Zusammenfassung
Als ich den heutigen Vortrag zu präparieren begann, hatte ich gerade die Begutachtung zweier Staatsexamensarbeiten hinter mich gebracht. Die eine suchte die sozialen Verhältnisse eines deutschen Kleinfürstentums im 19. Jahrhundert zu erfassen, indem sie in minutiöser Weise die berufsständische Gliederung, die Lage der Wanderarbeiter, die gesellschaftlichen Zusammenschlüsse in den zahllosen Vereinen der Gruppen und Klassen sowie die Strukturen von Landwirtschaft, Handel, Gewerbe und Industrie analysierte, um hierauf eine Untersuchung des Wählerverhaltens und der politischen Willensbildung an der Basis aufzubauen. Die andere ‘entlarvte’ mit marxistischen Kategorien ‘die bürgerlichen Menschen- und Grundrechte in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Kampf des Proletariats gegen die Ausbeutung der kapitalistischen Unternehmer als Verschleierung der wahren Herrschaftsverhältnisse’. Da machte ich mich erschöpft an die nächste Aufgabe und griff zu einem Band von Huizinga.
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Literatur
Zur Literatur und zum Thema sei auf E. E. G. Vermeulen, Huizinga over de wetenschap der geschiedenis (Arnhem, 1956) verwiesen (mit einschlägiger älterer Bibliographie). V. untersucht das geschichtstheoretische Werk H. s kritisch im Hinblick auf eine Phänomenologie des historischen Interesses bei den niederländischen Historikern. Er faßt die gedanklich verschiedenen und zeitlich zu unterscheidenden Aussagen Huizingas systematisch zu überzeitlichen Erkenntnissen zusammen. Dagegen hege ich Bedenken. Ich verfahre eher chronologisch-entwicklungsgeschichtlich, wie es sich ganz natürlich anbietet. Meine Zielsetzung ist auch einfach vom Thema her viel bescheidener als die Aufgabe Vermeulens. Zuletzt R. L. Colie, ‘Johan Huizinga and the Task of Cultural History’, American Historical Review, LXIX (1963–1964) 607–630 (mit neuerer Bibliographie) und H. R. Guggisberg, ‘Drei niederländische Geschichtsschreiber des 20. Jahrhunderts. Ideen und Wirkungen’, Nachbarn, XV (Bonn, 1972). Auch Katalog: Y. Botke und W. R. H. Koops, Johan Huizinga 1872–1945. Tentoonstelling ter gelegenheid van de Johan Huizinga-Herdenking 1872–1972(Groningen, [1972]) 41-42
E. E. G. Vermeulen, ‘Johan Huizinga’, Spiegel Historiael, VII (1972) 692–699, bes. 695 f. Huizinga als theoreticus van de geschiedkunde. — Noch immer von Bedeutung ist Biographie und Bibliographie von K. Köster, Johan Huizinga 1872–1945 (Oberursel, 1947). Die Bibliographie bringt alle Schriften über Huizinga bis 1947, die bei Vermeulen nicht enthalten sind.
Zum Kampf gegen Lamprechts Deutsche Geschichte überhaupt vgl. etwa F. Seifert, Der Streit um Karl Lamprechts Geschichtsphilosophie (Augsburg, 1925) 9-53. Seifert behandelt nur die Zeit bis 1899. Über Lamprecht allgemein E. Engelberg, ‘Zum Methodenstreit um Karl Lamprecht’, in: J. Streisand, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus (Ost-Berlin, 1965) 136-152. Die Auseinandersetzung zwischen der staatlich-politischen und der Kultur-und Sozialgeschichtsschreibung als zeitgenössischem Hintergrund behandelt G. Oestreich, ‘Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland’, Historische Zeitschrift, CCVIII (1969) 320–363. Dort die weitere einschlägige Literatur. Eine gute Bibliographie zur deutschen Geschichtstheorie jener Zeit findet sich bei H. Rickert, ‘Geschichtsphilosophie’, in: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift Kuno Fischer (2. Aufl.; 1907) 420-422.
Wilhelm Dilthey (1833–1911), Geisteshistoriker und Philosoph, kam von der Geschichte (Ranke), verteidigte die Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften erkenntnistheoretisch und methodisch in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften, I, (1883) und begründete sie in weiteren Arbeiten. Er baute in seiner Theorie des Verstehens die besondere, auf Intuition und Nacherleben beruhende Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften gegenüber dem kausalen Erklären der Naturwissenschaften aus und sah seine Lebensaufgabe in einer ‘Kritik der historischen Vernunft’. Durch die Gesamtausgabe mit Einbeziehung des Nachlasses wurde sein Werk erneut aktuell: Gesammelte Schriften in 16 Bänden seit 1913. Huizinga zitiert nur die 1905 soeben erschienene erste der’ studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften’ über den psychischen Strukturzusammenhang; in ihr finden sich übrigens kaum Aussagen Diltheys zur Geschichte. Wiederabdruck Dilthey, Ges. Schriften, VII (Stuttgart, 1958) 3–23. Bei Eduard Spranger sowie den später von H. mehrmals genannten Theodor Litt, Hans Freyer und Erich Rothacker ist Diltheys Einfluß deutlich wirksam. Letzte Darstellung G. Schmidt, ‘Wilhelm Dilthey’, in: Deutsche Historiker, V, H. U. Wehler, ed. (Göttingen, 1972) 54-72 (Lit.).
G. von Below, Historische Zeitschrift, LXXXI (1898) 243.
Seine vernichtende Abrechnung mit Lamprecht, ‘Die neue historische Methode’, Historische Zeitschrift, LXXXI (1898) 193–273, wird von Huizinga erwähnt. Er wendet sich aber gegen die zu starre Haltung Belows hinsichtlich der Konstruktionen der Systematiker. (I, 7)
Zum kontroversen Friedensbegriff vgl. W. Link, ‘Zur gegenwärtigen Friedensforschung’, in: U. Albrecht et al., Der geplante Frieden. Zehn Perspektiven (1972) 10 ff.; bzw. C. D. Kernig, ‘Frieden’, Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, II (1968) Sp. 712–740.
Vgl. zuletzt M. Siegel, ‘Henry Berr’s Revue de Synthèse Historique’, History and Theory, IX (1970) 322–334.
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Oestreich, G. (1973). Huizinga, Lamprecht und die deutsche Geschichtsphilosophie: Huizingas Groninger Antrittsvorlesung von 1905. In: Koops, W.R.H., Kossmann, E.H., van der Plaat, G. (eds) Johan Huizinga 1872–1972. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-015-0730-1_1
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