Zusammenfassung
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir Nietzsches Zeitphilosophie anhand von ihm selbst verwendeter Bilder wie Apollo, Dionysos, Erlösung, Rückkehr und Schönheit dargestellt. Indem wir im nun folgenden Kapitel Nietzsches Bilder in Begriffe übersetzen und sein Denken kurz mit anderen Philosophien der Zeit vergleichen, wollen wir den Beitrag, den Nietzsche zum Thema lieferte, näher beschreiben. Auf diese Weise möchten wir aufzeigen, in welcher Hinsicht seine Erfahrung fruchtbar sein kann für unser eigenes Denken über Zeit und Geschichte. Hierbei gehen wir über das von Nietzsche eigens Dargestellte hinaus. Wir versuchen, dem von ihm intendierten aber nicht explizit ausgeführten Ziel seines Denkens näher zu kommen.
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Referenzen
Plato, Timaeus, The Loeb Classical Library, 1952, Bd. VII, S. 75 f.
Boethius, Tractates, De consolatione Philosophiae, The Loeb Classical Library, London, 1962, S. 181, 193, 343 ff.
Löwith, Hegel, S. 44 ff.
Hegel spricht von dem vollendeten Geist oder von der vollendeten Geschichte als „eine sich erfassende Totalität” (Vorlesungen, S. 119). Das Leben des gegenwärtigen Geistes ist „ein Kreislauf von Stufen, die einerseits noch nebeneinander bestehen, und nur andererseits als vergangen erscheinen” (Vorlesungen, S. 120. Vgl. oben, Anm. 7, S. 3.) Hegel selbst legte jedoch laut Kaufmann zu wenig Nachdruck auf diesen Aspekt. Es ist interessant, bei Hegel die kreisförmigen und linearen Bewegungen von Zeit und Geschichte zu verfolgen. Mit seinem Bild von Phoenix, der sich selbst nicht nur verjüngt und wiederholt, sondern sich ausserdem erneut und über sich selbst hin aussteigt, versucht er, Kreis und Linie zu kombinieren (vgl. Vorlesungen, S. 112 ff.). Siehe auch: Kaufmann, Nietzsche, S. 290 ff.
Wenn der Geist eines Volkes bei sich ist, gibt es für den Geist nichts mehr zu tun: er hat, was er haben wollte. Es kann noch viel getan werden, „aber es ist gleichsam die lebendige, substantielle Seele selbst nicht mehr in Thätigkeit”. (Hegel, Vorlesungen, S. 114). Die Völker sind die Stufen im absoluten Prozess des Geistes (Vorlesungen, S. 88), der absolute Geist selbst aber kehrt in sich zurück (Vorlesungen, S. 119) und das stellt den Endzweck des Fortschreitens der Weltgeschichte dar (Vorlesungen, S. 119).
Zu Aristotele’ Begriffen δύναμις und ἐνέργεια vgl. Aristoteles, Metaphysica, Buch IX, S. 429 pp., the Loeb Classical Library, London, 1956.
Bei Hegel ist der Geist das Wissen von sich selbst und zugleich „die Thätigkeit zu sich zu kommen, und so sich hervor zu bringen, sich zu dem zu machen, was er an sich ist” (Hegel, Vorlesungen, S. 45). So wie die Saat bereits den ganzen Baum in sich trägt, so „enthalten auch schon die ersten Spuren des Geistes virtualiter die ganze Geschichte” (Hegel, Vorlesungen, S. 45). Der Geist eines Volkes ist z.B. realisiert, wenn es sein inneres Ziel und Wesen (dynamis) objektiviert oder realisiert hat in einer de facto Existenz (energeia): „Der Zwiespalt dessen, was es an sich ist, subjektiv, in seinem innern Zweck und Wesen, und was er wirklich ist, ist gehoben; es ist bei sich, es hat sich gegenständlich vor sich” (Vorlesungen, S. 114). Heidegger, Sein und Zeit, S. 432, Anm. 1, behauptet, dass ein philosophischer Vergleich von Hegels und Aristotele’ Positionen gegenüber der Zeit interessantes Material ergeben könnte. Dasselbe gilt für Nietzsche und Aristoteles.
Vgl. Jean Guitton, Le temps et l’éternité chez Plotin et Saint Augustin, Paris, 1959 (3. Auflage), S. 236.
Man kann auch sagen, dass das Bewusstwerden des linearen Charakters der Zeit die Naturwissenschaften möglich machte: Beide Erscheinungen sind komplementär.
Lucien Febvre, Le problème de l’incroyance au XV le siècle: la religion de Rabelais, Paris, 1942, S. 431 f., beschreibt, wie man vor dem 17. Jahrhundert die Zeit erlebte: „Au fond, au XVIe siècle dans le grand duel de longue date engagé entre temps vécu et temps mesuré, c’était le premier qui gardait l’avantage. […] en fait, croit-on que les paysans d’alors aient eu, pour mesurer le temps, pour le découper en tranches, d’autres moyens […] que certaines circonstances importantes à la vie du groupe et capables de susciter en lui des paroxysmes d’activité ou de passion?” „Après, avant, deux notions qui, chez les incultes, ne s’exclusent pas encore rigoureusement”. In dieser vagen Zeit leben mythische Helden und historische Persönlichkeiten nebeneinander, es herrscht eine Art „fluide promiscuité”, die uns skandalisiert, woran aber damals niemand Anstoss nahm. Zeit war noch kein Lebensmittel, das man zählen kann, sparen, gebrauchen etc.
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe E. Adickes, Berlin, 1889, S. 216: „Denn von dem folgenden Zeitpunkt geht keine Erscheinung zu dem vorigen zurück […]. […] von einer gegebenen Zeit ist […] der Fortgang auf die bestimmte folgende notwendig”.
Heidegger, Sein und Zeit, S. 422 ff., macht einen Unterschied zwischen Aristotele’ Auffassung von der Zeit als Jetzt-Zeit, die aufgrund des Unterschiedes zwischen „vor” und „nach” beim Messen einer Bewegung vom Uhrwerk gezählt wird; und der hiervon abgeleiteten vulgären Zeitvorstellung, bei der Zeit ein Nacheinander von Momenten ist. Unserer Meinung nach ist die Jetzt-Zeit vor dem 17. Jahrhundert von geringer Bedeutung und fehlt die vulgäre Zeit vollkommen: Das uns bekannte (und darum vom Verfasser auch traditionell genannte) Zeitbild entsteht erst im 17. Jahrhundert. Auf die Frage, ob Aristotele’ Definition der Zeit den Rahmen formt, innerhalb dessen sich die Zeitproblematik seitdem hat abspielen müssen, können wir hier nicht eingehen.
Vgl. Heideggers Interpretationen des Augenblicks als „Moment der Entscheidung”. (S. oben, S. 115). Heidegger kennt nur die Sukzession der Augenblicke bei Nietzsche an (S. oben, S. 121, Anm. 13; S. 138 f.). In Sein und Zeit steht Heidegger in seiner eigenen Zeitauffassung dem existentiellen Erleben der Zeit mit seiner Unterscheidung der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Daseins noch ganz nahe.
S. obeD, S. 115; S. 151.
Siehe oben, S. 92 ff. S. 119 ff. Vgl. auch Fink, Nietzsches Philosophie, S. 92: „Nietzsches Ewige-Wiederkunftslehre setzt ein bei der linearen Zeit, der binnenzeitlichen Folge mit ihrem festen Unterschied des Vergangenen und Zukünftigen, und geht dann zur Aufhebung derselben, zur Vernichtung ihrer Gerichtetheit und Unterschiedenheit über dadurch, dass die Unendlichkeit der Zeit, die Ewigkeit in einem neuen und seltsamen Sinne be-denklich wird”.
Merleau-Ponty skizziert gleichfalls eine Konzeption der Geschichte, in der die Sukzessivität der Zeit durchbrochen wird zugunsten einer Geschichtsauffassung, in der der Gleichzeitigkeit der Zeiten ein wichtiger Platz eingeräumt wird. Er nennt diese Art Geschichte „histoire structurale” (s. oben,S. 11, Anm. 28). „Histoire structurale” ist „non pas sans doute l’histoire qui voudrait composer tout le champ humain d’événements situés et datés dans le temps sériel et de décisions instantanées, mais cette histoire qui sait bien que le mythe, le temps légendaire hantent toujours, sous d’autres formes, les entreprises humaines, qui cherchent au delà ou en deçà des événements parcellaires […]” (Eloge, S. 164 f).
„[Wir haben], wenn wir die Vergangenheit, wie gross sie auch immer sey, durchlaufen, es nur mit Gegenwärtigem zu thun” (Hegel, Vorlesungen, S. 119 f. Siehe oben, Anm. 7, S. 3).
Die Hinweise für die jetzt folgende Abhandlung über Aristotele’ Begriffe δύναμις und ἐνέργεια verdanke ich J. Ortega y Gasset. In wenigen Seiten seines Buches Crises in Leven en Liefde, Kunst en Historie (Den Haag, 1957) gibt er eine ganz bemerkenswerte Interpretation des aristotelischen Seinsbegriffes (S. 137 ff.).
Aristoteles, Metaphysica, Buch IX, Kap. VIII, S. 444.
Aristoteles, Metaphysica, Buch IX, Kap. VIII, S. 462.
Aristoteles, Metaphysica, Buch IX, Kap. VIII, S. 48.
Aristoteles, Metaphysica, Buch IX, Kap. VIII, S. 464, spricht von ἐνέργ εια [μᾶλλον.
Ortega y Gasset, Crises, S. 144, Anm. I, „Men merke op dat van de stoffelijke bewegingen de cirkelbeweging van de hemelen het dichtst bij die van het type „denken” Staat […]”.
Ganz kurz und ohne weitere Erörterung macht auch Heidegger (Nietzsche, Bd. I, S. 77 f.) auf diesen Zusammenhang aufmerksam. „Obgleich Nietzsche”, so sagt er, „den verborgenen und lebendigen Zusammenhang seines Machtbegriffes als eines Seinsbegriffes mit Aristotele’ Lehre nicht kennt und dieser Zusammenhang scheinbar sehr lose und unbestimmt bleibt, darf gesagt werden, dass jene Aristotelische Lehre zu Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht mehr Beziehung hat als zu irgendeiner Kategorien-und Modalitätenlehre der Schulphilosophie”. Wir verstehen oder ahnen jedoch heute nichts mehr von der Seinslehre des Aristoteles, so fügt Heidegger hinzu, weil sie im Vorhinein verstellt ist von mittelalterlichen und neuzeitlichen vorgefassten Meinungen. Ortega y Gasset geht in seiner Interpretation des Aristotelischen Seinsbegriffes von Passagen aus, die dem Mittelalter nicht bekannt waren (Crises, S. 143, Anm. 1).
Vgl. Aristoteles, Metaphysica, Buch IX, Kap. VIII, S. 460: Die ἐνέργεια ist im fertigen Ding.
Siehe oben, S. 141. Vgl. Fink: „Dass im Grunde mit der Ewigkeit, die über alle zeitlichen Vorgänge, Ereignisse und Begebenheiten, über allen endlichen Zeitinhalt un-endlich hinausliegt, die Welt gemeint ist, das leuchtet und wetterleuchtet aus fast allen Kapiteln des dritten Teiles hervor […]”. (Nietzsches Philosophie, S. 103).
Der Gedanke einer kreisenden Bewegung des Seins findet sich auch bei Merleau-Ponty. Merleau-Ponty versucht, eine Dialektik zu denken, in welcher das Sein weder die blosse Wirklichkeit ist (das En Soi Sartres), noch das setzende Denken (das Pour Soi Sartres). Er sucht also eine Dialektik, die mehr ist als ein dynamisches Entweder-Oder. Oder, in Merleau-Pontys Worten: „[une] pensée […] capable de différencier et d’intégrer dans un seul univers les sens doubles ou mêmes multiples, comme déjà Héraclite faisait voir les directions opposées coïncidentes dans le mouvement circulaire […]”. Das Sein ist nicht dies oder das, aber „manifestation de Soi, dévoilement en train de se faire” (Le visible et l’Invisible, Paris, 1964, S. 125). Diese Passage bezeugt eine tiefe Verwandtschaft zwischen Merleau-Pontys, Heideggers und Nietzsches Denken.
„De intuitie van het dynamisch zijn verschijnt en verdwijnt voor de ogen van Aristoteles in een curieuze afwisseling. Hij kan zich er niet werkelijk in thuis voelen en nog minder er een basis van maken voor heel zijn stelsel” (Ortega y Gasset, Crises, Anm. 1, S. 146).
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© 1969 Martinus Nijhoff
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Bulhof-Rutgers, IN. (1969). Die Erlösung der Vergangenheit. In: Apollos Wiederkehr. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-011-8833-3_16
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