Zusammenfassung
Wir haben oben darauf hingewiesen, dass die Erkenntnisintention im Haptischen auf das Generelle und nicht wie im Optischen auf das Individuelle gerichtet ist. Die Individualität, die sich im Optischen an der Prägnanz der Gesamterscheinung, an der Strenge der Gestalt, an der Architektonik des Ganzen erkennen lässt, wird durch unseren haptischen Sinn nicht oder nur nach umständlicher und langdauernder Prüfung, aber auch dann bloss in beschränktem Masse erfasst. Irrig wäre es aber zu glauben, dass der Mangel an Individualisierung im Haptischen auf dem Mangel jeglicher Proportionserfassung beruhe. Bestände keinerlei Proportionswahrnehmung, dann müsste auch die haptische Formwahrnehmung preisgegeben werden, wodurch der Gegenstandserkennung enge Grenzen gezogen würden. Wer das Proportionserlebnis oder richtiger die Proportionserfassung im Haptischen leugnet, denkt vermutlich an jene entwickelten Formphänomene, die nur dem rein optischen Formerlebnis eigen sind, an jene Formen, die unser visuelles Weltbild erfüllen, den Objekten phänomenale Beständigkeit und Festigkeit verleihen und ihnen aesthetische Bedeutung sichern.
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Referenzen
Das gegebene Beispiel ist nicht ganz überzeugend. Mit komplizierteren Figuren und Körpern kann man die Verhältnisse viel deutlicher demonstrieren; mit Absicht habe ich aber dieses Beispiel gewählt, um schon an einfachsten Gebilden den Unterschied zwischen Proportionseindruck und Gestaltwahrnehmung hervortreten zu lassen.
G. Blomhert, Contribution to the study of the haptic perception. Kon. Akad. v. Wetensch. Amsterdam, Proceedings Vol. XXXVIII. No. 8, 1935.
Ein ähnliches Prinzip hat mich bei der Prüfung des musikalischen Intervallsinnes geleitet. Meiner Erfahrung nach hat ein Mensch nur dann einen normal entwickelten Intervallsinn (relatives Gehör), wenn er ein gehörtes Intervall innerhalb seiner Stimmgrenze von jeder beliebigen Tonhöhe aus gesanglich zu reproduzieren bezw. zu transponieren imstande ist. Bieten wir z.B. die Quinte c1-g1 dar, dann dürfen wir von jedem musikalisch veranlagten Menschen verlangen, das er eine Quinte z.B. zu e1 oder zu as1 gesanglich angebe. (Prüfung der Musikalität, Zeitschr. f. Psychologie, 85. 1920. S. 165 ff).
J. van der Veldt, L’apprentissage du mouvement et l’automatisme. 1928 (Lab. de la psychologie expérimentale de Louvain). — Vergleiche dazu P. Guillaume, La formation des habitudes. Paris, 1936, p. 127.
Die haptische Form der Gestaltprägnanz. Ähnliche Erscheinungen treten auch im Optischen bei tachistoskopischen Beobachtungen auf.
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Révész, G. (1938). Form und Struktur in Ihrer Wechselseitigen Beziehung. In: Die Formenwelt des Tastsinnes. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-017-6549-7_7
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