Zusammenfassung
Um uns der Husserls reiner Phänomenologie eigenen Stellung zur Frage des Ich zu versichern, wollen wir zu Anfang unserer Studie eine Uebersicht über seine erste Bezugnahme auf diese Frage in den Logischen Untersuchungen gewinnen. Zu diesem Zwecke zeichnen wir zunächst ganz knapp den Gedankenzusammenhang im Gesamtwerk der Logischen Untersuchungen nach, in welchem Husserl in der V. Untersuchung bei der Erörterung einer allgemeinen phänomenologischen Theorie des Bewusstseins auch auf die Frage des Ich zu sprechen kommt (unten, § 1). Danach legen wir Husserls Stellungnahme zur Frage des Ich in der V. Untersuchung in Grundzügen dar (unten, § 2). Und schliesslich stellen wir die Ansätze zur Etablierung der reinen Phänomenologie in den Logischen Untersuchungen heraus und deuten das daraus erwachsende Problem des Ich an (unten, § 3).
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Literaturverzeichnis
Zitiert wird, wenn nicht anders vermerkt, stets die erste Auflage von 1900–1901, und zwar: LU I, S.... = Logische Untersuchungen, Erster Teil: Prolegomena zurreinen Logik (1900). LU II, Einleitung, § ..., S. ... = Logische Untersuchungen, Zweiter Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis (1901), Einleitung; bzw. V. LU, § ..., S. ... = Zweiter Teil, V. Untersuchung etc. — Die Zitate sind der heute üblichen Schreibweise angepasst; Sperrungen (hier kursiv gedruckt) werden nicht alle beibehalten, eigene Hervorhebungen als solche vermerkt: m.H. = meine Hervorhebung.
Die eindringlichsten Interpretationen der Logischen Untersuchungen geben Theodor de Boer (1966) und Ernst Tugendhat (1967). Beiden Büchern verdanke ich manche Anregung und wertvolle Hinweise.
Zu der hier implizite hervortretenden Kritik an Kant vgl. unten, 8. Kapitel, § 36.
Der Titel „reine Phänomenologie“ in den Logischen Untersuchungen (cf. z.B. LU II, Einleitung, S. 4) ist allerdings nur im Sinne der Apriorität zu verstehen (wie etwa auch von „reiner Mathematik“, d.i. nicht-empirischer, apriorischer gesprochen wird), und noch nicht in dem durch die phänomenologische Reduktion prägnant bestimmten Sinne (cf. unten, 2. Kapitel, bes. § 6). Vgl. Husserls Selbstinterpretation der methodischen Hauptgedanken der Logischen Untersuchungen am Anfang seiner Vorlesungen über „Phänomenologische Psychologie“ von 1925 (Hu IX, § 3, S. 2off.).
Wir kommen auf diesen zweiten Bewusstseinsbegriff im § 3 zurück.
Ms. A VI II I, 185–186. Diese beiden Folioblätter liegen zusammen mit sieben anderen „über Erinnerung“. Husserl notierte auf einem der Blätter: „Silvaplana, 1909: Zwei zusammenhängende Ausarbeitungen vor den Logischen Untersuchungen. Durchgesehen und sehr zu beachten! “ (S. 185). — Neben dem Titel vermerkte Husserl: „Ebenso für jeden psychischen Akt. Die ganze Betrachtung gilt für psychische Akte überhaupt im Verhältnis zum Ich“ (S. 186).
Ms. A VI II I, 185, 186. — Husserl denkt hier wohl bereits an Natorps Bestimmung in Einleitung in die Psychologie (1888), § 4 : „ ,Bewusstsein’ < ... > Dieser infinitivische Ausdruck besagt doch in concreto jedenfalls die Tatsache, dass ich oder ein Anderer sich irgendeines Inhalts, welcher es auch sei, bewusst ist. Die reflexivische Ausdrucksweise ‚ich bin mir bewusst‘ weist schon darauf hin, dass zum Bewusstsein unerlässlich das ‚Subjekt‘ gehört, dem Etwas bewusst ist. Ohne die reflexive Beziehung auf das, was wir ‚Ich‘ nennen, hat das Bewusstsein keine angebbare Bedeutung mehr. Bewusstsein heisst Sich-bewusst-sein“ (S. 12).
Husserl sagt in der 2. Auflage der Logischen Untersuchungen (1913): „In der ersten Auflage war überhaupt der Bewusstseinsstrom als ‚phänomenologisches Ich‘ bezeichnet“ (LU, 2. Auflage, II-1, S. 353, Anm. r). — Gewisse Formulierungen der 1. Auflage der LU legen übrigens nahe, dass Husserl zunächst mit dem Titel „phänomenologisches Ich“ nicht den ganzen Bewusstseinsstrom, sondern nur die „aktuelle Phase“, das adäquat Gegebene, im Auge hatte. Vgl. die mehrmals wiederkehrende Rede vom „jeweiligen“ Ich oder Bewusstsein oder vom Ich „im betreffenden Augenblick“ (cf. z.B. V. LU, § 3, S. 331, § 4, S. 332, § 6, S. 335). Er spricht auch von der Reduktion „auf das aktuell Gegebene“, welche die Erlebniskomplexion liefere (§ 8, S. 342). Im § 4 macht er ausdrücklich den Unterschied zwischen dem „phänomenologischen Ich des Augenblicks, dem phänomenologischen Ich in der ausgedehnten Zeit <= Bewusstseinsstrom> und dem Ich als verharrendem Gegenstand“ (S. 332).
Vgl. zu den knappen Andeutungen der V. Untersuchung vor allem die §§ 21ff. der III. Untersuchung. Hier näher darauf einzugehen, würde uns zu weit führen, es sei aber vermerkt, dass vermutlich zum formalen Verständnis von Husserls Bestimmungen des Bewusstseinsstromes (Ganzes) und der Erlebnisse (Teile) viel zu gewinnen wäre aus der III. Untersuchung. Dies gilt übrigens auch für ein rechtes Verständnis der „Absolutheit“ des reinen Bewusstseins und des Verweises auf Descartes’ Substanzdefinition — vgl. Ideen I, § 49; III. LU, § 12 (nur 1. Auflage!) — und für Husserls Gedanken der „Weltvernichtung“ (cf. III. LU, bes. § 5). In Th. de Boer (1966) finde ich eine Bestätigung dieser Hinweise (cf. a.a.O., S. 392ft.; bzw. deutsche Zusammenfassung, S. 591f.).
Da die Einheit des Bewusstseins im Sinne der ein Ganzes ausmachenden Einheit verstanden ist, sei zum Vergleich die Definition der prägnanten Begriffe Ganzes und Teil mittels des Begriffs der Fundierung aus der III. Untersuchung angeführt: „Unter einem Ganzen verstehen wir einen Inbegriff von Inhalten, welche durch eine einheitliche Fundierung, und zwar ohne Sukkurs weiterer Inhalte umspannt werden. Die Inhalte eines solchen Inbegriffs nennen wir Teile. Die Rede von der Einheitlichkeit der Fundierung soll besagen, dass jeder Inhalt mit jedem, sei es direkt oder indirekt durch Fundierung zusammenhängt“ (§ 21, S. 268f.). Zum Begriff der Fundierung vgl. III. Untersuchung, §§ 14ff.
In seinem Exemplar von Natorps Allgemeine Psychologie (1912) schreibt Husserl (im § 6, „Der Inhalt allein Problem. Auseinandersetzung mit Husserl“, S. 33ff.) am Rande: „Ich hatte in den LU Ich=Bewusstseinsstrom gesetzt (‚erlebt‘ heisst in den LU Glied des Stromes sein) und ein reines Ich geleugnet. Aber was ich da sagte, ist freilich falsch“ (S. 34, m.H.).
In einem engeren Sinne mag in der Tat für die phänomenologische Problematik der logischen Untersuchungen die „Stellungnahme zur Frage des reinen Ich <. . . > irrelevant“ bleiben, „so wichtig diese Frage sonst und auch als rein phänomenologische ist“, wie Husserl selbst 1913 in einem „Zusatz zur 2. Auflage“ der LU am Ende von § 8 der fünften Untersuchung sagt; denn es „können höchst umfassende Problemsphären der Phänomenologie, welche in einer gewissen Allgemeinheit den reellen Gehalt der intentionalen Erlebnisse und ihre Wechselbeziehung zu inten tionalen Objekten betreffen, einer systematischen Durchforschung unterzogen werden, ohne dass man zu der Ichfrage überhaupt Stellung nimmt. Ausschliesslich auf solche Sphären beschränken sich aber die vorliegenden <Logischen> Untersuchungen“ (LU, 2. Auflage, II-1, S. 363).
Auf die sich in § 4 schon anzeigende und in § 8 der V. Untersuchung ausdrücklich durchgeführte Natorp-Kritik möchten wir aber als solche hier nicht eingehen. Husserls Verhältnis zu Natorp ist historisch und systematisch ausgezeichnet dargestellt bei Iso Kern (1964). Historisch: 1. Teil, §§ 3–7; systematisch: 2. Teil, § 26 und vor allem II. Abteilung, 1. Abschnitt, §§ 32, 33 besonders zur Ichproblematik.
Im 6. Kapitel werden wir dem Phänomen der „Zuwendung“ als einem Motiv der Einbeziehung des (reinen) Ich in die reine Phänomenologie begegnen (unten, bes. §§ 22 und 241.).
Vgl. V. LU, § 8, S. 340; bzw. Natorp, Einleitung in die Psychologie (1888), § 4, S. 13.
Einen Ausdruck dieses Bezugs dürfen wir übrigens wohl im Terminus „phänomenologisches Ich“ im Sinn der „phänomenologischen Einheit der Jcherlebnisse“ (V. LU, § 2, S. 326) erkennen; gemeint ist eben die jedem (empirischen) Ich für sich zukommende Einheit des Bewusstseins, die „Einheit der Bewusstseinsinhalte“, welche Inhalte dieses oder jenes Ich sind.
cf. V. LU, § 8, S. 340, bzw. Natorp, Einleitung in die Psychologie, § 4, S. 11.
Husserls Kritik an Natorps Lehre von der Ununterschiedenheit der Beziehung des Ich auf die Gegenstände (der überall gleichen „Bewusstheit“) orientiert sich denn auch einerseits gar nicht an Natorps Ichbegriff, sondern an seinem eigenen (des phänomenologisch reduzierten Ich als Erlebniskomplexion). Von diesem Gesichtspunkt Husserls ist allerdings die Ununterschiedenheit der Beziehung nicht einzusehen, da, „so wie bei der Einfügung von Teilen in Ganze überhaupt“, die Weise der Einfügung eines Inhalts (Erlebnisses) in die Erlebniseinheit von der Besonderheit der Inhalte abhänge (cf. § 8, S. 343). Natorp meint aber gar nicht ein solches Verhältnis von Teil und Ganzem. Andererseits kritisiert Husserl dieselbe Lehre Natorps in treffender Weise durch seine von Brentano sich herschreibende Lehre der „wesentlichen spezifischen Verschiedenheiten der intentionalen Beziehung“ (cf. V. LU, § 10, S. 347; auch §8, S. 343).
Cf. auch § 3, S. 330 und, evtl. historisch aufschlussreich: Schuppe, Grundriss der Erkenntnistheorie und Logik, 1894, S. 120: „Die Aussage des Teiles vom Ganzen bedarf gewöhnlich des Verbums Haben“. Husserl hat diesen Satz in seinem Exemplar von Schuppes Werk mit „NB“ versehen. Cf. Husserls Privatbibliothek im Husserl-Archiv Leuven, Katalognummer BQ 426.
Ms. A VI 11, S. 186.
Im Ms. steht statt „sie“ wohl irrtümlich „es“.
Ms. A VI 11 I, S. 185.
In seinem Exemplar von Natorps Allgemeine Psychologie (1912) notierte Husserl am Rande der Ausführungen über die „Ichbeziehung nach ihrer konkreten, in Husserls Sinne ‚phänomenologischen‘ Bedeutung“: „Ich hatte den Unterschied vor Augen 1) zwischen Bewusstseinsstrom und einzelnen Erlebnissen, die darin schwimmen, 2) Bewusstseinserlebnis und sein ‚Inhalt‘, sein Intentionales. Beides mengt aber Natorp ineinander. Doch ist auch meine alte Auffassung unhaltbar“ (S. 34).
Vgl. Hu X, Zeitbewusstsein, z.B. § 39 (wohl nicht vor 1911, cf. a.a.O., S. 73, Anm. 4); Beilage VIII; Nr. 45 (zwischen 1907 und 1909; cf. a.a.O., S. 465); Nr. 54 (wohl nicht vor 1911; cf. a.a.O., S. 73, Anm. 4). — Bezüglich dieser Frage der Beziehung auf das Ich (Erlebniskomplexion) sei an die oben, S. 8, in der Anmerkung erwähnte Einschränkung der Erlebniskomplexion auf den „Augenblick“ erinnert; da in den Logischen Untersuchungen auch das subjektive Zeitbewusstsein als eine „allübergreifende Form des Bewusstsemsaugenblicks, also eine Form der in einem objektiven Zeitpunkt koexistenten Erlebnisse“ angesprochen wird, erscheint die Leugnung des „Zeitlich-eins-Seins“ einer Wahrnehmung mit der umgreifen deren Erlebniskomplexion besonders merkwürdig.
Darauf macht Husserl übrigens 1909 in einer kritischen Bemerkung zur Ablehnung der Evidenz der zeitlichen Einheit von Wahrnehmung und Erlebniskomplexion in der alten Ausarbeitung von 1898 aufmerksam: „Da kann ich nicht mit. Mir scheint doch, dass jede Wahrnehmung, das Wort im vollen Sinn, ein herausgreifender Akt ist und als solcher einen Bewusstseinszusammenhang a priori voraussetzt“ (Ms. A VI 11 I, S. 185).
Vgl. LU, 2. Auflage (1913), II-1, V. Untersuchung, S. 347f. und S. 350, Anm. r. Auch Ms. B II 1, S. 27a (wohl 1908), zitiert in der Einleitung des Hrsg., Walter Biemel, in Hu II, Die Idee der Phänomenologie, S. IXf.
LU II, Beilage, S. 711 ; m.H. Vgl. V. LU, § 5, S. 333 und VI. LU, bes. 5. Kapitel.
Auf Husserls Anknüpfung an Descartes hier aufmerksam zu machen, ist hinsichtlich des Wandels in seiner Stellungnahme zur „Cartesianischen Zweifelsbetrachtung“ von Interesse; denn sie ist Ausdruck des Problembewusstseins in der Frage des Ich. In den Logischen Untersuchungen gibt Husserl die Evidenz des „sum“ zu; er geht dabei vom Ich als empirischen aus. Nach Einführung der phänomenologischen Reduktion, um 1906, anerkennt er in der Phänomenologie nur die Evidenz der cogitatio, ausdrücklich nicht die des cogito, des „sum“ (unten, § 7). Mit der Wende zur Anerkennung des „reinen“ Ich (zur Zeit der Ideen) wandelt sich erneut die Interpretation des „cogito, ergo sum“; das cogito wird beibehalten, das jetzt fragliche Ich ist das „reine“ (unten, § 17 und § 24).
E. Tugendhat (1967) meint wohl insbesondere diesen Passus, wenn er, mit Verweis auf die Beilage, „unverkennbare Ansätze“ zur „Position der ‚transzendentalen‘ Phänomenologie < . . . > bereits in der 1. Auflage der LU“ erkennt (a.a.O., S. 18). Was die Ansätze betrifft, möchte ich beistimmen, glaube aber Anlass zu haben, einige Akzente anders setzen zu müssen bezüglich des von Tugendhat dargestellten Weges, der Husserl von den LU her „mit innerer Notwendigkeit über die eidetische Phänomenologie schliesslich zu der subjektiv absolutistischen Position der ‚transzendentalen‘ Phänomenologie“ geführt hat (cf. a.a.O., S. 18 und den 2. Abschnitt; unten, 2. Kapitel und 3. Kapitel, § 10, S. 48, Anm. 12).
Der § 7 handelt von der „Wechselseitigen Abgrenzung der Psychologie und Naturwissenschaft“ (S. 336ff.). In der 2. Auflage hat Husserl diesen Paragraphen weggelassen. Vgl. seine Bemerkung darüber in LU I (2. Auflage, 1913), Vorwort, S. XVI.
cf. Hu XIII, Intersubjektivität I, Nr. 1, S. 3, Anm. 1.
cf. unten, 5. Kapitel, bes. §§ 16ff. — Vgl. Hu X, Zeitbewusstsein, S. 353 (1909): „Das cogito ist ein absoluter Ausgangspunkt, nicht weil es sich um unsere eigenen psychischen Erlebnisse handelt, sondern weil wir von diesen cogitationes, wie Descartes sagt, clarae et distinctae perceptiones haben <...>“.
Vgl. Hu X, Zeitbewusstsein, Nr. 35 (Seefeld, 1905), S. 253, m.H.
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Marbach, E. (1974). Husserls Stellungnahme zur Frage des Ich in den Logischen Untersuchungen von 1900–1901. In: Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls. Phaenomenologica. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-017-4940-4_1
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