Zusammenfassung
Faßt man den Menschen im Sinne der zeitgenössischen Anthropologie als ein nach eigengedanklichen Entwürfen handelndes Wesen auf, so ist der mit dem Wort „Denken“ bezeichnete Tatbestand keine autonome Funktion, durch die der Mensch eine nach außen abgeschlossene, eigengesetzliche Welt aufbaut. Vielmehr erweist sich Denken als integrierender Bestandteil aktiven Tätigseins. Es befähigt den Menschen, die Welt, in der er lebt, durch deren Widerstände hindurch er sein Leben gestalten muß, zielgerichtet zu verändern, wobei die Zielrichtung generell bestimmt ist durch die Grundforderung der optimalen Anpassung der äußeren Umstände an seine vitale Bedarfslage und seine erlebten Bedürfnisse, die er wenigstens innerhalb bestimmter Mindestgrenzen befriedigen muß, um zu überleben und sich, darüber hinaus, eine daseinserfüllte Welt aufzubauen.
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Anmerkungen
Vgl. J. Piaget, Psychologie der Intelligenz, Zürich 1948.
Von einer „Sonderstellung des Menschen in der Natur“ zu sprechen, dürfte indes nicht unproblematisch sein. Einmal bestehen hinsichtlich aller grundlegenden biologischen Funktionen weitgehende Übereinstimmungen zwischen dem Menschen und einer großen Zahl von Tierarten, zum anderen weisen die Ergebnisse der Tierpsychologie darauf hin, daß von prinzipiellen Unterschieden der Intelligenzleistungen des Menschen und gewisser höherer Tiere keine Rede sein kann, so groß diese Unterschiede graduell auch sein mögen. Auch für andere Lebewesen, nicht nur für den Menschen, ließe sich, je nach Wahl der Gesichtspunkte, eine„, Sonderstellung“ herausarbeiten. Was den Menschen auszeichnet, ist allerdings das spezifische Verhältnis zwischen unspezialisierten und hochspezialisierten Eigenschaften. Anthropologen haben in diesem Zusammenhang besonders auf die folgenden Tatsachenzusammenhänge hingewiesen, die geeignet sind, wenigstens in erster Näherung und ohne Aufklärung des fraglos verwickelten kausal-konditionalen Zusammenhanges die Natur des Menschen begreifbar zu machen:
Die organi.whe Unspezialisiertheit. L. Bolk hat die humanen Organprimitivismen auf endokrin bedingte Entwicklungsretardationen zurückgeführt und den fötalen Charakter der organischen Gesamtkonstitution des Menschen erkannt. Die Theorie Bolks legt von anderen untersuchte Zusammenhänge zwischen sensomotorischer Reifung, Jugendprolongation und funktioneller Gehirnkapazität des Menschen nahe.
Die „In8tinktreduktion“. Gemeint ist die Tatsache, daß der Mensch nur über rudimentäre, triebähnliche, aperiodisch wirksame „Instinktresiduen“ verfügt. Man kann mit Gehlen diesen Umstand mit einem Triebüberschuß des Menschen in Verbindung bringen und in der Entdifferenziertheit der instinktgesteuerten Antriebsstruktur eine wesentliche Bedingung des Zwanges zur künstlichen Ausdifferenzierung menschlicher Tätigkeit bis hin zu bewußten kulturschöpferischen Leistungen erblicken.
Die biotopische Undifterenziertheit. Mit den schon genannten Momenten hängt aufs engste zusammen, daß der Mensch in mannigfachen Biotopen lebensfähig ist, d. h. einen sogenannten offenen Ökotypus darstellt. Man hat hieraus eine Reihe plausibler Folgerungen gezogen. So verbindet sich nach Gehlen die behauptete menschliche „Umweltlosigkeit“ oder „Weltoffenheit“ (Scheler, Plessner) mit einer Reizüberflutung und damit Belastung des Menschen, die dieser, um zu überleben und sein Dasein zu sichern, nur dadurch teilweise aufzuheben vermag, daß er die „Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung“ umgestaltet: hier sei der Springpunkt für das Verständnis aller menschlichen Leistungen einschließlich des Aufbaues von Kultur, der vom Menschen „ins Lebensdienliche umgewandelten Natur“. Der breit angelegte Versuch Gehlens, sein „Entlastungsprinzip“ und den angeblich auf ihm ruhenden Bedingungszusammenhang zu begründen, dürfte jedoch der empirischen Kontrolle kaum standhalten. Indes kann nicht bestritten werden, daß sich in der ökologischen Nichtgebundenheit des Menschen, obgleich diese keineswegs total und uneingeschränkt ist, eine Eigenart ausdrückt, die in engen Beziehungen zur Differenziertheit und Plastizität menschlicher Kulturen steht.
Die cerebrale Spezialisiertheit. In der außerordentlichen Spezialisiertheit und der dadurch gegebenen funktionellen Kapazität des menschlichen Gehirns ist ein weiteres den Menschen determinierendes Moment zu erblicken. Erst die durch diese Kapazität ermöglichte Ersetzung der beim Tier überwiegenden „Erbmotorik“ durch eine weitgehende „Erwerbmotorik“ (Storch, Lorenz und andere) gewährt dem Menschen eine im Sinne seiner Daseinssicherung hinreichende Kompensation der organischen Mängel und des Fehlens verhaltenssteuernder Instinkte. Auch für die Phylogenie des Menschen dürfte der sich an die Bipediestufe anschließende, im Spätpleistocän einsetzende Prozeß der Cerebralisation (Keith, Heberer) von entscheidender Bedeutung sein. Obgleich direkte Proportionalität zwischen kranialer und funktioneller Gehirnkapazität allgemein nicht angenommen werden darf, geben doch die Messungen, die an eindeutig identifizierten, dem Tier-Mensch-Übergangsfeld (Heberer) entstammenden Schädelfunden angestellt wurden, einen anschaulichen Hinweis auf die zunehmende cerebrale Spezialisierung des Menschen.
Zum Inhalt and Umfang des Begriffs „Kybernetik“ vg!. K. Steinbuch, Was ist Kybernetik?, in: Kybernetik — Briicke zwischen den Wiesen¬schaften, Sonderdruck aus, Die Umschau in Wissenschaft und Technik“, Frankfurt/Main, 2. Aufl. 1962, p. 7–20
K. Steinbuch, Ober Kybernetik, in: Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, H. 118, Köln and Opladen 1963, p. 7–30
Bowie L. Couffignal, Kybernetische Grundbegriffe (Les Notions de Base), tibersetzt von S. W. Frank, Baden-Baden 1962.
Bei den Jahresangaben handelt es sich natürlich um Ungefährdaten.
Vgl. E. Schrödinger, What is Life ?, Cambridge 1944; deutsche Ausgabe Bern 1951 (2. Aufl.).
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Stachowiak, H. (1965). Einleitung. In: Denken und Erkennen im kybernetischen Modell. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-7091-3391-0_1
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