1 Kritik am Behaviorismus

Nachdem wir uns mit dem Behaviorismus beschäftigt haben, der mit erschreckender Radikalität alle subjektive Erfahrung – und damit auch Kognitionen – aus dem Gegenstandsbereich der Psychologie eliminiert hatte, wollen wir jetzt kurz die Gegenbewegung, den Informationsverarbeitungsansatz in der Psychologie kennenlernen. Der Paradigmenwechsel vom Behaviorismus zur Informationsverarbeitung verdient durchaus diesen Kuhn’schen Ausdruck und wird kognitive Wendegenannt. Den Informationsverarbeitungsansatz kann man auch mit einem Kognitivismus gleichsetzen. Eine wichtige Station auf dem Weg dorthin oder, in Kuhns Worten, ein Auslöser für die Krise des alten Paradigmas ist sicherlich in der Behaviorismus-Kritik von Noam Chomsky (geb. 1928) zu sehen. Er hat in seiner Besprechung von Skinners Buch Verbal Behavior(1957) eine vernichtende Kritik formuliert, die wohl nicht in erster Linie wegen ihrer theoretischen Einsichten aufgenommen wurde, sondern weil er dem gesunden Menschenverstand wieder Geltung verschaffte und somit auch oder gar maßgeblich die Wissenschaftsgläubigkeit infrage stellte, mit der man im Behaviorismus ein Heilmittel für alle gesellschaftlichen Probleme gesehen hatte. Indem Chomsky zeigte, dass der Behaviorismus irren konnte, öffnete er die Tür für weitgehende Kritik. Berühmt wurde ein Satz, in dem seine ganze Enttäuschung über die damalige Psychologie zum Ausdruck kommt :

„Es ist gut möglich – man darf annehmen, dass es die überwältigende Mehrheit ist –, dass wir immer mehr über das menschliche Leben und die menschliche Persönlichkeit aus Romanen als von der wissenschaftlichen Psychologie lernen werden. (Chomsky, 1988: 159; Übersetzung durch die Verfasser)“

Chomskys Hauptargument zur Fallibilität des Behaviorismus ist gegen die Methode des Konditionierens, gemeint ist das operante Konditionieren, zum Erwerb von Sprache und Grammatik gerichtet. Nach dem, was wir über die zeitlichen Verläufe von Konditionierung wissen, würde ein Menschenleben nicht ausreichen, um Sprache zu erwerben. Ganz anders als beim klassischen Konditionieren, wo wenige oder gar eine einzige Assoziationsbildung (single-trial learning) ausreichen können, um biologisch vorbereitete Dinge zu lernen, wie etwa eine Geschmacksaversion, ist beim operanten Konditionieren mehr Übung notwendig, um die Reaktionen oben in der Hierarchie zu halten. Ein weiteres Argument Chomskys ist sein Hinweis darauf, dass wir ständig fundamental neue Sätze bilden können, die wir vorher noch nie gehört oder gedacht haben. Dies ist schlichtweg nicht mit der S-R-Hierarchie von Hull oder Skinner vereinbar. Vielmehr müssen Grammatikstrukturen, die das mühelose Bilden neuer Sätze zulassen, angelegt beziehungsweise angeboren sein.

Es soll jetzt nicht der falsche Eindruck entstehen, dass die kognitive Wende eine Sprachwende war. Selbst im Herzen des Behaviorismus, in der Lerntheorie, wurde massive Kritik laut. Pionierarbeit leistete dabei Albert Bandura (geb. 1925) Anfang der 1960er Jahre mit seinem Bobo-Doll-Experiment, das wir uns gleich noch genauer anschauen werden. Die Ergebnisse konnten Banduras Meinung nach nicht mehr mit behavioristischen Prinzipien erklärt werden, sondern verlangten kognitive Prozesse (Bandura & Walters, 1963). Das Paradigma des Beobachtungslernens löste das des Konditionierens in nahezu allen komplexen visuellen Lernsituationen ab. Ganz unabhängig von Kritik aus den eigenen Reihen kam aber auch zeitgleich in Amerika eine ganz neue Strömung auf, die Ergebnisse aus der Nachrichtentechnik und der Kybernetik auf die Psychologie anwandte.

1.1 Das Bobo-Doll-Experiment von Bandura

Vier- bis fünfjährigen Kindern wurde ein Film vorgeführt, der eine erwachsene Person namens Rocky in einem Raum mit mehreren Gegenständen zeigt. Rocky verhält sich gegenüber einer großen Plastikpuppe namens Bobo sehr aggressiv, die Puppe wird geschlagen, getreten, zu Boden geworfen und beschimpft, teilweise auch mit abfälligen Wortneuschöpfungen tituliert. Der Film konnte nun in drei verschiedenen Varianten enden. Den Kindern wurde je nach Zuordnung zu einer von drei Gruppen jeweils nur eine Fassung mit einer der drei Varianten gezeigt:

  • Gruppe 1: Am Ende tritt eine zweite erwachsene Person hinzu, die Rocky für sein Verhalten lobt und ihn mit Süßigkeiten belohnt.

  • Gruppe 2: Am Ende kommt ebenfalls die zweite erwachsene Person hinzu, tadelt Rocky jedoch und bestraft ihn mit Schlägen (sic!) und Drohungen.

  • Gruppe 3: Das Geschehen bleibt unkommentiert, keine weitere Person tritt auf.

Direkt im Anschluss wurden die Kinder – einzeln – in einen Raum mit solchen Gegenständen geführt, wie sie im Video zu sehen waren. Die Kinder spielten mit den verschiedenen Gegenständen, ahmten aber auch das aggressive Verhalten des Erwachsenen gegenüber der Puppe nach und benutzten auch die abfälligen Wortneuschöpfungen. Über alle Gruppen hinweg waren die Jungen aggressiver als die Mädchen. Die Bereitschaft zur Aggressivität war aber bei den unterschiedlichen Gruppen verschieden ausgeprägt. Die Kinder, die zuvor Zeugen von Rockys Bestrafung geworden waren (Gruppe 2), waren deutlich weniger aggressiv. Gruppe 3, die den Film mit dem neutralen Ende gesehen hatte, zeigte ein ähnlich aggressives Verhalten wie Gruppe 1, in der Rocky für sein aggressives Verhalten gelobt worden war.

Anschließend wurde den Kindern eine Belohnung für jede gesehene Handlung in Aussicht gestellt, an die sie sich erinnern und die sie auch nachahmen konnten. Diese Belohnung erhöhte bei den Kindern aller drei Gruppen die Nachahmungsrate, wobei Gruppe 2 die anderen beiden Gruppen noch übertraf. Bandura schloss daraus, dass die Kinder das Vorbildverhalten gleichermaßen erlernt hatten. Man beachte, dass eigenes Verhalten in der Lernphase überhaupt nicht nötig ist. Das Gelernte, also das beobachtete Verhalten, wurde je nach den Folgen, die es hatte, ganz unterschiedlich reproduziert. Es besteht also ein Unterschied zwischen Erwerb (Akquisition oder Kompetenz) und Ausführung (Performanz) des beobachteten Verhaltens. Diese Differenzierung wäre im Paradigma des Konditionierens nicht möglich gewesen. Behavioristisch gesehen sollte die Reaktion, wenn sie einmal aktiviert ist, auch in Verhalten münden und nicht durch eine Evaluation der Konsequenzen abschaltbar sein. Wir wollen hier dahingestellt sein lassen, ob der Behaviorist nicht auf eine weitere S-R-Hierarchie verweisen würde, die genau diese Hemmung des aggressiven Verhaltens durch den Stimulus „Tadel“ erklärt. Wichtig ist, dass Bandura eine neue Theorie vorstellte, die das differenzierte Nachahmen mit kognitiven Begriffen leicht erklären konnte.

Als Anmerkung sei hinzugefügt, dass Rockys Verhalten heute beileibe nicht besonders aggressiv aussieht, damals aber durchaus so empfunden wurde. Dies lässt also eher darauf schließen, dass sich unsere Sehgewohnheiten gegenüber gewalttätigen Szenen verändert haben, und stellt Banduras Schlussfolgerungen nicht unbedingt infrage. Bandura hat, beflügelt vom Erfolg seiner Theorie zum Beobachtungslernen, eine weiter reichende Theorie zur Erklärung von Sozialisierungsprozessen ausgearbeitet, die unter dem Namen Social Cognitive Learning Theory bekannt geworden ist. Bis heute hält Bandura übrigens hartnäckig an der These des Beobachtungslernens fest, obwohl sich inzwischen zahlreiche Gegenpositionen formiert haben. Auch ist inzwischen klar, dass visuell-motorisches Lernen keine Einbahnstraße von der Beobachtung zur Nachahmung darstellt, sondern auch umgekehrt vom Handeln auf die visuelle Wahrnehmung wirken kann (Hecht, Vogt & Prinz, 2001). Davon ganz abgesehen sind Banduras Arbeiten so bedeutend gewesen, weil sie zeigten, dass kognitive Variablen auch in der Domäne des Lernens ihren Platz haben, ja unverzichtbar sind.

2 Kognitive Psychologie

Wenn wir uns den Kernbereich der allgemeinen Psychologie anschauen, dann hat ein Buch wie kein anderes die kognitive Wende begleitet, nämlich Ulric Neissers Cognitive Psychology(1967). Neisser wurde 1928 in Kiel geboren, wanderte aber als Dreijähriger nach Amerika aus, studierte in Harvard und bei Wolfgang Köhler in Swarthmore Psychologie, lehrte dann unter anderem an der Cornell University. Neisser hat den Erkenntnissen der kognitiven Psychologie in der wissenschaftlichen Gemeinschaft zum Durchbruch verholfen. Er definiert kognitive Psychologie als die Lehre davon, wie Menschen Wissen erwerben, strukturieren, speichern und nutzen, und legt das Fundament für die moderne Kognitionspsychologie. Dieses ist uns heute so geläufig, dass uns heute vieles aus seinem Buch trivial erscheinen mag. Aus dem Umfeld des Behaviorismus heraus erschien es damals jedoch revolutionär.

„Erkenntnis“ bezieht sich auf alle Prozesse, bei denen der wahrgenommene Input verändert, reduziert, ausgearbeitet, gespeichert, wiederhergestellt und angewendet wird. Sie ist immer an diesen Prozessen beteiligt, selbst wenn diese ohne eine relevante Stimulation, wie Bilder oder Halluzinationen, arbeiten. Begriffe wie Sinneseindrücke, Wahrnehmungen, Bildsprache, Speicherung von Gedächtnisinhalten, Erinnern, Problemlösen und Denken etc. führen zu hypothetischen Stufen oder Aspekten von Erkenntnis. (Neisser, 1967: 4; Übersetzung durch die Verfasser)

Man beachte die Zentralität des Informationsbegriffs und den Prozesscharakter der seelischen Funktionen, die die Informationsverarbeitung gewährleisten, einmal ganz abgesehen von einer neuen Begrifflichkeit, die zum Teil aus der gerade entstandenen Kybernetik kam. Zwei solche Termini technici, Input und Output, sind heute aus der Umgangssprache überhaupt nicht mehr wegzudenken. Man beachte auch, dass Neisser explizit mentale Erlebnisse erwähnt, die ohne jeglichen Stimulus existieren und Verhalten auslösen können. Neben die Kognitionstheorie stellt Neisser die dynamischen Theorien, die zur vollständigen Erklärung der Psyche notwendig sind. Dazu gehören Motivation, Persönlichkeit usw. Neisser versteht Kognitionen und dynamische Variablen als unabhängige Variablen beziehungsweise Theorien, sodass Kognitionspsychologie möglich ist, ohne immer auch dynamische Theorien mit einzubeziehen. Allerdings sind sie seiner Ansicht nach unvereinbar mit dem Behaviorismus:

Die kognitiven und dynamischen Gesichtspunkte sind keineswegs die einzigen möglichen Annäherungen an die Psychologie. Behaviorismus vertritt zum Beispiel eine sehr verschiedene Tradition, die mit beiden im Wesentlichen unvereinbar ist … Vor einer Generation hätte ein Buch wie dieses mindestens ein Kapitel der Selbstverteidigung gegen die behavioristische Position gebraucht … Der grundlegende Grund, um kognitive Prozesse zu studieren, ist ebenso klar geworden wie der Grund, um irgendetwas anderes zu studieren: Weil sie dort sind. (Neisser, 1967: 5; Übersetzung durch die Verfasser)

Es ist sicherlich kein Zufall, dass ein Schüler Wolfgang Köhlers (1887–1967) diese Leistung vollbrachte, ein ganzes Feld umzukrempeln und die kognitive Wende auf den Weg zu bringen. Neissers Ideen waren von der Gestalttheorie inspiriert, obwohl er nicht als Gestalttheoretiker gelten kann, dafür sind seine Werke zu sehr vom Paradigma der Informationsverarbeitung geprägt. Er näherte sich übrigens in den 1970er Jahren sehr der Position von James Jerome Gibson und versuchte, den ökologischen Ansatz besonders in der Lernforschung zu etablieren.

3 Informationstheorie

Parallel zu den neuen Strömungen in der allgemeinen Psychologie gab es auch auf der Methodenseite eine neue Orientierung. Während Arbeiten zur Psychophysik am Ende des 19. Jahrhunderts, etwa die Methoden zur Schwellenbestimmung von Gustav Fechner, stark von Versuchen bestimmt waren, Sinnesempfindungen anhand eines formalen Regelwerks zu beschreiben, so spielte dies im Behaviorismus keine Rolle mehr. Lernprozesse wurden zwar auch formalisiert, denken wir etwa an Hulls Formel zum Reaktionspotenzial, es wurde aber keine Entsprechung von physikalischen und seelischen Parametern gesucht. Die Seele war ja ausgeklammert. Durch die Fortschritte in der Nachrichtentechnologie im und nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden technische Innovationen, die plötzlich so etwas wie geistige Einheiten erforderten. Rechenmaschinen, Dechiffriermaschinen und schließlich der Computer erforderten Stellvertreter für Zahlen, Wörter – eben so etwas wie Repräsentationen, die nicht mit der Begrifflichkeit des Behaviorismus beschrieben werden konnten. Man musste jetzt mit Maschinen kommunizieren, und so entstand der Informationsbegriff als Maß für die Menge oder die Dichte von Kommunikation. Claude E. Shannon (1916–2001) hat 1948 in seinem Artikel „A Mathematical Theory of Communication“ (deutsch: Mathematische Grundlagen der Informationstheorie) eine Informationstheorie aufgestellt, die die kognitive Psychologie 20 Jahre später maßgeblich beeinflusst hat (Shannon & Weaver, 1976). Er schlug vor, Zahlen in binärer Form zu kodieren, und beschäftigte sich mit der Idee selbstreferenzieller Systeme, die in Form von Schleifen in die Programmiertechnik eingegangen sind und ohne die neuronale Netze oder konnektionistische Ansätze (▶ Kap. 13) heute nicht denkbar wären. Eine spielerische Demonstration ist seine ultimate machine, deren Zweck es ist, den Schalter, mit dem man sie einschaltet, wieder auszuschalten. Man kann sie übrigens auf YouTubebewundern.

In den 1960er Jahren waren die ersten Computer zu außerordentlich erfolgreichen Informationsverarbeitern geworden, und es dauerte nicht lange, bis Psychologen die großen Gemeinsamkeiten zwischen dem Computer und unserem Denkapparat zur Theoriebildung heranzogen, von krassen Analogien bis zu vorsichtigeren Vergleichen. Die Bedeutung des Computers für die Theoriebildung in der Psychologie seit der kognitiven Wende kann nicht genügend betont werden. Es scheint fast so, als sei mit seiner Erfindung endlich ein lang gehegter Menschheitstraum in Erfüllung gegangen, nämlich der, etwas zu schaffen, was der menschlichen Seele gleicht, ja als Analogie dienen kann, um jene zu verstehen. Man kann die Bedeutung des Computers als informationsverarbeitende Maschine für die Psychologie vielleicht am besten mit der folgenden kleinen Metatheorie von analogieorientierten Theorien verdeutlichen. Wenn wir uns die Geschichte der Medizin anschauen, kommt ein Durchbruch im Verständnis eines Organes immer erst dann, wenn es Physikern oder Ingenieuren gelungen ist, etwas zu bauen, das ähnlich ist und das als Analogie herangezogen werden kann. So wurde die Funktion von Adern sehr früh verstanden, da man Schläuche in der Antike kannte, um Flüssigkeiten darin aufzubewahren. Das Herz wurde erst in seiner Funktion begriffen, nachdem man die Pumpe erfunden hatte. Die Analogie, das Herz als Pumpe, die Säfte (Blut) durch Schläuche (Adern) pumpt, ist seither gültig. Die Funktion von Nervenbahnen wurde erst mit der Erfindung einer elektrischen Leitung verstanden; wir stellen uns heute Nerven in der Regel als Reizleiter in Analogie zu einer Stromleitung vor.

Das Gehirn – und jetzt befinden wir uns wieder in der Ära der Kognitionspsychologie der 1960er Jahre – wurde erst verstanden, als der Computer erfunden war. Zunächst hat man es als seriellen Computer aufgefasst, denn die ersten Computer waren eben serielle Informationsverarbeiter. Als in den 1970er Jahren der parallele Computer aufkam, sah man sofort, dass das Gehirn ein paralleler Computer ist. Heute sind selbst Parallelcomputer out, und Cloud Computing ist in. Unter Letzterem ist die Hochverfügbarkeit vieler virtueller Server zu verstehen und damit eine Möglichkeit, parallele Prozesse, wie Sortierung von Daten, Datenbankzugriffe und Speicherung auf fast unbegrenzten Medien durchführen zu können. Diese Prozesse sind ökonomisch sehr effizient, allerdings sicherheitstechnisch problematisch für den Kunden, der eine solche, als Dienstleistung von „außen“ angebotene „Wolke“, mietet, um nicht selbst ein eigenes Rechenzentrum betreiben zu wollen/müssen. Cloud Computing kann man also als eine Eingabe-Ausgabe-Black-Box für komplexe Aufgaben auffassen, deren Komponenten, auf verschiedene Ressourcen verteilt, sehr schnell verarbeitet werden können. Beispielsweise wurde von Google 1 Terabyte Daten in nur 68 Sekunden sortiert. Es wäre also entsprechend unserer kleinen Metatheorie kein Wunder, wenn bald die ersten Theorien vom Denken als Cloud Computing auftauchen. Die etwas ketzerische Frage, die wir hier implizieren, ist natürlich die nach dem Kriterium für eine adäquate Analogie. Die moderne Herzchirurgie zeigt uns täglich, dass das Herz tatsächlich eine Pumpe ist, deren Einzelteile wir verstehen und zum Teil sogar reparieren können. Aber was ist das Kriterium dafür, dass wir auch mit dem parallelen Computer richtig liegen? Noch verstehen wir die einzelnen Teile des Gehirns nicht, und noch können wir es nicht reparieren, wenn auch immer wieder Bemerkenswertes geleistet wird, wie etwa das neurale Interface, mit dem es gelähmten Menschen gelingt, ihre im EEG messbaren Hirnströme so zu verändern, dass sie einen Rollstuhl lenken können. Wir werden versuchen, in ▶ Kap. 15ein paar Antworten auf diese Frage anzubieten. Jetzt zurück zur kognitiven Wende und zur Neudefinition ihrer eigenen Aufgabe, die sich die Psychologie oder genauer gesagt die kognitive Psychologie – die Behavioristen gab es ja weiterhin – in den 1960er Jahren gegeben hat:

„Die Aufgabe eines Psychologen, der versucht, menschliches Erkenntnisvermögen zu verstehen, ist mit derjenigen vergleichbar zu wissen, wie ein Computer programmiert ist – insbesondere dann, wenn das Programm Informationen speichert und abruft und er wissen möchte, durch welche „Routinen“ oder „Prozeduren“ dies geschieht. Wenn dies so ist, ist es ihm egal, ob sein spezieller Computer Informationen in Magnetkernen oder auf Microfiches speichert; er möchte das „Programm“ verstehen, nicht die „Hardware“. Genauso würde es dem Psychologen nicht helfen zu wissen, dass das Gedächtnis durch die RNA im Gegensatz zu einem anderen Medium repräsentiert wird. Er möchte seine Verwendung verstehen, nicht das Medium. (Neisser 1967: 6; Übersetzung durch die Verfasser)“

Neisser nimmt hier bereits die großen Fragen des Computational Approach, beispielsweise die Konstruktion intelligenter „sehender“ Maschinen von David Marr (1945–1980) vorweg, die erst in den 1980er Jahren von ihm popularisiert werden. Marr trennt in seinem algorithmischen Ansatz zur visuellen Wahrnehmung, genau wie von Neisser angedacht, die Prozedur, den Algorithmus, von seiner Implementierung und postuliert, dass die psychologische Theorie fertig ist, sobald der Algorithmus gefunden ist. Die Implementierung in Hardware oder Software ist dann die Aufgabe der Ingenieure. Die mit Marrs Einsichten verbundenen Hoffnungen, rasch Maschinen bauen zu können, die sehen oder gar denken können, haben sich allerdings bis heute nicht erfüllt. Weit über einige bemerkenswerte special-purpose machines(beispielsweise elektronische Chips, mit denen man Autos aufgrund einer Gedankentätigkeit lenken kann) sind wir noch nicht hinausgekommen; man denke an den eingangs erwähnten „intelligenten“ Staubsauger, der einmal am Tag die Wohnung saugt und dann an die Ladestation zurückkehrt, oder an den Großrechner, der einen Schachgroßmeister schlagen kann.

Die nächsten Kapitel von Neissers Buch Cognitive Psychology(1967) beschäftigen sich insbesondere mit visueller und auditiver Kognition. Dabei legt er die grundlegenden Konzepte dar, die bis heute die einführenden Lehrbücher der allgemeinen Psychologie füllen. Dazu gehören etwa Ausführungen zum ikonischen und echoischen Gedächtnis, zur Musterverarbeitung und Objekterkennung. Parallel zu Neissers weitsichtiger Analyse hat sich der Eingang der Nachrichtentechnologie und des Informationsbegriffs in die Psychologie auf fast alle Bereiche ausgedehnt, zum Beispiel der Begriff der Kanalkapazität, also die Menge und die Geschwindigkeit von Information, die entweder seriell innerhalb eines Kanals (etwa des visuellen) oder parallel in mehreren Kanälen absorbiert und verarbeitet werden kann. Für das sensorische Register stellte man fest, dass etwa fünf Bytes aufgenommen werden, wenn ein Reiz wenige Millisekunden lang gezeigt wurde. In der Gedächtnispsychologie hat George Miller (geb. 1920) festgestellt (1956), dass das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr als sieben Bits speichern kann, wenn diese auch durch den Langzeitgedächtnisprozess des „Chunking“ fast beliebig erweiterbar sind. Auch in der Denkpsychologie ist die Computeranalogie nicht folgenlos geblieben. Es wurde versucht, viele Denkvorgänge nach dem TOTE-Schema zu erklären. Dabei handelt es sich um eine Programmschleife, die aus Test, Operate und Exit besteht und die universal einsetzbar ist. Interessanterweise haben Miller und Kollegen (Miller, Galanter & Pribram, 1960) die TOTE-Schleife ursprünglich als eine Art Reflexbogen gesehen und gehofft, so die behavioristischen und die informationstheoretischen Ansichten unter einen Hut bringen zu können (◉ Abb. 11.1).

Abb. 11.1
figure 1

TOTE-Einheit. Einlaufende Information wird auf eine Ist-Soll-Abweichung überprüft (TEST). Liegt eine Abweichung vor (–), so greift das System ein (OPERATE) und versucht, die Abweichung auszugleichen. Nach dem Eingriff wird wieder auf eine Abweichung überprüft (TEST) usw., bis Ist- und Sollzustand identisch sind. In diesem Fall (+) wird die TEST-OPERATE-Schleife beendet (EXIT) (adaptiert nach Miller, Galanter & Pribram, 1956).

Dessen ungeachtet lässt sich die kognitiven Wende (cognitive turn) allerdings wunderbar als eine wissenschaftlichen Revolution im Sinne Kuhns auffassen. Mit Chomskys vernichtender Kritik und Neissers kognitionspsychologischem Programm ist der behavioristische Ansatz nicht tot. Er ist nicht im Sinne Poppers falsifiziert. Auslöser der kognitiven Wende war nicht nur ein Versagen des behavioristischen Konzepts im Bereich Sprache und anderer komplexer Fähigkeiten, sondern auch ein Wechsel der Interessen der Forscher . Die kognitive Wende kam, anders als es heute im Rückblick naheliegt, nicht plötzlich, sondern zog sich über Jahrzehnte hin. Nach der Wende, im Zeitraum von 1979 bis 1988, wurden noch mehr Artikel in „behavioristischen“ als in „kognitiven“ Fachzeitschriften veröffentlicht. Diese Artikel wurden auch häufiger zitiert (Friman et al., 1993). Behavioristen waren also in den 1980er Jahren alles andere als ausgestorben. Heute gibt es auch außerhalb der klinischen Psychologie , in der mit der Verhaltenstherapie der Behaviorismus fest etabliert ist, immer noch stark behavioristisch ausgelegte Universitäten. Die Stony Brook University im US Bundesstaat New York etwa ist bis heute eine Hochburg des Behaviorismus.

4 Denkpsychologie

Die bedeutendste Errungenschaft der kognitive Wende ist vielleicht die Überwindung des behavioristischen Verzichts auf die Innenansicht, auf die psychologisch besonders anspruchsvollen Prozesse innerhalb der Black Box. Es war plötzlich wieder salonfähig, Denkpsychologie zu betreiben. So ist nicht verwunderlich, dass viele Studien zur Denkpsychologie seit den 1960er Jahren genau dort wieder anknüpften, wo die Gestaltpsychologen aufgehört hatten, aber die Themenwahl auf solche Gegenstände konzentrierten, die mit dem Begriffsapparat – um nicht zu sagen Strukturkern – der Informationstheorie besonders gut durchdrungen werden konnten. So entstanden etwa folgende Theorien zum logischen Schlussfolgern oder zu Wahrscheinlichkeitsurteilen:

  • Theorien zum deduktiven Schließen, zu denen etwa die der formalen Regeln (Henle, 1962) gehört und die besagt, dass Beweise anhand logischer Regeln konstruiert werden, indem sie in die formale Sprache der Logik übersetzt und nach Anwendung eines Schlussschemas wieder in Umgangssprache überführt werden.

  • Theorien zum Zustandekommen von Wahrscheinlichkeitsurteilendurch den Gebrauch von Heuristiken (Kahnemann, Slovic & Tversky, 1982), das später zu einem Zwei-Phasen-Modell ausgebaut wurde (Evans, 1989). Danach wird zunächst eine unbewusste Heuristik angewandt, die in einem zweiten Schritt einer bewussten analytischen Bewertung unterzogen wird.

  • Theorie der mentalen Modelle(Johnson-Laird, 2011), die besagt, dass wir in Form von mehr oder weniger visuellen Modellen denken und (logische) Probleme nicht rein verbal oder analytisch lösen. Dabei handelt es sich um sparsame anschauliche Modelle über Regeln, die in der Welt gelten.

Zur Theorie der mentalen Modelle nun ein Beispiel. Vier Prämissen beziehungsweise Informationen seien verbal gegeben:

  1. 1.

    Das Lineal ist rechts von der Uhr.

  2. 2.

    Der Hammer ist links vom Lineal.

  3. 3.

    Der Stift ist vor dem Hammer.

  4. 4.

    Die Schere ist vor der Uhr.

Danach ist die Frage zu beantworten, ob der Hammer rechts von der Uhr ist. Versuchen Sie es einmal, bevor Sie sich ◉ Abb. 11.2ansehen.

Abb. 11.2
figure 2

Das Modell von Johnson-Laird. Illustration der Theorie der mentalen Modelle: Einzelne Modelle wie in (A) werden zu möglichst sparsamen Modellen integriert (B). Die Existenz eines konsistenten Modells schließt nicht aus, dass weitere Modelle existieren (C) (adaptiert nach Johnson-Laird, 2011).

Nun, zu welchem Modell sind Sie gelangt? Wenn man keine weitere Information als die vier genannten Prämissen besitzt, ist die Aufgabe nicht eindeutig zu lösen. Trotzdem haben die allermeisten Versuchspersonen in aller Regel eine recht klare Antwort. Einige sagen mit Überzeugung, dass der Hammer nicht rechts von der Uhr ist, während andere ebenso überzeugt die Frage bejahen. Laut Johnson-Laird liegt dies daran, dass hier unterschiedliche mentale Modelle gebildet worden sind. Wie dies gehen kann ist in ◉ Abb. 11.2illustriert.

Dies soll genügen, um zu zeigen, wie befreiend die kognitive Wende für weite Teile der Psychologie gewirkt hat, denn solche Modelle wären im Behaviorismus nicht denkbar gewesen. Heute hat sich der etwas ausgedehntere Begriff der Kognitionswissenschaft (cognitive science) etabliert.

Erkenntnistheorie ist ein interdisziplinärer Versuch, die Natur der Intelligenz zu verstehen … (Evans, Newstead & Byrne, 1993: 7)

Den damit verbundenen Einsichten der kognitiven Wende folgt heute das Gros der Psychologen , die Grundlagenforschung betreiben. Kleinere Kursänderungen sind allerdings schon jetzt erkennbar. Bewusstsein war noch zu Beginn der kognitiven Wende ein Tabuthema, und es wäre damals undenkbar gewesen, es experimentell untersuchen zu wollen. Es ist inzwischen nicht nur salonfähig geworden, sondern hat sich geradezu als Mode etabliert. Es gibt bereits eine internationale Gesellschaft namens Association for the Scientific Study of Consciousness, der Philosophen, Neurowissenschaftler und Psychologen angehören. Wir sehen auch einen Neurotrend innerhalb der Kognitionspsychologie, denn es ist heute schwer, wenn nicht unmöglich, breite Anerkennung für eine kognitive Theorie zu gewinnen, ohne neurowissenschaftliche Evidenz mitzuliefern. Dennoch befinden wir uns weiterhin im Zeitalter des Kognitivismus.

Am Rande sei noch bemerkt, dass sich die Gestalttheorie als einzige große Theorie, als einziges Paradigma, ein ganzes Jahrhundert gehalten hat. Auch wenn ihre Vertreter nicht immer im Rampenlicht standen, so hat es dennoch eine kontinuierliche Tradition dieses Ansatzes gegeben, der besonders in der allgemeinen Psychologie neben den Informationsverarbeitungsansätzen seinen Platz in den Lehrbüchern gefunden hat.

5 Zusammenfassung

Wenn man den abrupten Wandel von den komplexen Theorien des seelischen Erlebens und Verhaltens am Ende des 19. Jahrhunderts (z. B. William James) oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts (z. B. Wolfgang Köhler) zum rein verhaltensorientierten Paradigma des Behaviorismus betrachtet, lässt sich Kuhns Paradigmenbegriff hervorragend anwenden. Wir haben die Methode des klassischen Konditionierens vorgestellt, die den biologischen Aspekt des Assoziationslernens anhand bestehender Reflexe, unkonditionierter Reaktionen, beschreibt. Der Neobehaviorismus behält es bei, alles subjektive Erleben aus dem Gegenstandsbereich der Psychologie zu verbannen und allein das Verhalten zu betrachten. Die Methode des operanten Konditionierens ist allerdings nicht mehr biologisch aufzufassen, sondern durch das Konzept der Verstärkung durch Belohnung und aversive Reize genuin psychologisch ausgerichtet. Wir kennen keinen Gestaltpsychologen, der zum Behaviorismus bekehrt worden wäre. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg lediglich stiller um das Gestaltparadigma, und der Behaviorismus rückte ins Rampenlicht bis hin zu seiner Rolle als heilbringende Technologie für einen gesellschaftlichen Wandel.

Der Behaviorismus wird mit der kognitiven Wende vom Informationsverarbeitungsparadigma abgelöst. Die ebenso dramatische, wenn auch weniger abrupte Wiederentdeckung des Erlebens – gespeist durch Erkenntnisse der Informationstheorie und Nachrichtentechnik – lässt Kuhns Deutung der Ereignisse vollends überzeugend erscheinen. Grob gesagt und ungeachtet aller potenziellen postmodernen Bestimmungsversuche befinden wir uns heute immer noch im Paradigma des Informationsverarbeitungsansatzes. Es zeichnet sich allerdings eine zeitgenössische Tendenz ab, von der noch nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob sie sich zu einem neuen Paradigma entwickelt oder vielleicht schon entwickelt hat, nämlich die Neurokognition. Deren komputationale Seite in Gestalt des Konnektionismus werden wir uns in ▶ Kap. 13näher anschauen. Doch zuvor betrachten wir die neuropsychologischen Fortschritte und die durch sie angestoßene Wiederentdeckung des Bewusstseinsproblems.