Zusammenfassung
Wie ist der Komplexität von Entscheidungssituationen, die perfekte Rationalität unmöglich macht, dennoch ein gewisses Maß — natürlich: möglichst viel — an Rationalität abzutrotzen? Auf diese Frage nach einer Strategie begrenzt rationalen Entscheidens gab Charles Lindblom (1959) mit dem Konzept des Inkrementalismus die bis heute am meisten beachtete Antwort. Er schaute sich empirisch an, wie reale Entscheidungen — ihm bot die Politik das meiste Anschauungsmaterial — ablaufen, und destillierte daraus bestimmte, von ihm auch präskriptiv verfochtene Strategiekomponenten. Der Inkrementalismus ist ein Bündel solcher nicht zwangsläufig, aber doch oftmals miteinander kombinierten und auch zueinander passenden Komponenten.1 Lindblom charakterisiert den Inkrementalismus schon im Titel seines programmatischen Beitrags als „Science of muddling through“. „Sich-durchwursteln“als „Wissenschaft“! Das klingt gerade in seiner Bescheidenheit unverhohlen spöttisch gegenüber den grandiosen Ansprüchen der normativpräskriptiven Entscheidungstheorie, die aber eben regelmäßig bei der praktischen Umsetzung auf ganzer Linie scheitert.
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Literatur
Eine ausführlichere und auch philosophisch gründlicher reflektierte Darstellung findet sich in Braybrooke/Lindblom (1963); Lindblom (1965) präsentiert demgegenüber ein Verständnis von demokratischen Entscheidungsprozessen, das deren spezifische Rationalität im inhärenten Inkrementalismus des pluralistischen Zusammenwirkens von Interessengruppen, Ministerialbü- rokratie, Parteien und Parlamenten sieht. Als knappen Überblick siehe ferner Hayes (1992: 13–26).
Siehe weiterhin March/Simon (1958) als systematisches Resümee derartiger Forschungen zum organisatorischen Entscheiden.
Die Charakterisierung des Inkrementalismus als „Small steps“-Ansatz des Entscheidens (Sunstein/Ullmann-Margalit 1999) ist zu eng, auch wenn sie ein zweifellos wesentliches Element benennt.
Lindblom (1964: 171) selber gesteht allerdings — zumindest in Reaktion auf entsprechende Kritik — zu, diese Entscheidungsstrategie sei „unquestionably one of less than universal usefulness.“
Siehe auch die „ABC-Analyse“(Brauchlin/Heese 1995: 129) als etwas verfeinerte Technik.
Bendor (1995: 824–828) weist zusätzlich daraufhin, dass weniger nahe liegende Alternativen oft auch schwieriger hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu beurteilen sind.
Siehe Hickson et al. (1986: 52/53), die sogar von „quasi-decision making“sprechen, weil die Entscheidung so weitgehend vorstrukturiert ist.
Siehe auch March/Simon (1958: 39) zu „categorization“, March (1994: 14/ 15) zu „framing“sowie Sunstein/Ullmann-Margalit (1999: 10) zu „heuristics“.
Siehe auch Reicherte (1991: 285–305) zur Bedeutung von Typisierungen in der kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit sowie Scheffer (2003) zu Asylprüfungen.
Je stärker ein Entscheidungshandeln auf Typisierungen beruht, desto mehr nähert es sich dem in Kapitel 1 betrachteten Handlungsmodus der Routine an.
Siehe March/ Simon (1958/165) zur Verdinglichung von Typisierungen.
Siehe zu diesem Beispiel Glagow/Schimank (1985).
Letzteres hebt Geser (1990) in seinem Leistungsvergleich individueller und korporativer Akteure hervor.
Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass dies auch für solche biographischen — oder sonstigen — Entscheidungen gilt, die ein Akteur ganz für sich allein trifft. Denn auf die eine oder andere Weise von seiner Entscheidung betroffene und sich vor allem betroffen fühlende Andere muss er stets in Rechnung stellen — selbst so etwas wie z.B. die Enttäuschung der Eltern, die sich diese nie explizit anmerken lassen, über eine in ihren Augen falsche Studienfachwahl ihres Kindes.
Erst recht wird keine Rücksicht oder gar Nächstenliebe derart geübt, dass man eigene Vorteile nicht ausnutzt.
Ich lasse hier der Einfachheit halber das strategische Moment völlig außer Acht. Vor allem die Spieltheorie zeigt, dass ein Akteur aus gegebenen Kräfteverhältnissen höchst unterschiedliche Ergebnisse für sich herausholen kann, je nach dem, welche Strategie er wählt (Dixit/Nalebuff 1991; Holler/Illing 1991). Die Strategiewahl ist also selbst eine rationale Entscheidung.
All diese Möglichkeiten der wechselseitigen Beeinflussung in durch „bargaining“geprägten Entscheidungssituationen wären ein Thema für sich — aus der umfangreichen Literatur siehe nur die gut systematisierenden älteren Überblicke bei Kirsch (1971b: 183–239) und Crott et al. (1977).
Siehe auch Bendor (1995: 830–832) zu „majority inconsistency“, die eine „more localized search“rational erscheinen lässt.
Für korporatistische Verhandlungsarrangements hat Bernd Marin (1980) schon vor geraumer Zeit daraufhingewiesen, dass die etablierten politischen Interessengruppen dort viele gesellschaftliche Interessen sozusagen „wegdefinieren“— die sich folgerichtig dann als „neue soziale Bewegungen“bemerkbar gemacht haben.
Das wäre dann eine Ausprägung der später noch angesprochenen Selbstkorrektivität inkrementalistischen Entscheidens.
Genauer: „Satisficing“ist „lokale Maximierung“(Wiesenthal 2005: 37).
Psychologische Studien zeigen allerdings, dass es „Maximierer“als Persönlichkeitstyp gibt und dass fast jeder bestimmte Entscheidungsprobleme hat, bei denen er zum „Maximieren“neigt (Schwartz 2004: 87–108). Psychisch fahren „satisficer“entschieden besser als „Maximierer“.
Siehe auch Cyert/March (1963: 165/166) zu „acceptable level decision rules“.
Siehe auch Michael Slote (1989: 7–31 — Zitat: 10), für den „satisfying“eine Form nicht-asketischer „moderation“ist: „You turn down a good thing… because you are perfectly satisfied as you are.
Eine Wortprägung, die ich von Fritz Scharpf gehört habe, der sie aber, wie sich dann herausstellte, von Dieter Freiburghaus übernommen hat.
Die kritische Diskussion des Inkrementalismus hat u.a. darauf hingewiesen, dass Lindblom nicht immer unterscheidet zwischen „kleinen Schritten“, also sich nur wenig vom Status quo entfernenden Entscheidungen, und einer kleinen Anzahl in Betracht gezogener Alternativen (Bailey/O’Connor 1975). Letztere können aber jeweils „große Schritte“sein.
Wie es im „Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“in Bertolt Brechts (1928) „Dreigroschenoper“heißt.
So auch Lindblom (1979: 520/521), der noch folgenden Vorteil sieht: „Incremental politics is also a way of ‘smuggling’ changes into the political system. “Die Wahrer des Status quo können eventuell so überlistet werden (Quinn 1980: 68/69).
Man beachte die höhere „Sozialverträglichkeit“dieser Komponente des Inkrementalismus im Vergleich zum „partisan mutual adjustment“, das — wie dargestellt — Einigungen nicht zuletzt auf Kosten unbeteiligter Dritter erzielt.
Generell sei zu dieser Komponente inkrementalistischen Entscheidens nochmals auf Karl Poppers (1957) zeitgleiche und sehr ähnliche Überlegungen zu „piece-meal engineering“verwiesen. Ihm stand das sich in der Tat gottgleiche Fähigkeiten anmaßende Entscheiden der Kommandeure sozialistischer Planwirtschaften als Negativbild vor Augen.
Noch grundsätzlicher begründet sich so sein analytisches Negieren von Akteuren, außer als — allerdings notwendige — Selbstbeschreibungsillusionen sozialer Systeme.
Siehe schon seine weit ausgreifende Aufarbeitung der Ergebnisse der empirischen Entscheidungsforschung (Luhmann 1968a).
Zu diesem Abschnitt siehe ausführlicher Schimank (2002b: 235–247) sowie auch die plastische Studie von Pascali et al. (2000) zu Frauen im Bankgewerbe.
Sollte man mit Dahrendorf (1979) sagen: als „Ligaturen“?
Henry Mintzberg (1987) spricht von einer „crafting strategy“, vergleichbar dem allmählichen Design einer Vase beim Töpfern. Siehe ferner Elaine Mosaicowski (1997) zur „calculative experimentation.“
Auf einen speziellen Typ von Strukturredundanz weisen Crouch/Farrell (2002) hin, wenn sie institutionelle Komplexe als weniger stromlinienförmig optimiert ansehen, als dies in einigen Theorieperspektiven dargestellt wird. Die aktuell überflüssigen oder gar störenden institutionellen Regelungen können sich zukünftig als probate Mittel erweisen, um sich veränderten Kontexten anpassen zu können.
In der ehemaligen DDR, wo es die Freiheit der Berufswahl in diesem Sinne nicht gab, konnte man demgegenüber Redundanzen gering halten, war damit aber auch nicht flexibel reaktionsfähig bei plötzlich gesteigerten Anforderungen an Personal mit bestimmten Qualifikationen (Kreutzer 2001).
Zur wirtschaftswissenschaftlichen Portfolio-Theorie siehe auch Bitz (1981: 110–146).
Je knapper freilich die staatlichen Finanzmittel für die Forschungsförderung werden, desto mehr neigen Wissenschaftspolitiker dazu, auf Risikostreuung zu verzichten und in einer Art Verzweiflungsakt zu glauben, sie wüssten, welche Forschungen den Durchbruch zum nächsten Wirtschaftsaufschwung befördern könnten.
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Schimank, U. (2005). Inkrementalismus: Begrenzte Rationalität auf mittlerem Niveau. In: Schimank, U. (eds) Die Entscheidungsgesellschaft. Hagener Studientexte zur Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80606-2_7
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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