Zusammenfassung
Augustinus’ eher zögerndes Zugeständnis, daß ein Christ zu passivem Ungehorsam verpflichtet sei, wenn ein Herrscher befiehlt, was Gott verbietet, entwickelte sich zu einer Kernthese des Konstitutionalismus im Mittelalter. Im Grunde war der große Bischof wie jeder gute Römer der Überzeugung, daß Römer 13 recht habe: »Seid untenan der Obrigkeit.«1 »Denn es ist keine Gewalt als von Gott«, woraus folgt, daß ein Mensch, der der herrschenden Macht widersteht, dem was Gott »geboten« hat, widersteht.2 Bei Augustinus hat die Kirche noch keine politische Funktion. Im Mittelalter dagegen war die Lehre vom aktiven Widerstand Herrschern gegenüber, die die ihnen anvertraute Macht mißbrauchten, weithin anerkannt. Viele Schriftsteller, besonders auf kirchlicher Seite, entwickelten in Sicht auf die zahlreichen Kämpfe zwischen den weltlichen Herrschern und den kirchlichen Autoritäten die Lehre vom Widerstand und alle ihre z. T. verwickelten Folgerungen. Die Kirche machte man zum letzten Richter darüber, wann und inwieweit ein Herrscher das Recht verletzt hatte und man ihm daher Widerstand leisten durfte.
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Literatur
Die Übersetzung des Originaltextes ins Lateinische und in die verschiede-nen Landessprachen hat eine Vielzahl von interpretierenden Arbeiten hervorgebracht, die mit der langen Geschichte des westlichen Denkens über politische Verpflichtungen verknüpft sind. Eine gute neuere Studie über das Widerstandsrecht in mittelalterlicher Sicht ist das Buch von John D. Lewis und Oscar Jaszi, Against the Tyrant: The Tradition and Theory of Tyrannicide (1957). Die entscheidendste von den früheren Schriften darüber ist das Buch von Kurt Wolzendorf, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes (1916).
Greta Scharffenorth, »Römer 13 im Politischen Denken« (Dissertation, Heidelberg, 1963) hat die politischen Folgen von Römer 13, insbesondere im Denken der Reformatoren, sorgfältig untersucht.
lich, eine Frage des Glaubens an das Gebot Gottes, auf dem Paulus seine Forderung nach Gehorsam begründet hatte. So schrieb Thomas von Aquin: »Sobald ein Herrscher exkommuniziert worden ist, weil er
Vgl. im folgenden inter alia Etienne Gilson, Le Thomisme — Introductionau Système de Saint Thomas d’Aquin (1927); Thomas Gilby, The Political Thought of Thomas Aquinas (1958); O. Schilling, Die Sozial- und Staatslehre des hl. Thomas von Aquin (1930) (2. Auflage); Harry V. Jaffa, Thomism and Aristotelianism — A study of the Commentary by Thomas Aquinas on the Nichomachean Ethics (1952).
Summa Theologiae (im folgenden ST genannt) II. 1. 95.4, d. h. Buch II, Teil 1, Untersuchung 95, Artikel 4. Ich habe die Madrider Ausgabe der Biblioteca de Autores Cristianos (1952) benutzt. Vgl. auch II. 11. 42.2. Hier wird der tyrannus der magis seditiosus genannt; er ist nicht gerecht und daher der Umsturz eines solchen Regimes non habet rationem seditionis.
Siehe insbesondere De Regimine Principium, Buch 1, Kap. 1–3: »So wie die Regierung eines Königs die beste ist, so ist die Regierung eines Tyrannen die schlechteste.« »Rex est qui unius multidudlnem civitatis vel provinciae et propter bonum com?nune, regit.«
Jacques Zeiller, L’Ideé de l’Etat dans Saint Thomas d’ Aquin (1910), S. 9.
Der Beweis wird geführt in M. Grabmann, Die Werke des hl. Thomas von Aquin (1931); vgl. auch P. Mandonnet, Des Ecrits Authentiques de Saint Thomas d’Aquin (2. Auflage 1910).
De Regime, Buch IV, Kap. VII., man beachte auch: »tale (die römische Republik) regimen politiam appellant, a polis qui est pluralitas, sive civi-tas, quia hoc regimen proprie ad civitates pertinet, ut in partibus Italiae maxime videmus, et olim viguit apud Athenas...,« IV. 1. Die folgenden Zitate ebenfalls dort.
Buch IV, Kap. II: »ideo de ipsius constitutione nunc est agendum...« De Regimine behandelt dann ausführlich, wie und warum eine Verfassungsordnung eingerichtet wird.
Sir John Fortescue, The Governance of England, Hrsg. Plummer (1885; überarbeitete Auflage 1926), Kap. II; Fortescues Kategorie war die eines regimen (auch jus oder dominium genannt) politicum et regale. Vgl. auch De Laudibus Legum Angliae, Kap. 9 ff.
Ich neige zur Ansicht Mandonnets, daß Ptolemäus nach Aufzeichnungen des Thomas von Aquin oder nach einem Entwurf des letzteren gearbeitet hat; siehe Mandonnet-Destrez, Bibliographie Thomiste (1921), S. XX. Aber seine Meinung ist nicht entscheidend für die Argumentation im Text.
Siehe ST II. 1. 95.4.
Der Begriff »illegales Gesetz« wird weiter unten erläutert, Text und Zitate vgl. ST II. 1, 90.2.
De Regimine, Buch II, Kap. XI.
Vgl. C. J. Friedrich, Die Rechtsphilosophie in historischer Perspektive (1963), Kap. VI.
Betont wird dieser Standpunkt in Charles Howard Mcllwains klassischer Studie The High Court of Parliament and Its Supremacy (1910), obgleich vielleicht ein wenig übertrieben.
II. 1. 90.4. Die Abhandlung über jus findet sich in II. 11. 57. 1–4. Es ist nicht erlaubt, wie es manchmal geschieht, jus mit justitia gleichzusetzen, denn im ersten Artikel erwägt Thomas, ob jus das Ziel von justitia sein kann, und antwortet bejahend. Die angeführte Übersetzung weicht von der der Dominikaner, die gewöhnlich zitiert wird, ab, weil diese eine Glosse zum Text enthält.
Der Beweis ist ausführlicher in dem oben (Fu. 11) zitierten Werk enthalten, vgl. auch die Ausführungen darüber in Heinrich Rommen, The State in Catholic Thought (1945), Kap. VIII.
»Nullus potest cognoscere secundum quod est in seipsa«, II. 1. 93. 2. Indessen, »omnis creatura rationalis ipsam cognoscit secundum aliquam ejus irradiationem«, ibid.
»... quaedam praecepta communissima, quae sunt omnibus nota... secundaria praecepta… quae sunt quasi conclusiones...«, II. 1. 94. 6.
In Decern Libros Etbicorum Aristotelis ad Nichomachum Expositio. Ich habe die gute Ausgabe von Raymundi M. Spazzi verwendet, die 1949 veröffentlicht worden ist. Vgl. auch die eingehende Studie über die Beziehung zwischen dem Denken des Thomas von Aquin und dem des Aristoteles von Harry V. Jaffa, Tbomism and Aristotelianism: A Study on the Commentary by Thomas Aquinas on the Nichomachean Ethics (1952). Die Frage der Gerechtigkeit wird von diesem Autor nicht besonders betont, der hervorhebt, daß Thomas von Aquin »Aristoteles nicht-aristotelische Prinzipien zuschreibt, obgleich er sie behandelt, als ob sie von Aristoteles stammten« (S. 187).
Der griechische Ausdruck diorthotikon wird von Thomas von Aquin und vielen anderen Übersetzern unrichtig als commutativ, gegenseitig, auf Austausch beruhend wiedergegeben; er bedeutet eher verbessernd, und so verstanden bezieht er sich sicherlich auf Gott, wenn er straft. Aber da Thomas von Aquin den Begriff vor allem auf die Gerechtigkeit beim Kaufen und Verkaufen und anderen ähnlichen Kommunikationen anwendet, sieht er sich genötigt, dieses gegenseitige Geben und Nehmen in bezug auf Gott zu verneinen. Da wir uns im Text mit Thomas von Aquins Einstellung beschäftigen, verwenden wird gegenseitig im Text.
»Justitia igitur Dei, quae constituit ordinem in rebus conformam ratione sapientice suae, quae est lex ejus, convenienter Veritas nominatur« (1.1.21.2).
»Opus autem divinae justitiae semper praesupponit opus misericordiae et in eo fundatur« (I. 1. 21. 4.)
»… justitia est habitus secundum quern aliquis constanti et perpetua vo-luntate jus suum cuique contribuit« (II. 11. 58. 1.). Das vorhergehende Zitat findet sich in II. 11. 58, 2.
Wir zitieren die entscheidenden Sätze: »Materia justitiae est operatio exterior secundum quod ipsa, vel res, qua per earn utimur, proportionatur alteri personae, ad quern per justitiam ordinamur. Hoc autem dicitur esse suum unius cuiusque personae quod ei secundum proportionis aequalitatem debetur« (II. 11.58. 11)
11.11.58.12. Thomas von Aquin zitiert dann Aristoteles’ Rhetorik, aber Aristoteles erwähnt nur, daß der Gerechte und der Mutige tatsächlich geehrt werden, weil sie für die anderen nützlich sind. Im ganzen vorhergehenden Argument folgt er mehr oder weniger den Worten des Aristoteles, wie sie Moerbekes Übersetzung stehen, obgleich er sie mit christlichem Gedankengut erfüllt.
Die wichtige Unterscheidung zwischen den beiden Arten von Moral und den Folgerungen daraus enthält Herbert Spiegelberg, Gesetz und Sittengesetz (1935). Die Bedeutung von Thomas von Aquin wird nicht angemessen gewürdigt, weil sich der Autor mit dem Ausdruck »lex moralis« beschäftigt; der Ausdruck legalis justitia ist aber ähnlich aufschlußreich.
Der Ausdruck lex divina kommt bei Thomas von Aquin vor, z. B. in II. 1.94. 5. und 100. 9. Er wird ausführlich unter der Überschrift lex vetus (II. 1. 98–105) und lex nova (II. 1. 106–108) behandelt.
II. 1. 94. 2. Dieser Artikel behandelt audi die ersten drei Gesetze.
II. 1.94.3: »cum anima rationalis sit propria, forma hominis, naturalis inclinatio inest cuilibet homini ad hoc quod agat secundum rationem.«
II. 1. 94. 5–6. »Quantum ergo ad illa principia communia, lex naturalis nullo modo potest a cordibus hominum deleri in universalis Eine moderne amerikanische Fassung findet sich in dem Kapitel über »Panhumanism« in meinem Buch Demokratie als Herrschafts- und Lebensform, 1959, Kap. XI.
II. 1. 105.1. Der Schlüsselsatz lautet: »Talis enim est optima politia, bene commixta ex regno, inquantum unus praeest; et aristocratia, inquantum multa principantur secundum virtutem; et ex democratia, idest potestate populi, inquantum ex popularibus possunt eligi principes, et ad populum pertinet electio principium. Dann folgt nach den Zitaten Deut. 1:15, Exodus 18:21 und Deut. 1:13: «Unde patet quod optima fuit ordinatio prin-cipum quam lex instituit.«
Thomas Gilby, The Political Thought of Thomas Aquinas (1958) S. 289 bis 291.
Vgl. Ernest Barker, The Dominican Order and Convocation (1913) S. 27 f.
M. D. Knowles, The Religious Orders in England (1948) Kap. XIII.
De Regimine Principum, Buch III, Kap. IV–VI. Man beachte besonders die folgenden Sätze: »Amplius autem amor patriae in radice caritatis fun-datur, quae communia propriis, non propria communibus anteponit…virtus autem caritatis in merito antecedit omnem virtutem... ergo amor patriae super caeteras virtutes gradum meretur honoris...« Er zitiert dann Cicero De Officiis in gleicher Absicht und weist nach einem Zitat aus Sallust auf den Hl. Lukas und die Sätze im Deuteronomium, die die Liebe zum Nächsten und zu Gott fordern; schließlich setzt er diese römische politische Ordnung mit der der Makkabäer in Parallele.
Marsilius von Padua, Defensor Pads, Hrsg. Scholz, Buch I, Kap. XI; im folgenden Kapitel steht die berühmte Erklärung »legislatorem seu causam legis effectuant primam et propriam esse populum seu civium universita-tem aut ejus valenciorem partem...« (§ 3). Kürzlich hat Ewart Lewis in einer gründlichen Studie »The »Positivism« of Marsiglio of Padua«, Speculum XXXVIII (1963), 541–588, nachzuweisen unternommen, daß Marsilius’ Rechtslehre nicht so revolutionär und den herrschenden mittelalterlichen Ansichten entgegengesetzt war wie Gewirth, La Garde und Entrèves behauptet haben. Vgl. Alan Gewirth, Marsilius of Padua — The Defender of Peace (1951); Georges de LaGarde, La Naissance de l’esprit laique au déclin du moyen age, Bd. III, »Marsile de Padoue« (1934); A. P. d’Entrè-ves, The Medieval Contribution to Political Thought (1939), S. 61 ff. Lewis übertreibt ein wenig die Bedeutung ihrer Akzentverschiebung; ihre Ansichten über Thomas von Aquin berücksichtigen seinen Konstitutionalismus nicht.
Gewirth, a. a. O., S. 23 ff. enthält den institutionellen Rahmen für Marsilius’ unentschiedene Haltung in diesem Punkt.
Ewart Lewis’ Behauptung, daß der Wille ein wichtiger Teil der Rechtsbegriffe seit dem Corpus Juris und für einen großen Teil der mittelalterlichen Gerichtsbarkeit charakteristisch gewesen sei, beeinträchtigt die Behauptung im Text nicht; denn der weltliche vernünftige Wille der Bürger ist, selbst wenn er von der christlichen Ethik geformt wird (was Lewis überzeugend als Marsüms’ Meinung nachweist), sicherlich radikal »souverän«, wie Lewis selbst sagt; sie selbst vergleicht an einer Stelle die Stellung des Gesetzgebers mit der des Papstes in den Schriften der radikalen Papisten; vergl. S. 563. Ich stimme aber darin völlig mit ihr überein, daß »Marsilius’ streng legalistische Vorstellung eher eine Auswahl aus der mittelalterlichen Tradition als ein Bruch mit ihr ist...« (S. 574 N. 12). Es ist wichtig, daß sie von der immer wiederholten »Legende, daß das mittelalterliche Denken keine Vorstellung von der Gesetzgebung hatte« spricht — eine Legende, gegen die man mein Buch The Philosophy of Law in Historical Perspective, 2. ed. 1963), Kap. VI. vergleichen sollte.
Vgl. über die komplizierte Beziehung von Marsilius’ Lehre über das Verhältnis von Kirche und Staat zu Aristoteles’ Lehre die gründliche Arbeit von Martin Grabmann, »Studien über den Einfluß der aristoteleischen Philosophie auf die mittelalterlichen Theorien über das Verhältnis von Staat und Kirche«, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Abtlg. (1934), Kap. II und die dort besprochene Literatur, besonders Battaglia, de LaGarde, Scholz und andere.
Vgl. zum ersten Teil dieser Feststellung die gute Studie von Paul E. Sigmund, Jr., »The Influence of Marsilius of Padua on XVth Centruy Con-ciliarism«, Journal of the History of Ideas, XXIII (1962), 392–402.
Vgl. Grabmann, a. a. O., S. 58 f. Dieser Verfasser bezieht sich auf einen klassischen Aufsatz von Rivière im Dictionnaire de théologie catholique über Ockham, fügt aber auch interessantes neues Material hinzu.
Etienne Gilson, The Unity of Philosophical Experience (1950), Kap. III, behandelt diese Frage in größerem Zusammenhang; der Titel »Road to Skepticism« ist bezeichnend für die Grundfrage.
Ockham, IV, Sententiae, Kap. VIII–IX, E, wie sie bei Paul Vignaux, Justification et Predestination au XIV Siècle (1934) zitiert werden. Ich verdanke dieses und die nächsten Zitate dem wertvollen Werk von Dom David Granfield, »The Scholastic Dispute on Justice: Aquinas versus Ockham«, Nomos, VI, Justice (1963).
Ockham, Dialogus, I. VI. 100. Er fügt bezeichnenderweise hinzu, daß »die Worte des kanonischen oder bürgerlichen Rechts nicht eingehalten verden dürfen, wenn sie dem göttlichen Gesetz, d. h. der Heiligen Schrift oder der rechten Vernunft zuwiderlaufen«. Daß eine solche Ansicht auch eine antipäpstliche Haltung bekundet, ist klar.
Eine Reihe von wichtigen Fragen dieser hochaktuellen Diskussion mußte außer acht gelassen werden, so vor allem der Streit zwischen Realismus und Nominalismus, die Unterscheidung zwischen der potestas directa et indirecta papae in temporalibus und schließlich die Beziehung zwischen Eigentum und Herrschaft, dominium und imperium. Vgl. wegen des letzteren Richard P. McKeon, »The Development of the Concept of Property in Political Philosophy: A Study of the Background of the Constitution«, Ethics XLVII (1938), S. 297–366; man beachte aus des gleichen Verfassers wichtigen Beitrag über Gerechtigkeit in Nomos VI Justice (1963).
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Friedrich, CJ. (1967). Der Konstitutionalismus im Mittelalter. In: Christliche Gerechtigkeit und Verfassungsstaat. Demokratische Existenz heute, vol 14. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96223-2_2
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