Zusammenfassung
Über Jahrtausende hinweg hegte die ständig vom Hunger getriebene Menschheit ihren Wunsch nach täglich Brot. Satt zu sein und sich ausreichend ernähren zu können, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit der menschlichen Existenz. Zu seinem Leidwesen kann der Mensch aus biologischen Gründen nicht alles essen. Und an dem, was für ihn genießbar wäre, hat es im Laufe der entbehrungsreichen Geschichte seiner Existenz allzu häufig gefehlt. Doch seit einigen Jahrzehnten scheint der uralte Wunschtraum von einem „Schlaraffenland“ – einem Land und Lebenszustand der kulinarischen Üppigkeit und glücklichen Schlemmerei – für einige von uns in Erfüllung zu gehen. Vermutlich für einen kurzen Moment in der Menschheitsgeschichte leben wir nicht von Brot allein: Für die Menschen in den reichen westlichen Überflussgesellschaften darf es gerne täglich Fleisch sein.
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Notes
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Die Rede vom täglichen Brot hat hier eine metaphorische Bedeutung. Tatsächlich bildete Brot in der Ernährungsgeschichte nicht seit jeher ein breit verfügbares Grundnahrungsmittel, diese Rolle kam bis zum Spätmittelalter vor allem Breispeisen zu (Hirschfelder 2005, S. 128 f.).
- 2.
Die Gastrosophie befasst sich mit der Erforschung der Zusammenhänge von Ernährung und Gesellschaft auf interdisziplinärer Ebene. Erste philosophische Beschäftigungen mit der Esskultur reichen bis zu den Hochkulturen der Ägypter und Griechen zurück, dennoch entsteht die moderne Gastrosophie erst wesentlich später. Der Begriff „Gastrosophie“ geht im deutschsprachigen Raum auf Eugen von Vaerst zurück (1852). Ziel des hier vertretenen philosophischen Gastrosophie-Konzeptes ist es, eine grundlegende Programmatik für eine ethische Ausrichtung der Ernährungsverhältnisse zu entwickeln. Die Theorie der Gastrosophie, einschließlich der Idee einer transdisziplinären Ernährungsforschung und der Gastrowissenschaften als eines neuartigen Forschungsfeldes, reagiert auf die zahlreichen ökologischen, politischen, sozialen, alltagskulturellen und gesundheitlichen Problematiken, die globale Ernährungsungerechtigkeiten verursachen, und erarbeitet Lösungswege eines für alle besseren Essens. Siehe hierzu ausführlich Lemke 2007, 2008, 2012.
- 3.
Siehe hierzu den Fleischatlas 2013, der die weitreichenden ökologischen, klimatischen wie sozialen Folgen des Fleischverzehrs in ihren Dimensionen deutlich macht (Heinrich-Böll-Stiftung et al. 2013).
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- 5.
- 6.
Wenn im Folgenden von einem „Wir“ die Rede ist, dann sind damit diejenigen Esser bzw. Konsumenten in den materiell wohlhabenden Industrienationen in Ost und West gemeint, die zum überwiegenden Teil für die derzeit enorme Fleischproduktion verantwortlich sind. Freilich wird dieses Wir jeden Tag etwas zahlreicher, weil auch der Fleischkonsum unter der Bevölkerung der sogenannten Schwellenländer in Asien und Südamerika ansteigt.
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Dass das Dasein eines „glücklichen“ Nutztieres, welches Menschen ein „tierisch gutes“ Leben leben lassen, nicht das einzige oder gar das wünschenswerteste Glück dieses Tieres ist, steht außer Zweifel. Doch das Leben eines Wildschweines wie jedes anderen wild lebenden (aber vom Menschen potenziell genießbaren) Tieres kann wegen Krankheiten, Feinden, schlechten Lebensbedingungen etc. vergleichsweise unglücklich verlaufen. Deshalb steckt in der Annahme, dass das vom Menschen genutzte Schwein Glück hat, kein Sarkasmus: Ein auf sich selbst gestelltes Schwein kann keineswegs damit rechnen, so viel „Schwein zu haben“, ein relativ gutes Leben zu haben. Es kann sich gegebenenfalls „glücklich fühlen“, durch die Methoden der menschlichen Tierhaltung gut behandelt (gefüttert, gepflegt, beschützt, geliebt etc.) zu werden. Das Gleiche gilt für Pflanzen und ihr mögliches Glück als Wesen, die zu einem wohlgedeihlichen ebenso wie zu einem dahinwelkenden Leben fähig sind. Auch sie können nach Ansicht der hier vertretenen Philosophie von Menschen je nach dem, welche landwirtschaftlichen Methoden zum Einsatz kommen, „gut“ oder „schlecht“ behandelt werden.
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Lemke, H. (2015). Darf es Fleisch sein?. In: Hirschfelder, G., Ploeger, A., Rückert-John, J., Schönberger, G. (eds) Was der Mensch essen darf. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01465-0_4
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