Zusammenfassung
Heutzutage ist viel von einer Wiederannäherung zwischen sprachanalytischer Philosophie und Phänomenologie die Rede. Altes Lagerdenken und verkehrte Polemik weichen allmählich zugunsten sachgültiger Forschung. Diesseits und jenseits des Atlantik (und auch des Kanals) beginnt man, sich auf die „Ursprünge“ der beiden wichtigsten philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts zurückzubesinnen. Angesichts solcher weithin sichtbaren Tendenzen klingt es wie eine bescheidene Untertreibung, wenn Dagfinn Føllesdal, der sich wie wohl kein Zweiter um diese Entwicklung verdient gemacht hat3, zu Beginn dieses Jahrzehnts mit Bezug auf den Begründer der modernen Phänomenologie lakonisch “a growing interest in Husserl’s phenomenology among philosophers coming from other traditions [during the last twenty years]” verzeichnet (Føllesdal 1990, S.263).
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Literature
Bahnbrechend waren v.a. sein Traktat ‘Husserl und Frege’ (Oslo 1958), seine ‘Introduction to Phenomenology for Analytic Philosophers’ (Vortrag, gehalten 1962; Baltimore 1972) und der Aufsatz ‘Husserl’s Notion of Noema’ (in: Journal of Philosophy 66, 1969, S.680–87). Zur Bedeutung des Føllesdal-Projektes für die Philosophie der Gegenwart vgl. Stegmüller 1987, S.86–103.
Vgl. dazu von Herrmann 1988, S.8.
Daß bereits Heideggers Dissertation u. seine Habilitationsschrift von den LU geprägt sind, betont Frede in 1993, S.53f.
Auf dieses Datum macht Künne in 1990, S.105f aufmerksam.
Vgl. H. Spiegelberg, Husserl in England: Facts and Lessons. In: Journal of the British Society for Phenomenology 1/1 (1970), S.4–14 (+Postscript S.15).
Den Gedankenaustausch zwischen dem frühen Husserl und G. Frege will ich natürlich keineswegs verschweigen. Für einige wichtige Unterschiede und Gemeinsamkeiten vgl. Freges Eigennamen- und Begriffswort- Schemata in seinem Brief an Husserl vom 24.5.1891 (Frege 1976, S.96f). Über Freges und Husserls Feldzug gegen den Psychologismus ist in den vergangenen Jahrzehnten viel geschrieben worden. Ich erinnere nur an die beiden Bücher mit dem Titel ‘Husserl & Frege’: Follesdal 1958 und -z.T. kritisch gegen Føllesdal — J.N. Mohanty 1982 (insbes. S.1–42).
Alle drei Punkte zu Moore verdanke ich Künne 1990, S.104f.
Ryle 1971, S.203; vgl. S.199, 204, 205, 209 sowie S.171 (Fußn.). Husserls Reaktion auf Ryles „fleissige Recension“ ist dokumentiert in: W. Mays, Husserl on Ryle’s review of ‘Sein und Zeit’. In: Journal of the British Society for Phenomenology 1/3 (1970), S.14f.
a.a.O., Kap. 10 (“Phenomenology”), Kap.II (“Phenomenology versus ‘The Concept of Mind”’), Forts.v.S.lO Mind’”), Kap. 13 (Farber-Rezension). Ryle hielt die LU zu Recht für Husserls “best written and best argued book” (a.a.O., S.218).
Daß es auch einige analytische Philosophen gegeben hat, deren ‘Auseinandersetzung’ mit Husserl nicht den geringsten Wert besitzt, will ich mit dem Gesagten natürlich nicht ausschließen. So kann ich z.B. Husserls Ärger über die grotesken Gedanken zur Phänomenologie, die Moritz Schlick den Lesern seiner ‘Allgemeinen Erkenntnistheorie’ zumutet, gut nachvollziehen: vgl. das 1920er Vorwort zur VI.LU, S.VIf.
Ich spiele auf M. Dummetts augenzwinkernde Klassifikation der drei als „Urgroßvater“, „Großvater“, resp. „(Groß-)Onker“ an: Dummett 1988, S.167. Vgl. Ryle 1971, S.180.
Ein beeindruckendes Beispiel bieten die Analysen über den psychologischen „Ursprung“ arithmetischer Grundbegriffe in Husserls Erstling, der ‘Philosophie der Arithmetik’ aus dem Jahre 1891 (Husserliana XII). Vgl. dazu Osborn 1934, S.35–42, Willard 1984, S.38–118 und Bell 1990, S.31–84.
Vgl. LU I, §41, S. 155 u.f. sowie H. Spiegelberg (Hrsg.), Zwei Briefe von Edmund Husserl an Franz Brentano über Logik. In: Grazer Philosophische Studien 6 (1978), S.1–12, bes. S.4ff.
Das Vorliegen eines deduktiven Zusammenhanges ist in Husserls Augen nur ein notwendiges, nicht aber ein hinreichendes Identitätskriterium für Wissenschaften. Sein Kriterium greift auf den Begriff des „erklärenden Zusammenhangs“ zurück, bei dem es sich (gelinde gesagt:) um einen nahen Verwandten des Bolzanoschen Begriffs einer „Abfolge“ handelt: vgl. LU I, §63 sowie Bolzano, Wissenschaftslehre (:= WL), §§ 198 u.f. Näheres zum Verhältnis Husserl — Bolzano in Kapitel 3.
Vgl. Aristoteles, Kategorien, Kap.10, 13b.
Vgl. Frege 1986, S.29f.
In erster Annäherung gesprochen: Eine Aussage heißt für Husserl evident, wenn sie „eine unmittelbar faßliche Wahrheit“ ist (I.LU, S.100). Wie kommt es, daß manche Aussagen evident sind? Diese Frage rührt Husserl zufolge an ein Grundproblem der reinen Logik: „Die Berufung auf die Evidenz genügt nicht. Die Evidenz ist selbst das Problem“ (Spiegelberg 1978, S.6). Für Husserls Auffassung zum Verhältnis zwischen subjektiver Evidenz („Erkenntnis“) und Logik vgl. unten, Abschn. 1.2.
Spiegelberg 1978, S.1
Dieses Zitat liefert eine schöne Bestätigung der Ausführungen E.Strökers über den überragenden systematischen Stellenwert nicht bloß der VI., sondern auch der V. Untersuchung: Vgl. Ströker 1975, S.XXVII u.f.
Vgl. unten, Bemerkung (iii) ad (N).
Vgl. Künne 1983, S.22f. Künne schärft ein, daß Referenz eine existeraindifferente Relation ist, daß also aus [a referiert auf b] nicht folgt, daß b existiert (S.23). Da die Rede von der Referenz ‘auf einen Gegenstand’ dennoch zu Mißverständnissen führen könnte, beschreibe ich singuläre Termini als Ausdrücke, die der erfolgreichen Referenz auf ein Objekt zu dienen vorgeben (was natürlich nicht ausschließt, daß dieser Schein semantisches Sein ist); entsprechend für generelle Termini. Gegenstandlose singuläre Termini (wie ‘Pegasus’) sind nach (N) ebenfalls Namen, denn (N) ist keineswegs auf wahre kategorische Aussagesätze eingeschränkt.
Offenbar zeigen die Kursiv-Hervorhebungen hier eine besondere Verwendung der Objektphrasen an. Man vergleiche die Standardverwendung des Satzes ‘Ich sehe den Londoner Tower’ mit dessen Auftreten in folgendem Kontext. Ein kundiger Londoner Reiseleiter fragt einen Touristen: ‘Sehen Sie die Burg, in der die Juwelen des britischen Königshauses zu besichtigen sind?’. Antwort: ‘Ich sehe den Londoner Tower. Aber ich sehe nicht die Burg, in der [usw.]’. Um diese zweite Verwendung von ‘den Londoner Tower sehen’ anzuzeigen, habe ich mich des Mittels der Kursiv- Hervorhebung bedient. Vgl. Husserls Gebrauch der Anführungszeichen zur Bezeichnung des „noematischen Sinnes“ in den ‘Ideen’ (§89 u.ö.; ähnlich verfährt D.W. Smith in 1989, vgl. auch Smith/McIntyre 1982, S.188 u.f.)
Vgl. IV.LU, S.322 über das „logische Interesse“.
Vgl. Heidegger 1976, S.151 (Fußn.).
Ein Bolzanoscher Inbegriff ist einfach „ein Etwas, das Zusammengesetztheit hat“, i.e. ein Ganzes (WL, §82, S.393f). Nun handelt es sich zwar in Bolzanos Augen auch bei Sätzen (möglichen Aussagebedeutungen) um Vorstellungskomplexe (vgl. unten, Abschn. 2.1.1 u. 2.1.2); im Kontext einer kanonischen Ableitbarkeitsaussage bezeichnet ‘Inbegriff’ aber ein unstrukturiertes Ganzes. Sätze hingegen sind nach Bolzano strukturiert, i.e. in bestimmter Weise komponiert (vgl. unten, ibid.).
John Searle, Intentionality. An essay in the philosophy of mind. Cambridge 1983. Dt.: Intentiona-lität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes. Übers, von H.P. Gavagai. Ich zitiere nach der (m.E. gelungenen) deutschen Ausgabe (1987).
Manchen ‘emotiven’ Sprechakten spricht Searle allerdings jegliche Ausrichtung ab, z.B. Forts.v.S.42 Entschuldigungen und Gratulationen. Man könnte hier aber m.E. ebensogut von einer Wort-auf-Erlebnis-A usrichtung sprechen.
Diese Beschreibung ist durchaus kohärent mit Searles interessanter These (aus Kap. 2 von 1987), daß alle Erlebnisse mit Ausrichtung in letzter Analyse propositional sind. Was speziell sinnliche Wahrnehmungen betrifft, so enthalten ihre Erfüllungsbedingungen nach Searle neben dem Bestehen eines Sachverhaltes, in den das Wahrnehmungssubjekt involviert ist, zusätzlich die Bedingung, daß dieser Sachverhalt (sie!) die betr. Wahrnehmung kausal verursacht. Die letztere Behauptung ist allerdings kontrovers.
Vgl. V.LU, S.378f sowie VI.LU, S.32, 39f.
Während Husserl die vollkommen angemessene Veranschaulichung in den LU noch einigermaßen unklar als eine “ideale Grenze” kennzeichnet (V.LU, §37, S.l 17), stellt er in den “Ideen” klar heraus, daß reale Gegenstände in einer abgeschlossenen Veranschaulichung prinzipiell “nur ‘inadäquat’ erscheinen” können, daß eine vollkommen angemessene Veranschaulichung also ausgeschlossen ist (Ideen, §138, S.286). (Eine verwandte These vertritt Frege in ‘Über Sinn und Bedeutung’ bezüglich der “allseitigen Erkenntnis” eines Gegenstandes, versteht dabei jedoch unter “Erkenntnis” etwas anderes als Husserl.) In §143 der ‘Ideen’ (S.297f) macht Husserl aber deutlich, daß die Struktur einer perfekten Veranschaulichung gleichwohl als “regulative Idee” (Føllesdal 1991, S.27) vorgezeichnet ist.
VI.LU, S.33, Fußn.
In den ‘Ideen’ legt Husserl einen nahen Verwandten dieses Prinzips seiner ganzen “Phänomenologie der Vernunft” zugrunde: “Prinzipiell stehen in der logischen Sphäre … ‘wahrhaft -‘oder ‘wirklich-sein’ und ‘vernünftig ausweisbar-sein’ in Korrelation” (Ideen, S.382).
Diese Beschreibung ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Husserl weist ausdrücklich darauf hin, daß die Rede vom Widerstreit zwischen a,b,… hinsichtlich eines R-Ganzen relativ auf die jeweils “herrschende Intention” zu verstehen ist (a.a.O., S.110). Sofern die mögliche Einheit von a,b,… innerhalb eines R-Ganzen in Frage steht,”gilt der Widerstreit [sc. zwischen a,b,… hinsichtlich eines R-Ganzen] selbst nicht als eine Einheit, sondern als Geschiedenheit” (a.a.O.).
Husserl hält die Metapher vom ‘Widerstreit’ offenbar für wenig erläuterungsbedürftig. Er bemerkt lediglich, daß die Teilanschauungen des Widerstreitbewußtseins “im Prozesse intuitiven Widerstreites einander ablösen” (VI.LU, S. 114; meine Herv.). Mir scheint, daß uns das folgende Beispiel ein instruktives Modell dieses Prozesses an die Hand gibt. Wenn man Jastrows Hasen-/Entenkopf-Zeichnung eine Zeitlang betrachtet (und über die Begriffe [Hasenkopf) und [Entenkopf] verfügt), dann erlebt man, wie die Eigenschaften ‘Besitz eines Hasenkopfes’ und ‘Besitz eines Entenkopfes’ bzgl. eines Ganzen der Sorte ‘einköpfiges Tier’ miteinander streiten — indem man nämlich abwechselnd einen Hasen- und einen Entenkopf wahrnimmt, derart, daß diese Wahrnehmungen “diskret ineinander überspringen” (Husserl, Ideen, §98, S.206; vgl. Künne 1986’, S.207). Auf diese Weise erkennt man (bei passender Ausrichtung des Interesses), daß es kein einköpfiges Tier geben kann, das einen Kopf besitzt, der sowohl ein Hasen- als auch ein Entenkopf ist. Man erlebt, heißt das, eine phänomenologische Enttäuschung des logischen Erlebnisses {einköpfiges Tier mit einem Kopf, der sowohl ein Hasen- als auch ein Entenkopf ist}. (Die beiden beschriebenen Wahrnehmungen werden niemals als Komponenten eines einheitlichen intuitiven Erlebnisses auftreten, dessen Gegenstand (genau) ein einköpfiges Tier ist.) Und ähnlich — so könnte man fortfahren — verhält es sich bei allen phä-
In diesem Sinne kann man z.B. einen Baum ebensosehr erkennen wie einen Sachverhalt, in den ein Baum involviert ist. Die beiden zugehörigen (technischen) Verwendungen von ‘erkennen’ entsprechen dem zweifachen Gebrauch des englischen ‘to know’, auf den J. Hintikka in seinem Russell-Aufsatz [1972] aufmerksam macht: ‘a knows, that p’ und ‘a knows (the individual) b’. Hinsichtlich der letzten Verwendung von ‘to know’ schreibt Hintikka: “… ‘a knows b’ (where b is an individual) and ‘a is acquainted with b’ may be taken to be near — synonyms … Russell makes liberal use of the direct object construction with ‘knows’ in expanding his views on ‘knowledge by acquaintance’” (Hintikka 1972, S.54f). — Es läßt sich m.E. zeigen, daß Russells Konzeption der ‘acquaintance” (wie sie sich u.a. in 1992, Teil I und in 1956, S. 125–174 manifestiert) in wesentlichen Zügen mit Husserls oben Forts.v.S.50 angezeigter Lehre von der phänomenologischen ‘Erkenntnis’ eines (realen oder idealen) Gegenstandes bzw. der phänomenologischen ‘Erfüllung’ einer signitiven Intention zusammenfällt. Vgl. dazu Künne 1983, S. 170–175 und die ganze Abhandlung 1989 von D.W.Smith; vgl. auch den Hinweis in Mulligan 1989, S 227. Eine Untersuchung dieser Übereinstimmung sprengte den Rahmen der vorliegenden Arbeit und bleibt künftigen Forschungen der Analytischen Phänomenologie vorbehalten.
Vgl. VI.LU, S.102ff.
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Beyer, C. (1996). Die Phänomenologie der logischen Erlebnisse. In: Von Bolzano zu Husserl. Phaenomenologica, vol 139. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-009-1691-3_2
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