Zusammenfassung
Boris Zizek verfolgt die These des Menschen als Bewährungssucher in phylo- und ontogenetischer Perspektive mit dem Ziel einer systematischen Grundlegung einer sozialisationstheoretischen Perspektive auf menschliche Motivation weiter. Zu diesem Zweck werden zunächst etymologisch und aktuell die Bedeutungsaspekte des Begriffs Bewährung expliziert. Wann wird im wissenschaftlichen Kontext von Bewährung gesprochen?
In ontogenetischer Perspektive wird auf einen universalen Bewährungsdrang hingewiesen. Auf der Grundlage der kulturhistorischen Bewährungsformation des missionarischen Subjekts, die in der Figur des Robinson Crusoe exemplarisch gestaltet ist, wird die Bewährungsperspektive mit benachbarten klassischen Subjektkonzepten der Psychoanalyse, der Wirtschafts- und der Sozialwissenschaften kontrastiert, um ihre Spezifizität weiter zu konturieren.
Auf der Grundlage dieser theoretischen Differenzierung werden aktuelle Verwendungen des Begriffs der Bewährung in sozialisations- und professionalisierungstheoretischen Kontexten einer integrierenden Betrachtung unterzogen. Schließlich wird im Sinne eines Fazits Bewährung als sozialwissenschaftlicher Grundbegriff skizziert, indem aufgezeigt wird, welches Phänomen mit diesem Begriff bisher mehr implizit anvisiert wurde.
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Notes
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In dieser, wie noch zu zeigen sein wird, protestantischen Modifikation, an die auch Max Weber und Ulrich Oevermann anknüpfen, wird der Begriff später von Karl Popper in die Wissenschaftstheorie eingeführt werden.
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Siehe auch das instruktive Video http://www.youtube.com/watch?v=anCaGBsBOxM.
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Dass diese abenteuerliche, weil risikobereite Form des Umgangs mit offener Zukunft und Ungewissheit innerhalb bestimmter Kreise bereits im 15. Jahrhundert zu einer identitätsrelevanten Figur der Bewährung geworden war, lässt sich an den englischen Fernhändlern erfassen, „[…] die sich seit 1443/44 selbst als ‚merchant (ad)venturers‘ bezeichneten“ (Bonß 1995, S. 124). Das Kriterium der Zulassung als Mitglied zur Gilde war nämlich, seinen Lebensunterhalt ausschließlich mit abenteuerlichen Unternehmungen zu bestreiten. „Die Suche nach Unsicherheiten stand für sie somit nicht mehr als ein notwendiges Übel am Rande, sondern wurde (selbst)bewusst ins Zentrum ihrer Existenz gerückt – eine Akzentverschiebung, die nicht nur für den englischen Seehandel bahnbrechend war“ (ebd., S. 125).
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Dieser Abenteuerdrang scheint seine Wurzel in der kindlichen Neugierde zu haben, so dass die Differenzen in den sich bildenden Bewährungsfiguren vom spezifischen kulturellen, sozialisatorischen Umgang mit dieser herrühren.
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Das Subjekt wird in dieser Verinselungsbewegung durch Calvins Lehre von der Gnadenwahl bestärkt. „Sie erzeugt bei denen, die an sie glauben, ‚ein Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums‘ und löst es auf diese Weise ‚aus den engsten Banden, mit denen es die Welt umfangen hält‘ (ebd., S. 62). Sie stellt ‚jede rein gefühlsmäßige – also nicht rational bedingte – persönliche Beziehung von Mensch zu Mensch‘ unter den Verdacht, ‚Kreaturvergötterung‘ zu sein (ebd., S. 65) und damit den Gläubigen von Gott zu entfernen. Das unmittelbare Vertrauensverhältnis gegenüber dem Nächsten wird dadurch zerstört“ (Breuer 2006, S. 36).
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Exemplarisch ist hier etwa René Descartes` (1596–1650) Deutung des Konzepts der Stimme, die er dem Tier abspricht. Dies war ein historisches Novum, wie Bernhard Waldenfels darstellt (Waldenfeld 2006, S. 192). Fasst man die Stimme als Begriff unterschiedlicher Stellungnahmen, dann werden leibliche, nicht-reflexive Äußerungen von Descartes herabgesetzt. Descartes vollzieht exemplarisch eine wirkmächtige Akzentuierung der Reflexivität gegenüber der Leiblichkeit des Menschen und damit dem, was wir heute umgangssprachlich auch mit der Phrase „aus dem Bauch entscheiden“ thematisieren. Der Mensch erscheint hier als ein immer schon von der Welt abgegrenztes, konstituiertes Subjekt, das seinen Leib souverän beherrscht.
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Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten stellt sich natürlich die Frage, ob oder wieweit solche künstlich erzeugten Bewährungsmöglichkeiten den für Bewährung zentralen Echtheitscharakter der zu lösenden Probleme substituieren können.
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Zizek, B. (2014). Der Mensch als Bewährungssucher – Versuch einer systematischen Einführung des Begriffs der Bewährung in die Sozialwissenschaft. In: Garz, D., Zizek, B. (eds) Wie wir zu dem werden, was wir sind. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03539-6_3
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