Zusammenfassung
Die Vertreter der modernen Krankheitstheorien, etwa der Relationspathologie, der Neuralpathologie oder der Lehre von den Adaptationskrankheiten, behaupten in der Regel, die klassischen Krankheitstheorien seien veraltet und unrichtig. Das muß bestritten werden, denn alle großen Krankheitstheorien in der Geschichte der Medizin haben einen auch heute noch gültigen richtigen Kern. Die Humoralpathologie lebt in Form der modernen physiologischen Chemie, die Organpathologie ist immer noch die Grundlage unserer Lehrbucheinteilungen, die Zellularpathologie ist unentbehrlich, wie schon die Bedeutung der Keimzellen für Zeugung und Erbkrankheiten und die Aufgaben der Leukozyten, losgelöst vom Gewebe und ohne Verbindung zum Nervensystem, beweisen. Diese alten Lehren treffen zu in ihren positiven Aussagen, sie irren durch das, was sie verschweigen, durch ihren Totalitätsanspruch. Die gleiche Einseitigkeit zeigen die modernen Krankheitstheorien. Die Neuralpathologie behauptet zu Unrecht, das Nervensystem sei stets die erste Ursache des Krankheitsgeschehens. Nervensystem, Säfte und Zellen sind Fiktionen, durch das analytische Denken aus der Einheit des Lebens herausgelöst. Könnten wir wirklich Nerven, Säfte und Zellen trennen, so wären sie sämtlich tot; erst gemeinsam bewirken sie Leben und Krankheit. Von diesen Systemen hat keines das unbedingte Primat, sie sind in Funktionskreisen miteinander verbunden, bei denen jedes Glied im Prinzip Anfang und Ende sein kann. Der Totalitätsanspruch dieser Systeme beruht u. a. auf dem Analogieprinzip, dem Satze „Gleiche Ursache — gleiche Wirkung“. Dieser Satz trifft in der Physik zu, in der Ursache und Wirkung genau meßbar und in ihrer Größe einander proportional sind. Im lebenden Organismus besteht nicht die einfache Beziehung Ursache — Wirkung, sondern die Beziehung Reiz — Reaktion. Zwischen Reiz und Reaktion ist die wechselvolle Reaktionsfähigkeit des Organismus eingeschaltet. Deshalb können gleiche Ursachen (Reize) verschiedene Wirkungen (Reaktionen) haben, anderseits unterschiedliche Reize die gleiche Reaktion auslösen. Es wird auf die Lehre Johannes Müllers von der „spezifischen Energie“ hingewiesen, die wir heute als spezifische Potenzen des Organismus bezeichnen würden. Auch wird die Bedeutung der „Auslösung“ im Sinne von J. R. Mayer betont, bei der kleinste Reize große Reaktionen hervorrufen können.
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Hoff, F. (1955). Kritische Erörterung der modernen Krankheitstheorien. In: Arzt, L. (eds) Achte Österreichische Ärztetagung Salzburg. Österreichische Ärztetagung, vol 8. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-7091-5071-9_2
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