Zusammenfassung
Die Eigenschaft der Definitheit eines Axiomensystems bzw. einer Mannigfaltigkeit zeichnet für Husserl den prägnanten Begriff einer Mannigfaltigkeit aus. Er versteht ihn als ein verborgenes Ideal der Axiomatisierung. Unter einer definiten Mannigfaltigkeit versteht er ein Gebiet, für das es die Einheit einer theoretischen Erklärung gibt, d.h. jede in diesem Gebiet gültige Wahrheit ist eine Folge der Axiome. Ein definites Axiomensystem ist dadurch ausgezeichnet, daß jeder aus seinen Grundbegriffen zu bildende Satz entweder eine Folge aus den Axiomen ist oder daß er im Widerspruch zu ihnen steht.1
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Anmerkungen
Vgl. Husserl Id1 §72 und FTL §31.
Vgl. Cavaillès LS 70ff.
Vgl. Gödel U und zur Erläuterung Nagel/Newmann oder Stegmüller UU.
Dieses Vorgehen war mit ein Anlaß, sich mit dem Thema der Husserlschen Philosophie der Mathematik auseinanderzusetzen. Vgl. hierzu Bachelard SH 52ff.; Cavaillès LS 70ff.; Eley KS.XV, Anm.l; Janssen H 101ff.; Martin NG 155ff.; Melle HPM 481; Picker BM333; Rosado-Haddock HPM 77ff., Schmit HPM 75 und Ströker R 252ff.
Ähnliches ist schon versucht worden bei Bachelard SH 58ff., Rosado-Haddock HPM 77ff. und Schmit HPM 74ff.
Vgl. hierzu Husserl PA 440ff. Hierbei handelt es sich wohl um die Vorlage zu dem von Husserl an einigen Stellen erwähnten sogenannten Doppelvortrag in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft im WS 1901/02. Vgl. hierzu Eley V S.XVIII. Die gleiche Äquivalenzbehauptung findet sich in Husserl PA 457. Es muß allerdings gesagt werden, daß die Behandlung des Problems in diesen Manuskripten nur vorläufig war und von Husserl nicht als endgültig angesehen wurde. Vgl. Eley V S.XVIII.
Vgl. hierzu Hilbert ÜZ 238,240. Genauso verwendet er es in seinen “Grundlagen der Geometrie” ab der zweiten Auflage 1903. Vgl. Baldus HV 321.
Vgl. Husserl PA 442f. und Husserl PA 455ff.
Vgl. Husserl Id1 153, Anm.l; FTL 101. Eine Ausnahme bildet hier die Vorlesung F I 12, in der er die Entscheidbarkeit (D2) als Berechtigungsgrund des ‘imaginären Operierens’ nennt (F112/20f.) Husserl hielt sie in den Wintersemestern 1910/11, 1912/13, 1914/15, 1917/18 mit unterschiedlichen Auslassungen. Es gibt Anhaltspunkte für die Vermutung, daß diese Blätter wesentlich früher entstanden sind und wegen der Wirren des 1.Weltkrieges auch nach dem Diktum in den “Ideen I” nicht verändert wurden. Zu dem Problemhintergrund der Zahlbereichserweiterung und der dortigen Verwendungsweise vgl. auch Strohmeyer KXI-XLVI und Schmit HPM 67–86, der beide Verwendungsweisen allerdings nicht trennt. I. Strohmeyer macht auch in dieser ersten Verwendungsweise auf eine Dynamik der Begrifflichkeit aufmerksam.
Vgl. Husserl Id1 §72 und FTL §31, auch für das Folgende.
Vgl. Husserl Id1 150ff. und FTL 53, 84, 89.
Vgl. Husserl Id1 §72.
Vgl. Husserl Id1 152f., FTL 99f.
Zu der bei einigen Interpreten zu findenden Ansicht, Husserl sei der Meinung, daß die ganze Mathematik eine definite Mannigfaltigkeit ist, vgl. hier Anm. 27.
Ein Beispiel hierfür ist O. Beckers Versuch, die Husserlsche Definitheit als effektive Konstruierbarkeit im Sinne des Intuitionismus zu verstehen. In “Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendung.” (1923) entwickelt er anhand von Husserls Formulierungen drei verschiedene Begriffe von Definitheit, die er dazu an historisch vorliegenden Konzeptionen festmacht (Becker BG 403–414). Ohne auf die so proponierten Alternativen im einzelnen einzugehen, kann man das Ergebnis festhalten: Allein die von ihm so genannte Entscheidungsdefinitheit soll der Gesamtcharakteristik des Husserlschen Begriffes der Definitheit entsprechen. Es handelt sich hierbei um das intuitionistische Existenzkriterium der effektiven Konstruierbarkeit, das besagt, daß man von mathematischen Gegenständen als existierenden nur sprechen darf, wenn man eine Methode hat, mit der ein solcher Gegenstand in einem endlichen, konstruktiven Verfahren wirklich hergestellt werden kann. Diese krasse Umdeutung von Husserls Formulierung der Entscheidbarkeit (D2) in das intuitionistische Existenzkriterium ist für Becker durch das von ihm so genannte “Prinzip des transzendentalen Idealismus” gerechtfertigt, das er ebenso Husserl zuschreibt. Das Prinzip besagt, daß “man von keinem Sachverhalt sagen kann, daß er bestehe, wenn man nicht ein prinzipielles Mittel hat, zu entscheiden, ob er besteht oder nicht.” (Becker BG 387f., 414, u.ö.) Becker bezieht sich für dieses Prinzip, das eher an eine allgemeine Klugheitsregel, als an eine grundlegende phänomenologische Methodenvoraussetzung erinnert, auf den IV.Abschnitt der “Ideen…” (Husserl Id1 295–359). In diesem Text stellt Husserl im Gegensatz zu Beckers Interpretation ausdrücklich heraus, daß es auch vernünftig motivierte Setzungen von Gegenständen gibt, die adäquat nur in einem unendlichen Anschauungsprozeß zu geben wären. Vgl. Husserl Id1 §§142–144, vgl. auch hier Kap.II,8,d. Es wird deutlich, daß Beckers Schrift darauf angelegt ist, Husserl als Philosoph des Brouwer-Weylschen Intuitionismus zu vereinnahmen. Dieses Vorgehen wurde von H. Weyl initiiert, vgl. Weyl GA2 44, 46. Becker ist sich seiner Umdeutung der Husserlschen Intentionen durch die Lesart gemäß der intuitionistischen Begriffe im übrigen durchaus bewußt, vgl. Becker BG 413. Mit ähnlichen Absichten versucht R. Schmit auf dem Hintergrund der Meinung Husserls, die Formulierungen (D1–D3) seien äquivalent, das Schwergewicht der Bestimmung im Begriff der Entscheidbarkeit (D2) festzumachen, jedoch nicht, ohne diesen zuvor in einer ihm genehmen Weise zu modifizieren: Mit dem Hinweis darauf, daß Entscheidbarkeit eine endliche Anzahl von Operationsschritten impliziere, verändert er Husserls Begriff der Definitheit zu dem der effektiven Entscheidbarkeit der Intuitionisten (Schmit HPM 82ff.) Eine der merkwürdigen Folgen dieser Umdeutung ist, daß Husserl den Ausdruck konstruieren bzw. konstruktiv — nach Schmit -im Einklang mit der effektiven Konstruierbar keit benütze. Da Husserl ihn aber meistens gleichbedeutend mit ‘deduzieren’ gebraucht (Husserl Id1 113, 137 und FTL 102, 108 u.ö. Für eine Ausnahme vgl. hier Kap.II,9,e.), ist dies nur möglich, wie Schmit denn auch einräumt, daß er dies tut, “… ohne sich dessen bewußt zu sein…”
Vgl. Husserl Id1 153, Anm.l und FTL 101.
In Hilberts Abhandlung “Über den Zahlbegriff” (1899) findet sich neben der im Folgenden noch darzustellenden Verwendungsweise — die die syntaktische Vollständigkeit (D1) fordert, um damit die Maximalität des Modells (MM) zu erhalten — auch die Kennzeichnung im Sinne der semantischen Vollständigkeit (D3), die Hilbert offensichtlich für äquivalent hielt, vgl. Hilbert ÜZ 238, 240. In der 2.Auflage der “Grundlagen der Geometrie” (1903) verwendet er in gleicher Weise sein “Axiom der Vollständigkeit” (D1), um die Maximalität des Modells (MM) in Anwendung auf die Geometrie zu sichern, diesmal, um als einzige mögliche Deutung die cartesische analytische Geometrie festzulegen. Vgl. Baldus HV 321f. Ebenso in den späteren Auflagen der “Grundlagen der Geometrie”. Ab der 7.Auflage wurde auf Anregung Baldus’ hin eine verschärfte Version verwandt. Vgl. Baldus/Löbell 50. In dem Heidelberger Vortrag “Über die Grundlagen der Logik und Arithmetik” (1904) will Hilbert auf die Isomorphic aller möglichen Modelle eines Axiomensystems hinaus, d.h. in neuerer Bezeichnungsweise auf Kategorialität (K) bzw. Univalenz. Hilbert bezieht sich dabei ausdrücklich auf sein “Axiom der Vollständigkeit” im Sinne eines maximalen Modells (MM), vgl. Hilbert LA 258. Er ist offensichtlich von der Äquivalenz beider Eigenschaften überzeugt. R. Baldus konnte später zeigen, daß beide Eigenschaften nicht äquivalent sind. So ist z.B. die “absolute Geometrie” vollständig im Sinne eines maximalen Modells (MM), aber nicht kategorial (K), denn sowohl die Euklidische als auch die hyperbolische Geometrie erfüllen ihre Axiome, sind aber keineswegs isomorph. Vgl. Baldus HV 328f. Die Reihe der Beispiele ließe sich fortführen, so z.B. gebraucht H. Weyl noch 1927 Entscheidbarkeit (D2) äquivalent zu Kategorialität (K). Vgl. Weyl PM 41f.
Vgl. Hilbert ÜZ 238,240 und dazu Baldus HV 321ff.
Die Veröffentlichungen seines neuen Grundlegungsversuchs beginnt Hilbert gegen Ende des I.Weltkrieges. S. Bachelard kommt zu dem ganz anderen Ergebnis, daß Husserls und Hilberts Begriffe der Vollständigkeit völlig verschieden sind und daß es die von Husserl behaupteten Verbindungen gar nicht gibt (Bachelard SH 58ff.) Dennoch sollte man ihrer Meinung nach nicht allzu streng mit Husserl sein, da die Ergebnisse, die dies fachmathematisch zeigen, zu dieser Zeit noch nicht vorlagen. Ihr Ausgangspunkt ist, daß Husserls Gebrauch des Begriffes auf eine Äquivalenz von semantischer Vollständigkeit (D1) und syntaktischer Vollständigkeit (D3) (die sie allerdings nicht deutlich von der Formulierung der Entscheidbarkeit (D2) trennt) hinauslaufe. Hilberts Verwendungsweise wird auf sein Ziel, nämlich die Kategorialität (K) festgelegt und dann die Tatsache herausgestellt, daß beide Charakterisierungen in der Sicht wesentlich später erzielter Ergebnisse nicht gleichwertig sind. Abgesehen davon, daß Husserl eine so geartete Äquivalenz nicht behauptet hat, wird hier der beiden gemeinsame Problemhorizont nicht angesprochen, so daß die von Husserl behauptete Gleichheit der grundlegenden Motive nicht deutlich werden kann. Rosado-Haddock sieht die tiefe Denkverwandtschaft beider vor allem darin, daß sie beide ihre Theorien als äquivalent zur Allgemeingültigkeit des tertium non datur betrachteten, vgl. Rosado-Haddock HPM 80f., 112 u.ö. Diese Behauptung wird bei Schmit HPM 78, 118 wiederholt. Husserl ist von einem solchen Glauben weit entfernt. Er stellt den Satz vom ausgeschlossenen Dritten schon in der 6.Logischen Untersuchung als eine Behauptung heraus, die im Bereich idealer Bedeutungen, wie der Mathematik und Logik, jeweils bewiesen oder als Axiom aufgestellt werden muß, vgl. Husserl LU 633f. In FTL §§77ff. gehört er zu den oft unerkannten idealisierenden Voraussetzungen, vgl. auch hier Kap.II,8,a.
Vgl. Husserl Id1 153, Anm. 1; FTL 101f.
Vgl. Descartes R besonders Regulae 4 und 8 und dazu Gäbe DS 55–83 und 113–132. Weiterhin Leibniz HS1 30–38.
Leibniz HS1 35.
Vgl. Frege BS S.IX ff. und auch Klüver O 73, Beth MT 44ff.
Vgl. Gödel U und zur Erläuterung Stegmüller UU und Nagel/Newmann.
Genzen konnte (1936) gerade das Ergebnis, dessen Unableitbarkeit im Rahmen dieser beiden Beschränkungen Gödel aufwies, nach einer Überschreitung des strengen Hilbertschen Finitismus erhalten. Vgl. Genzen WZ und zur Erläuterung Lorenzen MM 65ff. oder Becker GG 129f., 140.
Vgl. Beth FM 112ff., Beth MT 151f., 155ff. und Lorenzen MM 134ff.
Vgl. zu dieser Behauptung Schmit HPM 74 und Rosado-Haddock HPM 53f. Diese Ansicht beruht wohl auf einem Mißverständnis der von Husserl im §31 der FTL wiederholt wörtlich und auch sinngemäß gegebenen terminologischen Festlegung, daß der prägnante Begriff einer Mannigfaltigkeit durch Definitheit bzw. Vollständigkeit gekennzeichnet sei. Die definitorische Bestimmung der Mannigfaltigkeiten im prägnanten Sinne, die auch im prägnanten Sinne mathematische heißen dürfen, durch die Eigenschaft der Definitheit, beinhaltet keineswegs, daß alle Mannigfaltigkeiten der Mathematik auch definit sind. Ausdrücklich weist Husserl auf die Funktion dieses Begriffs als Leitbild hin und auf das Problem, wie man beweisen kann, daß eine formal definierte Mannigfaltigkeit diese Eigenschaft besitzt.
S. Bachelard stellt vor allem den Charakter des Husserlschen Begriffes als Ideal, das die mathematische Arbeit leitet, in den Vordergrund (Bachelard SH 51ff.) und setzt sogleich an, den Wert eines Ideals herauszuheben, auch wenn es als praktisch undurchführbar erkannt ist. Dieser wohlmeinende Versuch der Verteidigung geht allerdings fraglos davon aus, daß Husserl das gemeint hat, was durch die Gödelschen Ergebnisse zurückgewiesen wird. Von dieser problematischen Voraussetzung einmal abgesehen, situiert Bachelard den Begriff der Definitheit und damit auch seine Funktion als leitendes Ideal ganz in der Arbeit an formal axiomatischen Theorien. Hier muß an Husserls tieferliegender Situierung im Bereich des Überganges von elementaren mathematischen Einsichten zu formal-axiomatischer Mathematik festgehalten werden.
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Lohmar, D. (1989). Zum Begriff der Definitheit. In: Phänomenologie der Mathematik. Phaenomenologica, vol 114. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-009-2337-9_15
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