ist die Tendenz des historischen Prozesses nicht durch die Vermittlung beider Momente bestimmt, sondern durch die fortschreitende Dominanz der Autonomie. So ist aus der Tendenz des historischen Prozesses der Widerspruch eliminiert, das moralische Bewußtsein kann sich affirmativ zwar nicht auf die nach wie vor heteronome Realität, wohl aber auf die Tendenz der historischen Entwicklung dieser Realität beziehen. Erkenntnisprozeß und historischer Prozeß stehen unter der Bedingung ihres Resultats, der sich durch sie herstellenden Identität, in der beide konvergieren. Diese vorauszusetzende Identität, die der bürgerlichen Theorie zufolge in der Tendenz des historischen Prozesses sich manifestiert, ist die Bedingung der Möglichkeit einer wenn auch nur mittelbar affirmativen Beziehung mit sich übereinstimmender Subjekte auf die Realität. Daß diese heteronom sei, gehört ebenso zu den Voraussetzungen des Geschichtsoptimismus wie die Affirmation der historischen Tendenz. Der Optimismus selbst ist erzwungen, denn er allein garantiert dem mit sich selbst übereinstimmenden subjektiven Selbstbewußtsein eine mittelbare Übereinstimmung mit der Realität, die begründet ist durch die Identifikation mit der Geschichte, einem objektiven Prozeß, als deren Subjekt die Bourgeoisie sich sah.

Der vorliegende Text ist eine Erstveröffentlichung aus dem Peter-Bulthaup-Archiv (www.peter-bulthaup-archiv.de). Die zu Grunde gelegten Materialien können in den Digitalen Sammlungen der digitalen Bibliothek der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek unter der Signatur „Noviss. 455, MAP-009“ online aufgerufen werden. Das Konvolut enthält fünf Stücke: UNT-010 ist ein Entwurf der Schlusspassagen der Abschn. 2 und 5. UNT-011 ist das Manuskript erster Fassung, in dem der Abschn. 5 noch fehlt bzw. nur in wenigen bruchstückartigen Entwürfen vorliegt. Vor allem die Passage zum Stalinismus fehlt ganz. UNT-012 ist das Reinschriftmanuskript. Hier sind in den Abschn. 4 und 5 größere Abweichungen, in den vorderen Abschnitten vor allem Umstellungen und Auflösungen längerer Sätze zu verzeichnen. Auf der Reinschrift beruhen UNT-013 und UNT-014, identische Typoskripte mit wenigen formalen Korrekturen. Die vorliegende Fassung folgt dem Typoskript mit wenigen formalen Korrekturen auf der Grundlage der früheren Fassungen. Inhaltlich signifikante Varianten der Manuskripte werden in Fußnoten angegeben, da UNT-013 und UNT-014 zwar als Fassungen letzter Hand zu betrachten sind, aber keine publizierte Fassung existiert. Die Fußnoten sind sämtlich Herausgeberanmerkungen. Die angegebenen Varianten sind nicht auf philologische Vollständigkeit angelegt, sondern sollen lediglich Hilfsmittel sein, philosophische Hintergründe zu erkennen, die in der extrem komprimierten Darstellung des Typoskripts implizit geworden sind. Zudem stammt das Typoskript nicht von Bulthaup selbst, wurde lediglich durchgesehen, wobei offensichtlich Fehler unbemerkt blieben. – Eine Datierung war bislang nicht möglich, die Entstehungszeit liegt vermutlich zwischen 1975 und 1985. Editorische Bearbeitung: Michael Städtler

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Notes

  1. 1.

    Das Argument bezieht sich auf Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 197. Bulthaup betonte stets, dass dort hinsichtlich der „Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände“ der bestimmte Artikel fehlt: „die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung“. Hier wird die Konsequenz des Ignorierens dieses Unterschieds hervorgehoben.

  2. 2.

    Die Anfangspassage dieses Abschnitts lautet in UNT-011: „Die radikale Kritik hat eine falsche Voraussetzung, die als falsche in ihr aufgehoben ist: den Anspruch auf Autonomie. Dieser Anspruch war auf die Objektivität bezogen durch die Identifikation mit der historischen Tendenz, die selbst die Realisierung des Anspruchs dementierte. [am Rande: „er wurde von dieser selbst dementiert“] Diese Einsicht macht den Anspruch auf Autonomie zu einem zeitlos vergangenen Sein, einem Wesen, das kein Dasein hat, oder, die radikale Kritik ist begründet durch die Negation der Affirmation der Heteronomie, die die ideologische Affirmation der historischen Tendenz voraussetzt und als falsch erkennt.“

  3. 3.

    Die Passage „Seine Unabhängigkeit … geworden.“ lautet in UNT-011: „Die Unabhängigkeit von den heteronomen Bedingungen der Existenz der Subjekte unterstellt diesen, sie partizipierten an der Freiheit des absoluten Geistes der Wissenschaft, und schlägt sie mit dem selbstgerechten Wahn, sie hätten durch die Negation eines Negativen, des falschen Bewußtseins, die Selbstaffirmation des richtigen Bewußtseins gewonnen.“

  4. 4.

    Die Passage „Seinem eigenen Anspruch nach … zu Bewußtsein kommt.“ lautet in UNT-011: „Doch die radikale Kritik ist wesentlich materialistische Reflexion, nicht Negation eines Negativen sondern Negation der Affirmation der Heteronomie, die zugleich als materielle Voraussetzung der Kritik selbst erkannt ist. Ihre Autonomie ist nicht die des absoluten Geistes der Wissenschaft, sondern selbst Moment in [gestrichen: der] Beziehung [gestrichen: der] Wissenschaft auf den bestimmten Gegenstand und damit negative Beziehung auf die Negativität des Gegenstandes, die, weil sie als Wissenschaft die objektive Einheit des Selbstbewußtseins voraussetzt, nicht nur Erkenntnis sondern Kritik der Negativität des Gegenstandes ist, in der dessen Negativität zu Bewußtsein kommt und zum Moment seiner Selbstbehauptung wird. [Gestrichen: Als Moment des Klassenkampfes ist die autonome Kritik Agitation zur Selbstbefreiung des Proletariats.]“

  5. 5.

    Der Text folgt hier UNT-012. In den Typoskripten heißt es, vermutlich irrtümlich transkribiert: „Wesens ohne Daseins“.

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Bulthaup, P. (2017). Thesen zur gegenwärtigen Situation der kritischen Theorie. In: Bittlingmayer, U., Demirovic, A., Freytag, T. (eds) Handbuch Kritische Theorie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12707-7_10-1

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