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Das Primitive aus der Sicht des Primitiven

Gefahren und Sicherheiten der Großstädte in Reiseberichten von Handwerksgesellen

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Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹
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Zusammenfassung

Handwerker gelten gemeinhin als unmodern. In politischen Debatten des 19. Jahrhunderts fungieren sie als Antithese zu Liberalität und kapitalistischer Wirtschaftsordnung, die mit Freiheit, Konkurrenz und Individualismus assoziiert wird.2 Demgegenüber erscheint das Handwerk als Verfechter zünftisch-genossenschaftlicher Ideen, dem Prinzip der „Nahrung“ verhaftet, Wettbewerbs-, fortschritts- und innovationsfeindlich, geradezu verknöchert. Traditionalität und Kollektivismus scheinen geradezu der Persönlichkeitsstruktur der Handwerker eingeschrieben.3 Nicht bloß die gewerblichen Organisationen, sondern auch die Personen verkörpern, so betrachtet, die zählebige Präsenz einer Vor-Geschichte, des Untergehenden, noch nicht Untergegangenen, ja einer niedrigeren Entwicklungsstufe der Gesellschaft „Artisans“, so Geoffrey Crossick, „were rather like villages. In the modern European imagination they came to represent a world in which harmony and community ruled, in contrast with the inadequacies of urban industrial society.“4 Diese gleichermaßen ökonomische, soziale, persönliche und entwicklungsgeschichtliche Nicht-Fortgeschrittenheit konnte allerdings als sehr unterschiedlich, als Intakt-Ursprüngliches, Überkommen-Entartetes oder auch als primitives Relikt bewertet werden.

Kaum saß ich am Tische, als einige Fremde sich heranmachten und mich ausfragten, wo ich herkäme, was ich für ein Geschäft hätte u.s.w. Als sie sich überzeugt hatten, daß ich zu ihnen passe, setzten sie ihr vorheriges wüstes Treiben fort Alsbald erscholl das Lumpenlied von dem ich zwei Verse hierhersetze:

Mein Hut sieht karambolisch aus,

Die Haare schauen zum Dach heraus:

O ich Lump, o ich Lump, o ich lüderlicher Lump.1

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Notizen

  1. Otto Fleischmann, Deutsches Vagabunden- und Verbrechertum im neunzehnten Jahrhundert, Barmen o.J. (1887), S.79. Ich danke Alexander Mejstrik, Klaus Müller-Richter und Kristin Kopp für die kritische Lektüre meines Textes, für Anregungen und Hinweise.

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  3. Beispielsweise Wilhelm Stieda, Zunftwesen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. v. J. Conrad u.a., Bd.8, Jena 1911, S.1088–1111 (1098f.); Georg Schanz, Zur Geschichte der deutschen Gesellen-Verbände, Leipzig 1877, S.76; vgl. zur Vorstellung von Menschen ohne Individualität Klaus Bergmann, Lebensgeschichte als Appell. Autobiographische Schriften der „kleinen Leute“ und Außen-Personen seiter, Opladen 1991, S.54ff.

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  5. Vgl. Sigrid Wadauer, „Wilde der Civilisation“. Zur Frage klassenrassistischer Deutungsmuster in Diskursen über das „Proletariat“, Wien Dipl. 1994.

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  6. Heinrich Wilhelm Bensen, Die Proletarier, Stuttgart 1847, S.9–12; vgl. auch Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte vom Jahre 1844, Leipzig 1988, S.135.

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  8. Ebenda.

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  10. Friedrich Albert Lange, Die Arbeiterfrage. Ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft, 4. Aufl., Winterthur 1879, S.58f. In der ersten Auflage (Duisburg 1865) fehlt diese Formulierung (vgl. S.72), wenngleich die Aussagen in eine ähnliche Richtung gehen. Im Vorwort zur dritten Auflage begründet Lange seine Revisionen mit der „totale[n] Nichtbeachtung der ersten Auflage in den Kreisen der Arbeitervereine“. Sie bewog ihn, sich mehr „an den wirklichen Leserkreis zu wenden, den das Büchlein gefunden hatte.“ 4. Aufl., S. V–VII, hier VI.

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  11. Friedrich von Hellwald, Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung, Augsburg 1875, S.784f.

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  13. Ein frühes Beispiel entsprechender rassenhygienischer Überlegungen: C.A. Weinhold, Von der Uebervölkerung in Mittel-Europa und deren Folgen auf die Staaten und ihre Cililisation, Halle 1827, 45ff.

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  17. Vgl. Heinrich Heine, Die Wanderratten, in: Ders., Werke, Berlin / Darmstadt 1957, S.501–504.

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  19. Vgl. Ute Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Wiesbaden 1998.

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  21. „Many if not most primitive peoples are migratory”, heißt es etwa bei Charles B. Davenport, The Feebly Inhibited. Nomadism, or the Wandering Impulse, with special Reference to Heredity. Inheritance of Temperament, Washington D.C. 1915 (=Carnegie Institution of Washington, Publication No.236), S.9.

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  25. Etwa Dirk Hoerder / Leslie Page Moch (Hrsg.), European Migrants. Global and Local Perspectives, Boston 1996; Jan Lucassen / Leo Lucassen (Hrsg.), Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, Bem / Berlin / Frankfurt a.M. / New York / Paris / Wien 1997.

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  28. Eine ausführlichere und auch graphische Darstellung der Struktur des Raums der Gesellenmobilität findet sich in: Sigrid Wadauer, Die Tour des Autobiographen. Der Raum der Gesellenmobilität im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. / New York (erscheint 2004); dies., Ankommen. Mobilität und Schreiben von Handwerksgesellen im systematischen Vergleich, in: Tourismus Journal 3 (2001), S.375–401.

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  30. Ernst, Leben, S.167.

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  37. Vgl. etwa Rudolph Fröhlich, Die gefährlichen Klassen Wiens. Darstellung ihres Entstehens, ihrer Verbindungen, ihrer Taktik, ihrer Sitten und Gewohnheiten und ihrer Sprache. Mit belehrenden Winken über Gaunerkniffe und einem Wörterbuche der Gaunersprache, Wien 1851.

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  38. Das Geschenk manifestiert die verbindliche soziale, materielle und symbolische Kollektivierung im Alten Handwerk. Um es zu erhalten, muss der Wanderer bei den Handwerkern im Ort vorsprechen und sich als zünftiger Geselle erkennen zu geben. Es edaubt und verlangt, das Herumkommen mit Ausbildung, Absicherung und Arbeitsuche zu bündeln. Genau diese soziale Magie — die aus dem Herumgehen ein Wandern, aus dem Wandern eine Wanderschaft macht und die dem Mobil-Sein eine Berechtigung sowie ein Ansehen verleiht — wird offiziell durch den Vorwurf der Bettelei immerzu in Frage gestellt Der Unterschied zu jenen, die ohne Mittel und ohne Zweck unterwegs sind, steht dabei drastisch auf dem Spiel. Die Wanderschaft manifestiert sich auch durch den disziplinären Zugriff obrigkeitlicher und zünftischer Instanzen. Ausführlicher in Wadauer, Tour, S.82–149. Vgl. auch Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1999; zur Logik der Ehrökonomie vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1976, v.a. Kapitel 2: Die Illusion der Regel; vgl. auch Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002.

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  39. Ernst, Leben, S.173.

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  45. Weiß / Zimmermann, Walz, S.72.

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  46. Weiß / Zimmermann, Walz, S.71.

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  47. Weiß / Zimmermann, Walz, S.74.

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  49. Vgl. etwa Johann Friedrich Rupprecht, Ludwig Roberts Wanderungen als Handwerksbursch im nördlichen Teutschlande. Zur angenehmen und lehrreichen Unterhaltung für den Teutschen Handwetksstand in den Stunden der Erholung. Mit mancherlei Vorschlägen, Entwürfen, Vorbereitungen und Winken zu verschiedenen nöthigen Reformen im Handwerks und Zunftwesen, Halle 1805. 216–218.

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  50. Weiß / Zimmermann, Walz, S.76.

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  51. Vgl. allgemein Pierre Bourdieu, Sagten Sie „populär“?, in: Gunter Gebauer / Christoph Wulf (Hrsg.), Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt a.M. 1993, S.72–92.

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  53. Vgl. Familienchronik von Augustin Pilz, Gerichtsschreiber unter dem Namen „Pilzschreiber“ bekannt, der Vater von dem rühmlichst bekannten Porzellanmaler Robert Pilz in Wien, 1869, ANTM-Prag — No 351, Typoskript, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien.

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  54. Vgl. Kurze Lebens=Beschreibung des bayerischen Bürgers, Anton Stark, Färbers zu Mühldorf im Isar=Kreise (Ein biographischer Beytrag zur neuern Zeitgeschichte), Paßau 1826.

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  55. Pilz, Familienchronik, S.14.

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  56. Vgl. etwa Gekrönte Preisschrift. Beantwortung der von der Königl. Societät der Wissenschaften in Göttingen aufgegebenen Frage: Wie können die Vortheile, wdche durch das Wandern der Handwerksgesellen möglich sind, befördert und die dabey vorkommenden Nachtheile verhütet werden? Von Magister Mohl, Archidiaconus zu Dünkelsbühl in Schwaben, in: Kurze Darstellung einiger Handwerks=Mißbräuche, und Vorschläge, wie solche zu verbessern seyn könnten. Von einem Unstudierten. Nebst einer gekrönten Preisschrift über das Wandern der Handwerksgesellen, Halle 1800, S.67–147, 78f.

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  57. Familienchronik, S.15.

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  58. Hirnschrodt, Erinnerungen, S.82–101.

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Wadauer, S. (2004). Das Primitive aus der Sicht des Primitiven. In: Kopp, K., Müller-Richter, K. (eds) Die ›Großstadt‹ und das ›Primitive‹. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02937-9_8

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