Zusammenfassung
Man spricht oft von Naturgesetzen. Was bedeutet dieser Ausdruck? Gewöhnlich wird man der Meinung begegnen, die Naturgesetze seien Regeln, nach welchen die Vorgänge in der Natur sich richten müssen, ähnlich den bürgerlichen Gesetzen, nach welchen die Handlungen der Bürger sich richten sollen. Einen Unterschied pflegt man darin zu sehen, daß die letzteren Gesetze auch übertreten werden können, während man Abweichimgen der Naturvorgänge von ersteren für unmöglich hält. Diese Auffassung der Naturgesetze wird aber erschüttert durch die Überlegung, daß wir ja nur aus den Naturvorgängen selbst die Naturgesetze ablesen, abstrahieren, und daß wir hierbei vor Irrtümern durchaus nicht gesichert sind. Selbstverständlich läßt sich dann jede Durchbrechung der Naturgesetze durch unsere irrtümliche Auffassung erklären, und die Vorstellving von der Unverbrüchlichkeit dieser Gesetze verliert jeden Sinn und Wert. Wird einmal die subjektive Seite unserer Naturauffassung hervorgekehrt, so gelangt man leicht zu der extremen Ansicht, nach welcher unsere Anschauung und unsere Begriffe allein der Natur Gesetze vorschreiben. Betrachten wir aber imbefangen das Werden der Naturwissenschaft, so sehen wir deren Ursprung darin, daß wir an den Vorgängen zunächst die Seiten beachten, welche für uns unmittelbar biologisch wichtig sind, und daß später erst unser Interesse auf die mittelbar biologisch wichtigen Seiten der Vorgänge fortschrietend sich weiter ausdehnt.
(Aus „Erkenntnis und Irrtum“, 4. Auflage, 19201)
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Literatur
K. Pearson, The Grammar of Science, 2nd edition, London 1900, p. 87.
E. Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen. Eine optimistische Philosophie. Leipzig 1904.
J. Lubbock, Die Entstehung der Zivilisation. Jena 1875, S. 399.
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Mach, E. (1964). Sinn und Wert der Naturgesetze. In: Ernst Mach. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-7091-8112-6_21
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