Zusammenfassung
Für Freud war der Ödipuskomplex in vieler Hinsicht das Kernstück der psychoanalytischen Theorie. Er sah in ihm das Zusammenlaufen universeller psychischer Strukturen, unbewußter persönlicher Bedeutungsträger und den Einfluß der Kraft des Begehrens, die vom Körper ausgeht. Das führte dazu, daß der Ödipuskomplex mehr als neunzig Jahre lang1 mit Fug und Recht im analytischen Denken eine zentrale Position eingenommen hat. In diesem Kapitel werde ich mein Hauptaugenmerk auf einen Aspekt des Ödipuskomplexes begrenzen, von dem ich glaube, daß er bisher zu den vergleichsweise vernachlässigten Teilen des analytischen Diskurses der frühen ödipalen Entwicklung gehört.
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Referenzen
Freud erörterte die Wichtigkeit der den Ödipuskomplex bildenden Ideen in seinem Brief an Fliess vom 15. Oktober 1897, verwendete den Begriff Ödipuskomplex in seinen Publikationen aber erst ab dem Jahre 1910.
Der Begriff der Phantasie über die Urszene bezieht sich auf eine Gruppe bewußter und unbewußter Phantasien, die den beobachteten elterlichen Geschlechtsverkehr zum Thema haben. Charakterisiert sind diese Phantasien durch ein unterschiedliches Maß an Primitivität, eine Reihe von Objektbeziehungsmodalitäten, verschiedene Formen und Intensitätsstufen der Identifikation mit jeder der in der Phantasie aufscheinenden Personen etc.
In der weiblichen Entwicklung gibt es an der Schwelle zum Ödipuskomplex psychische Schwierigkeiten, die sich überschneiden, die aber nicht identisch sind. Beispielsweise bringt eine Identifikation mit der Mutter zu diesem Zeitpunkt unausweichlich einen Zug zu primitiveren Wünschen mit sich, mit ihr eins zu sein (im Gegensatz zu ihr ähnlich sein). Eine Diskussion darüber, inwieweit die Phantasien über die Urszene dem kleinen Mädchen die Unterscheidung von ihrer ödipalen und präödipalen Mutter (ihren ödipalen und präödipalen Müttern) erleichtern beziehungsweise welche Rolle sie bei ihrem Erkennen, daß es Unterschiede in sexueller und generationsmäßiger Hinsicht gibt, spielen, sowie bei der Entwicklung des weiblichen Ödipuskomplexes, würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen.
Freud (1925, 1933) begann eine Konzeption der präödipalen Beziehung zwischen dem kleinen Mädchen und seiner Mutter zu formulieren, während er das zu verstehen versuchte, von dem er glaubte, daß es die zornige Zurückweisung der Mutter durch das kleine Mädchen an der Schwelle des Ödipuskomplexes war. „. . . Wir gewinnen die Überzeugung, daß man das Weib nicht verstehen kann, wenn man nicht diese Phase der präödipalen Mutterbindung würdigt“ (Freud, 1933, S. 127). Freud glaubte jedoch weiterhin, daß die präödipale Beziehung zwischen Mutter und Kind in der Entwicklung des Knaben nicht den großen Stellenwert hat wie in der Entwicklung des Mädchens (vgl. Laplanche und Pontalis, 1967).
Ich fasse mich kurz: Mit dem Begriff paranoid-schizoider Modus beziehe ich mich auf einen erfahrungsbildenden Modus, der charakterisiert ist durch (1) eine sehr begrenzte Fähigkeit, sich selbst als Schöpfer und Interpreten der eigenen Gedanken und Gefühle zu erleben; (2) eine Form der Symbolbildung, bei der das Symbol vom Symbolisierten kaum unterscheidbar ist („symbolische Gleichsetzung“, Segal, 1957); (3) Beziehung zu Teilobjekten; und (4) die Anwendung omnipotenten Denkens, der Spaltung und der projektiven Identifikation im Dienst der Abwehr und der Organisation von Erfahrung. (Siehe Kapitel 2 und Ogden, 1986, für eine weitere Ausführung des paranoid-schizoiden Modus.)
Lacan (1956– 1957) hat die Bewegung in der männlichen Entwicklung vom unvermittelten Gefühl, der Phallus zu sein (für den anderen) zur symbolisch vermittelten Erfahrung, einen Phallus zu besitzen, kommentiert.
Sowohl in der weiblichen als auch in der männlichen Entwicklung dient die Phantasie über die Urszene, selbst in ihren primitiven Formen, als wichtiger Behelf für die Schaffung der Dreiheit. Die mit Hilfe von Phantasien über die Urszene geschaffene Dreiheit scheint sich in ihrer Bedeutung bei der männlichen und weiblichen Entwicklung zu unterscheiden. Für den Knaben ist die Mutter als Objekt ödipalen Begehrens in ständiger Gefahr, durch seine Anhänglichkeit an die präödipale Mutter unterminiert zu werden (vgl. Stoller, 1973). Da es für das kleine Mädchen einen tatsächlichen Objektwechsel gibt, stellt die Unterminierung der Andersartigkeit des Objekts ödipalen Begehrens eine etwas geringere Bedrohung dar. Allerdings besteht in der weiblichen Entwicklung die Gefahr, daß die reife ödipale Identifikation des kleinen Mädchens mit ihrer Mutter kollabiert und es zu einer primitiven Art von Fusion mit der präödipalen Mutter kommt (vgl. Chodorow, 1978). Dies stellt für das kleine Mädchen eine psychische Gefahr dar, die im Rahmen der männlichen Entwicklung in gewisser Weise dem Zusammenbruch der ödipalen Mutter (als Liebesobjekt) zur präödipalen Mutter analog ist, sich von diesem jedoch anderseits auch eindeutig unterscheidet. Die Unterschiede zwischen diesen Formen psychischer Gefahr sind zum Teil für die unterschiedliche Art und Weise verantwortlich, mit der Phantasien über die Urszene in der weiblichen und männlichen Entwicklung verarbeitet und benutzt werden.
Der kleine Knabe wird mit einem Penis geboren, was nicht heißt, daß er mit einem Phallus geboren wird. Ersterer ist eine anatomische Struktur, letzterer ein Komplex symbolischer Bedeutungen, die der Knabe schließlich seinem Selbstgefühl als Mann im allgemeinen und der psychischen Repräsentation seines Penis im besonderen zumißt. Durch die Entwicklung der Fähigkeit, sich selbst phallische Bedeutung zuzuschreiben, kommt der kleine Knabe zu sexueller Befähigung. (Da Phallus und Penis nicht dasselbe sind, entwickeln Mädchen auf ähnliche Weise für sich selbst eine phallische Bedeutung im Bewußtsein ihrer Zeugungsfähigkeit, sexuellen Potenz, ihres Einflusses etc.)
Da jedes Kind das Unbewußte seiner oder ihrer Mutter auf verschiedene Weise benutzt, gibt es nicht zwei Kinder, die dieselbe Mutter haben.
Die psychische Entwicklung wird abgekürzt, wenn allzu sexualisierte Objektbeziehungen zwischen Mutter und Sohn dazu führen, daß der kleine Knabe sein Erwachsenwerden in illusionärer Weise als einen durch omnipotente Wünsche gesteuerten magischen Prozeß erlebt. Dies steht im Gegensatz dazu, wie üblicherweise der Prozeß des Erwachsenwerdens empfunden wird, nämlich als ein allmählicher, in dessen Verlauf man auf der Grundlage objektbezogenen Erlebens lernt und sich in langsamen physischen und psychischen Reifungsprozessen entwickelt. Zu einer Abkürzung der Entwicklung, die zu einer Hypertrophie omnipotenten Denkens führt, kommt es in der Folge eines tatsächlichen Inzests und wenn eine sexualisierte folie à deux in die von Mutter und Sohn geteilte Überzeugung mündet, daß es ihnen gelungen ist, ein Eheverhältnis zu schaffen, das den Anderen ausschließt.
Ich verwende den Terminus „pervers“ zur Bezeichnung von jenen Erscheinungsformen der Sexualität, die dazu verwendet werden, die Trennung äußerer Objekte und sexuellen Unterschiedes zu verleugnen und die solcherart mit der Ausbildung der depressiven Position in Konflikt geraten (vgl. McDougall, 1986).
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Ogden, T.H. (1995). Die Schwelle des männlichen Ödipuskomplexes. In: Frühe Formen des Erlebens. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-7091-3342-2_6
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