4.1 Die Pflegebeziehung

Pflegebeziehungen, bei denen pflegende Angehörige beteiligt sind, werden von Betreuungspersonen immer wieder als problematisch bezeichnet. Um diese Problematik einer positiven Lösung zuführen zu können, ist es notwendig, den Hintergrund dieser Beziehungen zu betrachten.

Eine 80-jährige Ehefrau pflegt ihren 86-jährigen Ehemann.

In diesem Fall muss bedacht werden, dass das Ehepaar wahrscheinlich etwa 40–60 Jahre verheiratet ist und eine sehr enge Zweierbeziehung (= Diade ) pflegt. Viele Höhen und Tiefen des Lebens wurden gemeinsam gemeistert. Ein weiterer Punkt: Die Ehefrau benötigt womöglich selbst schon Unterstützung, wie z. B. in der Haushaltsführung. Der Betreuungsaufwand steigert sich häufig schleichend. Es beginnt mit der Hilfestellung beim Zuknöpfen des Hemdes bis hin zum kompletten Anziehen. Zu guter Letzt bedarf es dann auch noch der Unterstützung bei der Körperpflege.

Eigene Bedürfnisse können von der Ehefrau immer weniger wahrgenommen werden, es kommt zur Überforderung auf beiden Seiten. Das könnte in diesem Beispiel folgendermaßen aussehen.

Eine 80-jährige Ehefrau pflegt ihren 86-jährigen Ehemann seit 3 Jahren.

Probleme der Ehefrau

Probleme des Ehemanns

Verlust von Bekanntschaften, da das Haus nur mehr selten verlassen wird

Kontakte zur Außenwelt reduzieren sich

Angst vor Versagen

Angst, zur Last zu fallen

Finanzielle Sorgen

Erleben von Abhängigkeit

Angst, den Ehemann zu verlieren

Angst, dass die Ehefrau krank werden könnte (Was tue ich, wenn meine Frau ins Krankenhaus muss?)

Angst, selbst krank zu werden

Hemmungen, Bedürfnisse zu äußern

Vernachlässigung eigener Bedürfnisse und Interessen

Der Ehemann „bestimmt“ den Alltag

Die Ehefrau „bestimmt“ den Alltag

Ein Burnout zeichnet sich ab

Ein Gefühl der Hilflosigkeit und Abhängigkeit entsteht

In dieses Gefüge tritt nun eine dritte Person in Form der professionellen Pflegekraft, die ihren Einsatz leistet. Aus der Zweierbeziehung (Diade) entwickelt sich eine Dreierbeziehung, Triangulierung genannt (in der Entwicklungspsychologie wird das Dazwischentreten des Vaters in die enge diadische Mutter-Kind-Beziehung Triangulierung genannt).

Die „Kunst“ der professionellen Pflegekraft besteht jetzt also darin, sowohl zum Klienten, als auch zur pflegenden Angehörigen durch das schrittweise Herstellen von Vertrauen eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Würde sich die Beziehungsarbeit der professionellen Pflegekraft hauptsächlich auf den Klienten konzentrieren, fühlte sich die pflegende Angehörige ausgeschlossen. Zusätzlich zur bestehenden psychischen Problematik fühlt sich die Angehörige ausgegrenzt, es können Gefühle wie Eifersucht auftreten. Die pflegende Angehörige ist aber eine wichtige Hilfe als Informationsquelle in Bezug auf Rituale und Gewohnheiten. So kann sie sich als Individuum verstanden und akzeptiert wahrnehmen und Schritt für Schritt aus dieser engen Pflegebeziehung lösen.

Wichtig ist jedoch, dass die professionelle Pflegekraft Pflegetechniken anwendet, bei denen die pflegende Angehörige nicht mithelfen muss aber kann, falls es ihr wichtig ist. Nur so kann sie die Betreuung als Entlastung erfahren. Jetzt hat die Angehörige die Möglichkeit, die gewonnene Zeit für sich selbst zu nützen und z. B. die Zeitung lesen, während die professionelle Pflegekraft ihren Einsatz leistet.

Es ergibt sich folgendes Bild:

Eine 80-jährige Ehefrau pflegt ihren 86-jährigen Mann seit 3 Jahren und eine professionelle Pflegekraft hilft zusätzlich bei der Versorgung, es kommt zum Vertrauensaufbau.

Vorteile für die Ehefrau

Vorteile für den Ehemann

Zeit für die Selbstpflege

Professionelle Betreuung

Entlastung

Gewinnung von Abstand im Rahmen der Pflegebeziehung

Eigene Bedürfnisse wahrnehmen können

Gewinnung von Abstand im Rahmen der Pflegebeziehung

In einer persönlichen bzw. intimen Beziehung ist es besonders schwierig, Partnerin und Pflegende zu sein. Häufig kommt es unweigerlich zu Rollenkonflikt en!

Wenn man als Pflegende bzw. Betreuende in einen Haushalt kommt, ist es wichtig, sich abgrenzen zu können. Der erste Eindruck, den man gewinnt, darf nicht gewertet werden, da man den Hintergrund der Familiengeschichte nicht kennt. Die Betreuung und Pflege steht im Vordergrund, nicht die Beurteilung der persönlichen Lebenssituation der zu betreuenden Person.

Auch wenn die Pflegekraft die vorgefundene Lebenssituation für sich selbst nicht vorstellen kann, ist die Situation so zu akzeptieren wie sie ist. Bei körperlicher Verwahrlosung, hygienischen Missständen bzw. bei körperlicher und/oder psychischer Gewalt gegen den Kunden gilt es jedoch Maßnahmen zu ergreifen. Zunächst werden die verantwortlichen Personen im Team informiert, um gemeinsam in Absprache mit dem Kunden und den jeweils zuständigen Entscheidungsträgern die weitere Vorgangsweise zu planen.

Bei Familiengeschichte n kann man die unterschiedlichsten Varianten kennenlernen. Die idealste ist die, in der während der Partnerschaft zeitlebens liebevoll miteinander umgegangen wurde. Probleme können hier auftreten, wenn ein Partner selbst altersschwach bzw. krank wird und eine umfangreiche Betreuung benötigt. Kinder, die mitten im Berufsleben stehen oder mittlerweile selbst eine Familie gegründet haben, können oftmals nur die abendliche und/oder die Betreuung am Wochenende übernehmen.

Familiäre Probleme, die in der Lebensgeschichte verankert sind, wirken sich oft auf die Beziehung zu pflegenden Angehörigen aus. So stellt sich in diesem Zusammenhang oft die Frage des Vertrauens sowie der Würde und Wertschätzung. Das Fachpersonal ist in diesem Fall angehalten, der Grundproblematik viel Einfühlungsvermögen entgegenzubringen. Begleitung und Beratung der betroffenen Personen können Erleichterung schaffen.

In diesem Zusammenhang möchten wir auch anmerken, dass professionell Pflegende und Betreuende nicht das Recht haben, in die Familiengeschichte einzugreifen bzw. diese zu werten. Die Familie und das persönliche Umfeld sind der intimste Bereich, den der Mensch besitzt. Das Fachpersonal ist „zu Gast“ bei der jeweiligen Familie und leistet in diesem Rahmen eine Dienstleistung, welche vertraglich geregelt ist. Die Kunden bzw. die pflegenden Angehörigen erwarten, dass sich die professionelle Pflegekraft in die sogenannte „Institution Privathaushalt“ einfindet und anpasst. Der grundlegende Tagesablauf wird den Ritualen und Gewohnheiten der Kunden entsprechend gestaltet, die Pflegefachkraft muss sich nach Möglichkeit darauf einstimmen. Ebenso sind die persönlichen Abläufe und Gegebenheiten der pflegenden Angehörigen zu akzeptieren, Änderungen sind nur nach Absprache möglich.

Bei familiären Problemen wird nur dann eingegriffen, wenn diese pflege- bzw. betreuungsrelevant sind oder wenn eine Eigen- bzw. Fremdgefährdung des Kunden bzw. dessen pflegenden Angehörigen besteht.

Familiäre Probleme sind zumeist verdeckte Probleme. Sie sind dem Klienten und dessen Angehörigen sehr unangenehm, deshalb fällt es ihnen auch oft schwer, darüber zu sprechen. Durch genaue Beobachtung im Rahmen der Betreuung und Pflege gibt es jedoch diverse Hinweise, welche verdeckte Probleme vermuten lassen. Strukturierte Fallbesprechungen und Pflegevisiten helfen dabei, die Relevanz der Abklärung zu entscheiden.

Das Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz hat eine österreichweite Plattform (www.pflegedaheim.at) für pflegende Angehörige geschaffen, ebenso wurden viele weitere Initiativen im Bereich pflegender Angehöriger ins Leben gerufen, z. B. Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger in den jeweiligen Bundesländern, Selbsthilfegruppen und Gesprächsrunden zum Erfahrungsaustausch Betroffener. Professionelle Dienstleitungsanbieter bieten Beratungsangebote und Kurse für pflegende Angehörige an.

4.2 Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige

Schon immer und weltweit gab und gibt es pflegende Kinder und Jugendliche, oftmals auch als Young-Carers bezeichnet. In Ländern wie Großbritannien, Australien und den USA beschäftigt man sich schon länger mit dieser Situation. In Österreich hingegen rückte erst jetzt eine im Auftrag vom Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz durchgeführte Studie des Institutes für Pflegewissenschaft der Universität Wien (www.bmask.gv.at) dieses Thema in den Blickpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Bisher ist weltweit keine Studie bekannt, die sich dieser Thematik über einen direkten Zugang zu den pflegenden Kindern und Jugendlichen gewidmet hat.

Befragt wurden pflegende Kinder und Jugendliche in Wien und Niederösterreich. Die Ergebnisse, umgelegt auf Gesamtösterreich, ergaben eine unvorstellbare Zahl von etwa 42.700 pflegenden Kindern und Jugendlichen in unserem Land. Als pflegende Kinder und Jugendliche sind Menschen vom 5. bis zum 18. Lebensjahr gemeint, wobei damit die Pflegetätigkeit nicht endet, sondern über diese Alter hinaus fortgesetzt wird, nötigenfalls bis zum Tod des nahen Angehörigen.

Diese jungen Menschen helfen sowohl im Haushalt, bei der Geschwisterbetreuung und eben auch bei der Pflege wesentlich mehr als gleichaltrige unbelastete Kinder. Bei bereits bestehender Erkrankung eines Familienmitgliedes wachsen sie gleichsam in die pflegende Rolle hinein. Zuerst sind die pflegenden Kinder und Jugendlichen stolz helfen zu dürfen, später können sie es sich nicht mehr anders vorstellen.

Zu betonen ist, dass fast ¾ der pflegenden Kinder und Jugendlichen Mädchen sind. Ein Teil von diesen Kindern hilft bis zu fünf Stunden pro Tag.

Zu ihren pflegenden Tätigkeiten befragt, gaben sie folgende Aufgaben an:

  • Essen und Trinken bringen und bei der Einnahme unterstützen

  • Medikamente bringen und bei der Einnahme unterstützen

  • Beim Aufstehen oder Gehen behilflich sein

  • Falls erforderlich, den Rollstuhl schieben

  • In der Nacht Hilfe leisten, wie z. B. etwas bringen oder umlagern

  • Amtliche Briefe und Mails verfassen

  • Bei Sprachproblemen Übersetzungstätigkeiten bei Arztbesuchen und Amtsangelegenheiten

Die Pflegetätigkeit wirkt sich oftmals auf ihre psychische und physische Gesundheit sowie auf die Sozialkontakte aus. Sie leiden deutlich häufiger unter Beschwerden wie Müdigkeit, Schlafproblemen, Rücken- und/oder Kopfschmerzen. Sie machen sich Sorgen, sind traurig und hätten gerne jemandem zum Reden. Es fehlt ihnen an Zeit, Freundschaften zu pflegen oder ausreichend für die Schule zu lernen. Positiv hingegen bewerten die Betroffenen, dass sie sich reifer und erwachsener als nicht pflegende Gleichaltrige empfinden.

Ehemals pflegende Kinder und Jugendliche, heute Erwachsene, berichten je nach dem Zeitraum und Grad der Miteinbeziehung in die Pflege von physischen und psychischen Spätfolgen. Im Laufe der Zeit wurde ihnen bewusst, dass sie ihre Kindheit nicht altersgerecht erleben durften. Aus dieser Erfahrung ist ihnen aber eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit Problemen im Erwachsenenalter geblieben, so wie sie sich insgesamt dem Leben heute gewachsen fühlen. Nach wie vor sind sie bereit, Verantwortung sowohl im Privat- als auch im Berufsleben zu übernehmen. Auffallend viele von ihnen sind in helfenden Berufen wie z. B. in der Pflege, Medizin, Feuerwehr oder Polizei tätig.

Diese Studie hat die pflegenden Kinder und Jugendlichen mit Hilfe der Medien aus ihrem Schattendasein in das Bewusstsein der Öffentlichkeit geholt. Damit ist es aber nicht getan, die Betroffenen müssen tatkräftig unterstützt werden:

  • Sie benötigen altersgerechte Informationen über die Krankheit ihres Familienangehörigen.

  • Menschen aus dem nahen Umfeld, wie etwa Freunde, Verwandte oder Bekannte, sollen ihnen als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.

  • Sie müssen bei ihrer pflegerischen Tätigkeit und im Alltag durch dementsprechende Hilfsangebote von außen unterstützt werden.

  • Sie sollten auch Zeiträume haben, in denen sie einfach nur Kind sein dürfen.

Gezielte Maßnahmen können pflegenden Kindern und Jugendlichen Ängste und Unsicherheiten nehmen, damit würde ihr Leben in Zukunft massiv erleichtert und kindgerechter werden.

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