Zusammenfassung
Was in dieser entsetzlichen Konstellation der Dinge leben will, das heißt leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches, muß also in unsrer Augen “weit- und erdgemäß Organ” fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sich-Widersprechen in der Form der Zeit, also als Werden. Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen. Zeugen, Leben, Morden ist eins1.
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Referenzen
Werke IX, 153.
Z III, “Von alten und neuen Tafeln”.
Nietzsche selbst hat die beiden Schriften zu seinen höchsten Leistungen gerechnet. So schreibt er in einem Brief an Peter Gast, Sept. 1884: “Gestern rechnete ich aus, daß die entscheidenden Höhepunkte meines “Denkens und Dichtens” (“Geburt der Tragödie” und “Zarathustra”) mit dem Maximum der magnetischen Sonnen-Einwirkung zusammenfallen”. (Gesammelte Briefe, Band IV, herausgegeben von Peter Gast). Zu der inneren Verwandschaft der beiden Schriften überhaupt vgl. Nietzsches Rückblick in Ecce Homo, wo er unter anderem sagt, in “Zarathustra” werde sein Begriff “dionysisch” höchste Tat.
Als “zentrale Gedanken” werden in dieser Arbeit hauptsächlich der Wille zur Macht und die ewige Wiederkunft behandelt, da eine Erörterung von anderen phänomenreichen, aber nicht in erster Linie zeitlich strukturierten Begriffen über den Rahmen dieser Fragestellung hinausführen würde.
EH, “Die Geburt der Tragödie”.
So schreibt Nietzsche in Bezug auf die Geburt der Tragödie: “Ich möchte wissen, ob dies Buch von Jemandem verstanden ist: Seine Hintergründe gehören zu meinem persönlichsten Eigenthum”. (Werke XIV, 362). Und in einem Brief an die Mutter, Oktober, 1887: “Bald werde ich als Philosoph der junkerlichen Aristokratie verherrlicht, bald als zweiter Edmund von Hage verhöhnt, bald als Faust des neunzehnten Jahrhunderts bemitleidet, bald als “Dynamit” und Unmensch vorsichtig beiseite getan. Und dies Stück Erkenntnis in Bezug auf mich hat ungefähr fünfzehn Jahre Zeit gebraucht; hätte man etwas von meiner Schrift “Geburt der Tragödie” verstanden, so hätte man schon damals in gleicher Weise sich entsetzen und bekreuzigen können”.
GT, 2.
Werke IX, 232.
Es tritt in den späteren Schriften immer deutlicher hervor, was Nietzsche mit dem Dionysischen meint. Das Apollinische dagegen büßt seine Eigenständigkeit ein und wird zu einem Bestandteil, wenn auch ein in einem noch zu erläuternden Sinn durchaus wesentlicher, des Vollphänomens des Dionysischen. Diese kontinuierliche “Entwicklung” läßt eindeutig erkennen, daß es Nietzsche von vornherein nicht um eine Ausarbeitung zweier für sich isolierbarer Prinzipien eines schon vorausgesetzten Begriffes der “Kunst” geht, sondern um das Verhältnis der beiden Prinzipien zueinander, aus dem heraus ein Verständnis der Kunst überhaupt erst möglich wird. Insofern wäre es grundsätzlich verfehlt, das Apollinische etwa mit dem “Klassischen”, das Dionysische mit dem “Romantischen” — oder wie auch sonst dieser bekannte Gegensatz bezeichnet wird — gleichsetzen zu wollen. Schon die flüchtigsten Kenntnisse von Nietzsches späteren Schriften verbieten eine solche Auffassung.
GT, 1
GT, 5
GT, 1
GT, 21.
Dazu vgl. Werke XIV, 354: “An dieser Stelle weiterzugehen überlasse ich einer andern Art von Geistern, als der Meine es ist. Ich bin nicht borniert genug zu einem System — und nicht einmal zu meinem System”.
GT, 4.
Mit dieser Auslegung meinte Schopenhauer den Kern der Lehren der indischen Philosophie getroffen zu haben. Inwiefern er sich darin irrte, wird in der Erörterung der ewigen Wiederkunft des Gleichen darzulegen sein.
Werke IX, 190.
Werke IX, 193.
GT, 10.
Hierin liegen schon die Ansätze zu den später entwickelten Vorgestalten des Übermenschen: dem Heiligen und dem Künstler. Bemerkenswert ist dabei vor allem, daß der zumeist vorschnell gedeutete Gegensatz Passivität (Ödipus, der Heilige) — Aktivität (Prometheus, der Künstler) in Frage gestellt wird. Prometheus steigert sich ins Titanische durch seine Aktivität, sein frevelhaftes Tun. Bei der Auslegung der angeblichen “Passivität” des Ödipus aber stellt sich heraus, “daß der Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Aktivität erlangt, die weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewußtes Tichten und Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat”. (GT, 9).
GT, 9.
GT, 3.
GT, 3.
GT, 9.
GT, 9.
GT, 9.
GT, 9.
GT, 22.
GT, 9.
GT,9.
GT, 21.
Werke IX, 77.
Werke IX, 198.
GT, 19.
Werke IX. 91: Nietzsche redet häufig von dem Willen als Erscheinung und spricht ihm damit die ontologische Stelle des Ursprungs unzweideutig ab. Vgl. Werke IX; 193, 199: “Der Wille bereits Erscheinungsform”; 205: “Die Empfindung als Erscheinung, d.h. der Wille”; 214: “Selbst der Wille Schopenhauers ist nichts als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens gänzlich Unentzifferbaren”; 219: “Was dagegen den Ursprung der Musik betrifft, so habe ich schon erklärt, daß dieser nie und nimmer im “Willen” liegen kann, vielmehr im Schobe jener Kraft ruht, die unter der Form des “Willens” eine Visionswelt aus sich erzeugt,” (Von Vf. gesperrt).
Werke IX, 191.
Werke IX, 204.
So denkt z.B. Schopenhauer das Bleibende überhaupt einerseits als ein Anhalten, andererseits als eine Steigerung bis zur Aufhebung des Zeitstroms. Das Ausschlaggebende ist, daß bei dem Zeitstrom selbst eingesetzt wird, um mit seinem Anhalten oder seiner Aufhebung die Unsterblichkeit und das “Ewige” zu erreichen. “Nun denke man sich jenen Wechsel von Tod und Geburt in unendlich schnellen Vibrationen, und man hat die beharrliche Objektivation des Willens, die bleibenden Ideen der Wesen vor sich, wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Dies ist die zeitliche Unsterblichkeit.” (Die Welt als Wille und Vorstellung II, (Frauenstädt), 548. “Einem unvergleichlich länger lebenden Auge, welches mit einem Blick das Menschengeschlecht in seiner ganzen Dauer umfaßte, würde der stete Wechsel von Geburt und Tod sich nur darstellen wie eine anhaltende Vibration, und demnach ihm gar nicht einfallen, darin ein stets neues Werden aus Nichts zu Nichts zu sehen; sondern ihm würde, gleichwie unserem Blick der schnell gedrehte Funke als bleibender Kreis, die schnell vibrierende Feder als beharrendes Dreieck, die schwingende Seite als Spindel erscheint, die Gattung als das Seiende und Bleibende erscheinen, Tod und Geburt als Vibrationen.” (ibid, 550).
Wie Kant es “transzendental-philosophisch” tat: Raum und Zeit sind Formen der Anschauung.
Werke IX, 107. “Symbolik” ist gegen den Schein scharf abzuheben. Vgl. Werke IX, 91: “Die Wahrheit wird jetzt symbolisiert, sie bedient sich des Scheines, sie kann und muß darum auch die Künste des Scheins gebrauchen. … Wir bemerken also zugleich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen den Schein, der seine ewigen Ansprüche, seine souveränen Forderungen hier aufgeben muß. Durchaus nicht wird mehr der Schein als Schein genossen, sondern als Symbol, als Zeichen der Wahrheit.”
Inwiefern es sich hier zum vorwiegenden Teil um eine Auseinandersetzung mit Schopenhauers Mißverständnis von Kants “Anschauungsformen” handelt, wird im dritten Kapitel zu erörtern sein.
Werke IX, 194.
Werke XVIII, 320. Dieser Versuch, die Individuation ausdrücklich zeitlich zu denken, wurzelt in Nietzsches Vorlesungen und Skizzen (1870–71) über die griechische Rhythmik. Diese höchst interessanten und originären Vorlesungen, deren Kern zum Teil auch wieder in späteren Briefen an Dr. Carl Fuchs zu finden ist, bedürften einer eigenen Untersuchung. Nietzsche unterscheidet die quantitierende Rhythmik der Antiken (Zeit-Rhythmik) von der modernen “barbarischen” accentuierenden Rhythmik (Affekt-Rhythmik) und behauptet, dieser Unterschied sei verlorengegangen, indem Bently und andere neuere Rhythmiker die Zeit-Rhythmik fälschlich umgedeutet und dadurch ihren Sinn völlig verfehlt hätten. Der rein quantitierenden Rhythmik wird kein rhythmischer Ictus von außen auferlegt, sondern sie pulsiert in Wellen, die lediglich den ihr immanenten Zeitquantitäten und deren Verhältnissen entspringen. Diese Zeitverhältnisse bestehen aus der Zeit der sinnlich wahrnehmbaren ηϱεμια (Ruhe) und der nicht sinnlich wahrnehmbaren (αγνωστος) Zeit des Überganges. “Die κϱονοι γνωϱιμοι sind die Theile des συστημα ϱυθμικον, die κϱονοι αγνωστοι nur die Grenzen dieser Theile”. (Werke XVIII. 273). Die neuere Affekt-Rhythmik ersetzt die ursprünglichen Zeitvechselwellen mit Stärkewechselwellen und verwischt damit den Unterschied beider. “Die Ausbildung jener Gleichsetzung von Tact und pous, vor allem der Ictustheorie, ist die Geschichte der modernen Rhythmik”. (Werke XVIII, 284). An Stelle des ursprünglichen Zeitsinns tritt die Aufeinanderfolge von Affektsteigerungen, von Stark und Schwach, crescendo und diminuendo, geregelt durch das “hopsasa des Ictus”. Es ist sehr beachtenswert, was Nietzsche hier sagen will: die ursprüngliche Zeit wird durch den Affekt ersetzt. Den Verlust des ursprünglichen Zeitsinns deutet Nietzsche als “ein typisches Verfalls-Symptom, ein Beweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriiert. Die “Phrasierung” wäre demnach die Symptomatik eines Niedergangs der organisierenden Kraft: anders ausgedrückt: die Unfähigkeit, große Verhältnisse noch rhythmisch zu überspannen — eine Entartungsform des Rhythmischen”. (Brief an Dr. Carl Fuchs, August, 1888, Gesammelte Briefe Bd. I, 521) “Zeichen der Auflösung. Der Theil wird Herr über das Ganze, die Phrase über die Melodie, der Augenblick über die Zeit (auch das tempo), das Pathos über das Ethos (Charakter, Stil, oder wie es heißen soll-) schließlich auch der esprit über den “Sinn”.” (Ibid, 461-1884/85).
Werke IX, 208.
GT, “Versuch einer Selbstkritik”–(Vorrede, 1886 geschrieben).
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Stambaugh, J. (1959). Das Apollinisch-Dionysische Verhältnis als Grundlegung für die Zeitstruktur. In: Untersuchungen Zum Problem der Zeit bei Nietzsche. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-011-9605-5_1
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