1 Zwangsstörung

1.1 Allgemeines

Epidemiologischen Studien zufolge beträgt die durchschnittliche Lebenszeitprävalenz der Zwangsstörung bei Erwachsenen der Allgemeinbevölkerung ca. 2,5 %. Die Punktprävalenz liegt bei etwa 1,5 %. Bei der Zwangsstörung finden sich keine Geschlechterunterschiede in den Häufigkeitsraten.

Die Ätiopathogenese der Zwangsstörung ist multifaktoriell. Nachfolgende Teilursachen sind zu beachten:

  • Einfluss genetischer Faktoren: Es wurden bislang nur wenige methodisch hochwertige Untersuchungen zur Rolle der Genetik bei der Zwangsstörung durchgeführt. Klassische Familienstudien ergaben, dass im Mittel 7 % der Angehörigen ersten Grades von zwangsgestörten Patienten gleichfalls die Kriterien für die Zwangsstörung erfüllten. Die Konkordanzrate für die Zwangsstörung ist bei eineiigen Zwillingen höher als bei zweieiigen Zwillingen (33 % versus 7 %).

  • Störungen der Neurotransmission: Die Serotoninhypothese der Zwangsstörung beruht auf der hohen Wirksamkeit von Clomipramin als einem potenten nichtselektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer sowie von selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren in der Behandlung von Zwangssymptomen.

  • Somatische Faktoren: Somatische Erkrankungen, welche die Basalganglien mitbetreffen, führen gehäuft zu Zwangssymptomen. Hierbei sind u. a. zu nennen:

    • Enzephalitis lethargica Economo als primäre Virusmeningoenzephalitis mit postenzephalitischem Parkinson-Syndrom und oftmals zusätzlichen Zwangssymptomen;

    • Gilles-de-la-Tourette-Syndrom mit einfachen motorischen Tics (z. B. Augenblinzeln), einfachen verbalen Tics (z. B. Ausstoßen von Lauten), komplexen motorischen Handlungen (z. B. Echopraxie), komplexen vokalen Äußerungen (z. B. Echolalie, Koprolalie) und oftmals zusätzlichen Zwangssymptomen;

    • Chorea minor Sydenham als Folgekrankheit einer Infektion mit pyogenen, hämolytischen Streptokokken der Gruppe A mit choreatischer Symptomatik und häufig zusätzlichen Zwangssymptomen.

  • Psychodynamische Faktoren: Der Zwangsstörung soll ein Trieb-Überich-Konflikt zugrunde liegen. Beispielsweise werden unbewusste Triebregungen wie Onanieimpulse vom Patienten als schamhaft bzw. als sozial nicht akzeptabel erlebt. Er verdrängt sie, indem er einen Waschzwang entwickelt. Der Waschzwang symbolisiert das Abwaschen der Schuldgefühle.

  • Lerntheoretische Faktoren: Zwangssymptome basieren auf gelerntem Verhalten. Mittels klassischer Konditionierung entsteht aus einem neutralen Reiz (z. B. Schmutz) ein konditionierter Reiz, sodass der Kontakt mit Schmutz Angst auslöst. Durch operante Konditionierung lassen sich Generalisierung von konditionierten Stimuli (z. B. der bloße Gedanke an Schmutz) und Vermeidungsverhalten (z. B. Waschzwang) erklären.

  • Persönlichkeitsfaktoren: Die Primärpersönlichkeit des zwangsgestörten Patienten trägt sehr häufig abhängige und ängstliche Züge.

1.2 Klinik

Es entwickelt sich progressiv ein Zwang, bestimmten Gedankengängen zu folgen oder bestimmte Handlungen auszuführen, obgleich deren mangelnder Sinn dem Patienten klar ist. Vielfach werden die Zwangsantriebe oder Zwangsideen als unerwünscht und persönlichkeitsfremd (Ich-dyston) erkannt. Sie verselbstständigen sich mehr und mehr, beherrschen den Patienten bald vollständig, ohne dass dieser eine Möglichkeit sieht, sich dagegen zu wehren oder die zwanghaften Handlungsrituale zu unterbrechen. Beim Versuch, den Zwängen zu widerstehen, treten panikartige Angst, Ekel oder starkes Unwohlsein auf. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen haben etwas Magisches: Wie mit einer Beschwörungsformel oder einem Zauberritus soll etwas Befürchtetes neutralisiert werden.

In einer psychopathologischen Betrachtungsweise sind nachfolgende Zwangssymptome voneinander zu unterscheiden:

  • Zwangsgedanken („Obsessionen“): Ideen, Denkinhalte, Vorstellungen, Bilder oder Impulse, die sich dem Patienten immer wieder aufdrängen, gleichzeitig aber von diesem als unsinnig, Ich-dyston und quälend erlebt werden. In diesem Kontext ist auch der Grübelzwang oder die Grübelsucht zu nennen. Hierunter wird ein nicht enden wollendes, stereotypes Fragen („Ruminationen“) verstanden, das teils banalen, teils philosophischen Inhalts ist. Die häufigsten Inhalte von Zwangsgedanken sind sozial beschämende aggressive Vorstellungen, Ansteckung, Kontrolle und verbotene sexuelle Fantasien.

Beispiele

  • Impuls, das eigene Kind mit dem Auto zu überfahren

  • Vorstellung, sich durch Händeschütteln zu beschmutzen oder anzustecken

  • Quälender Zweifel, die Wohnungstür richtig abgeschlossen zu haben

  • Vorstellung, während des Gottesdienstes blasphemische Äußerungen laut von sich geben zu müssen

  • Zwangshandlungen („Kompulsionen“): Stereotyp gegen einen inneren Widerstand durchgeführte Handlungen oder Rituale. Zwangshandlungen führen beim Patienten zu einer, wenn auch nur vorübergehenden Reduktion von Angst, Ekel oder Unwohlsein. Wird der Patient an der Ausführung von Zwangshandlungen gehindert, kommt es zu einem exzessiven Anstieg von Angst, Ekel oder Unwohlsein. Nach Marks (1987) sind die häufigsten Zwangshandlungen Waschzwänge (51 %), Wiederholungs- und Zählzwänge (40 %) sowie Kontrollzwänge (38 %). Seltener sind Ordnungszwänge (9 %) sowie Sammel- und Hortzwänge (2 %). Eine Reihe von Patienten leiden unter mehreren Arten von Zwangshandlungen gleichzeitig.

Beispiele

  • Angst vor Beschmutzung, Kontamination oder ekelerregenden Sekreten führt zum Waschzwang mit unsinnig oft wiederholtem Händewaschen und Duschen, gelegentlich bis hin zu schweren Hautschädigungen.

  • Beim Zählzwang werden pausenlos Autos, Hausnummern, Pflastersteine auf der Straße usw. gezählt.

  • Befürchtungen, das Haus könne abbrennen, die Wohnung könne überschwemmt werden usw., finden sich beim Kontrollzwang. Hierbei wird immer wieder überprüft, ob die Türen, Fenster oder Wasserhähne zu, die Küchengeräte und Lichtschalter ausgeschaltet sind.

  • Beim Ordnungszwang werden Kugelschreiber, Bleistifte und Radiergummis nach einer ganz bestimmten Ordnung auf dem Schreibtisch immerzu arrangiert.

  • Beim Hortzwang („Messie-Syndrom“) werden unzählige Lebensmitteldosen als Vorrat gesammelt.

Im angloamerikanischen Sprachraum heißt die Zwangsstörung bezeichnenderweise „obsessive-compulsive disorder“ (OCD).

Die Erstmanifestation der Zwangsstörung liegt in der Regel in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter. Immerhin ein Drittel aller Fälle erkranken bereits vor dem 15. Lebensjahr. Männer bzw. Buben erkranken früher als Frauen bzw. Mädchen. Der Beginn ist zumeist schleichend. Es besteht eine hohe Neigung zur Chronifizierung. Spontanremissionen sind die Ausnahme. Da sich die Betroffenen ihrer Zwänge schämen, versuchen sie, diese vor den anderen zu verheimlichen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht so verwunderlich, dass nicht selten viele Jahre verstreichen, bis die Krankheit diagnostiziert wird. Je früher sie aber entdeckt wird, desto günstiger ist die Prognose und desto geringer ist das Risiko der Chronifizierung, denn die heutigen psycho- und pharmakotherapeutischen Strategien bei der Zwangsstörung sind als wirksam einzuschätzen.

1.3 Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Da zwangsgestörte Patienten eine sehr hohe Verheimlichungstendenz aufweisen, kommt der gezielten Exploration ein herausragender Stellenwert zu. In der klinischen Praxis kann die Diagnose eines Zwangssyndroms in der überwiegenden Mehrheit der Fälle durch 2 einfache, aber gezielte Screeningfragen gesichert werden:

  1. 1.

    Haben Sie jemals unter Gedanken gelitten, die unsinnig waren und immer wieder kamen, auch wenn Sie es gar nicht wollten?

  2. 2.

    Ist es schon einmal vorgekommen, dass Sie bestimmte Dinge immer und immer wieder tun mussten, wie z. B. sich immer wieder die Hände zu waschen oder etwas mehrmals zu kontrollieren, um sicherzugehen, dass Sie es richtig gemacht haben?

In der ◘ Tab. 8.1 sind die diagnostischen ICD-10-Kriterien für die Zwangsstörung zusammengefasst.

Für die differenzierte Beurteilung sowohl des Schweregrads als auch des Verlaufs der Zwangsstörung kann die deutschsprachige Übersetzung der „Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale“ (Y-BOCS) nach Büttner-Westphal u. Hand (1991) eingesetzt werden. Die Y-BOCS gilt als das Standardfremdbeurteilungsverfahren zur qualitativen Spezifizierung und Quantifizierung des Schweregrads der Zwangsstörung. Sie stellt ein halbstrukturiertes Interview dar und besteht in ihrer gekürzten Version aus 10 Items. Die jeweilige Ausprägungsmöglichkeit reicht von 0 (nicht vorhanden) bis 4 (extrem ausgeprägt). Der Gesamtscore der Y-BOCS (Items 1–10) kann zwischen 0 und 40 liegen. Die Scores für Denk- und Handlungszwänge können getrennt abgebildet werden (Summen der Items 1–5 bzw. 6–10). Ein Gesamtpunktwert von 16 und darüber bei gleichzeitig vorliegenden Denk- und Handlungszwängen gilt in der Regel als klinisch relevant. Der Zeitaufwand für die Durchführung der Y-BOCS beträgt etwa zwischen 30 und 60 min.

In der Diagnostik sollte der Untersucher auf mögliche psychiatrische Komorbiditäten der Zwangsstörung achten. Diese gilt es in einem mehrdimensionalen Gesamtbehandlungsplan miteinzubeziehen. Die folgende Übersicht fasst klinisch relevante psychiatrische Komorbiditäten der Zwangsstörung zusammen.

Bedeutsame psychiatrische Komorbiditäten der Zwangsstörung

  • Komorbide Persönlichkeitsstörungen: Am häufigsten sind abhängige und ängstliche Persönlichkeitsstörungen, gefolgt von zwanghaften und histrionischen Persönlichkeitsstörungen, seltener paranoide, Borderline- und narzisstische Persönlichkeitsstörungen.

  • Komorbide unipolare affektive Störungen, insbesondere depressive Episoden und rezidivierende depressive Störungen.

  • Komorbide Angststörungen: Am häufigsten sind spezifische Phobien und soziale Phobien, gefolgt von der Panikstörung.

  • Essstörungen, vor allem Anorexia nervosa.

  • Alkoholmissbrauch.

Differenzialdiagnostisch sind beim Auftreten eines Zwangssyndroms eine Reihe von somatischen und psychiatrischen Krankheiten auszuschließen. In einer weiteren Übersicht sind wichtige Differenzialdiagnosen der Zwangsstörung aufgelistet.

Wichtige Differenzialdiagnosen der Zwangsstörung

  • Affektionen der Basalganglien: raumfordernde intrakranielle Prozesse, zerebrovaskuläre Erkrankungen, entzündliche Hirnerkrankungen, degenerative Hirnerkrankungen, Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, Chorea minor Sydenham, L-Dopa, Mangan-, Blei-, Quecksilberintoxikationen, Normaldruckhydrozephalus u. a.

  • Einnahme von Stimulanzien und Kokain.

  • Schizophrene und verwandte psychotische Störungen: Bis zu einem Viertel aller schizophrenen Patienten leidet unter Zwangssymptomen

  • Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

  • Affektive Störungen, insbesondere anankastische Depression nach Lauter (1962) und Lauter u. Schön (1967), und depressive Episoden mit psychopathologisch im Vordergrund stehendem grübelnden Denken

  • Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle, vor allem Trichotillomanie (zwanghaftes Ausrupfen eigener Haare) und Kleptomanie (pathologisches Stehlen)

  • Hypochondrische Störung im engeren Sinne und Dysmorphophobie

1.4 Therapie

Nach Voderholzer (2005) gelten bei der Zwangsstörung als Therapie der ersten Wahl:

  • selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) in höheren Dosierungen (Fluoxetin sogar bis 80 mg/die) (◘ Tab. 3.1),

  • kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychotherapieverfahren mit Reizkonfrontation bzw. Exposition.

Ferner sind psychoedukative Patienten- und Angehörigengruppen indiziert. Die Applikation von Benzodiazepinen bei zwangsgestörten Patienten ist hingegen abzulehnen, da sie wegen ihrer sedierenden und anxiolytischen Effekte mit dem Reizkonfrontationstraining im Rahmen von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Psychotherapieverfahren interferieren.

◘ Tab. 8.2 gibt eine orientierende Übersicht über die psycho- und pharmakotherapeutischen Strategien bei der Zwangsstörung und bei Zwangssymptomen im Rahmen anderer Erkrankungen.

2 Angststörungen

2.1 Allgemeines

Neuesten epidemiologischen Studien aus Europa zufolge gehören Angststörungen neben den unipolaren affektiven Störungen und der Substanzabhängigkeit zu den häufigsten psychischen Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Hiernach liegt die durchschnittliche Lebenszeitprävalenz für alle Angsterkrankungen bei 21 %. In absteigender Häufigkeit treten in der europäischen Allgemeinbevölkerung auf:

  • spezifische oder isolierte Phobie,

  • soziale Phobie,

  • generalisierte Angststörung,

  • Agoraphobie,

  • Panikstörung.

Bei Angststörungen finden sich Geschlechterunterschiede in den Häufigkeitsraten. So sind Frauen etwa doppelt so häufig wie Männer betroffen.

Die Ätiopathogenese von Angststörungen ist multifaktoriell. ◘ Tab. 8.3 gibt einen orientierenden Überblick über wichtige psychosoziale und biologische Einflussfaktoren, die im Zusammenhang mit der Genese der Angsterkrankungen diskutiert werden (mod. nach Zwanzger u. Deckert 2007).

2.2 Klinik

Angstsymptome können sich sowohl auf psychische als auch auf körperliche Symptombereiche beziehen:

  • Psychische Symptome: Todesangst, Vernichtungsgefühle, Angst vor Kontrollverlust, Angst, wahnsinnig zu werden, qualvolles Gefühl der Beklemmung, der Spannung, der inneren Unruhe und des Ausgeliefertseins, Entfremdungserlebnisse wie Derealisation und Depersonalisation (▶ Abschn. 8.6.1) usw.

  • Körperliche Symptome: Herzklopfen, kalter Schweiß, Zittern, trockene Kehle, Atemnot, Hitzewallungen, Kälteschauer, Kribbeln, Taubheitsgefühle, Brustschmerzen, Schwindel usw.

Typischerweise sind Angstsymptome keiner realen Gefahr zuzuschreiben. Einerseits treten sie ungerichtet, unbestimmt und ohne situativen Auslöser

  • anfallsartig bei der Panikstörung oder

  • als Dauerzustand bei der generalisierten Angststörung auf.

Andererseits kommen sie gerichtet, gezielt und mit situativen Auslösern

  • bei der phobischen Störung vor.

Bei der phobischen Störung imponiert eine abnorm starke Furcht vor bestimmten Objekten oder Situationen, die beim Gesunden solche Gefühle nicht hervorrufen. Je nachdem, welche Bereiche betroffen sind, unterscheiden wir Agoraphobie, soziale Phobie, spezifische oder isolierte Phobien wie Tierphobie, Blut-Spritzen-Verletzungs-Phobie, AIDS-Phobie und andere gerichtete Furcht.

◘ Tab. 8.4 fasst die Charakteristika der in der ICD-10 aufgelisteten Angststörungen zusammen.

Bei Angststörungen sind zur Chronifizierung neigende Entwicklungen nicht selten, gleichwohl Spontanremissionen beobachtet werden. Prognostisch ungünstig wirken sich komorbide psychische Störungen aus, die im Verlauf von primären Angsterkrankungen sekundär auftreten können. Hier sind insbesondere Medikamenten- und Alkoholabhängigkeit sowie depressive Störungen zu nennen. Je früher Angststörungen diagnostiziert und konsequent behandelt werden, desto günstiger ist die Prognose und desto geringer ist das Risiko der Chronifizierung.

Fallgeschichte

Frau K., 47 Jahre, berichtet, sich seit einigen Jahren besonders ängstlich und nervös zu fühlen. Konkret könne sie gar nicht wirklich beschreiben, wovor sie sich eigentlich fürchte. Sie mache sich jedenfalls viele Sorgen über Dinge, die passieren könnten. Beispielsweise könnte ihr einziger, mittlerweile 20-jähriger Sohn plötzlich an Krebs erkranken und sterben. Zusätzlich zu ihren Sorgen und Ängsten leide sie seit Jahren unter Herzklopfen, Schweißausbrüchen, Muskelverspannungen, Einschlafstörungen, Reizbarkeit, aber auch leichter Ermüdbarkeit. Internistischerseits seien körperliche Erkrankungen (z. B. Schilddrüsenleiden, Herzerkrankungen) ausgeschlossen worden. Von ihrem Hausarzt habe sie zeitweilig benzodiazepinhaltige Tranquilizer verordnet bekommen. Diese hätten zu einer vorübergehenden Besserung der Muskelverspannungen und der Einschlafstörungen geführt, aber keine anhaltende Erleichterung gebracht. Daher sei sie von ihrem Hausarzt in der vergangenen Woche zum Psychiater überwiesen worden. Dieser habe bei ihr eine generalisierte Angststörung diagnostiziert und mit einer medikamentösen Behandlung mit Duloxetin 1-mal 30 mg täglich begonnen.

2.3 Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Bei Patienten mit Verdacht auf Angststörungen kommt der sorgfältigen somatischen Diagnostik besondere Bedeutung zu. Denn es gibt eine Reihe von lebensbedrohlichen körperlichen Krankheiten, die ausgeprägte Angstzustände hervorrufen. ◘ Tab. 8.5 gibt eine Übersicht über wichtige somatische Krankheiten, die mit dem Risiko akuter Angstsyndrome assoziiert sind.

Im Hinblick auf einen mehrdimensionalen Behandlungsplan sollte der Untersucher auf mögliche psychiatrische Komorbiditäten der Angststörungen achten. Häufig ist die Kombination mehrerer Angsterkrankungen, wie einer sozialen Phobie und einer Agoraphobie, einer Panikstörung und einer sozialen Phobie, einer generalisierten Angststörung und einer sozialen Phobie. Weitere klinisch relevante Komorbiditäten der Angsterkrankungen sind:

  • unipolare affektive Störungen wie depressive Episoden und rezidivierende depressive Störungen, insbesondere sekundär im Verlauf von Angsterkrankungen;

  • Substanzabhängigkeit, vor allem sekundär im Verlauf von Angsterkrankungen;

  • posttraumatische Belastungsstörung;

  • Zwangsstörung;

  • Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung;

  • somatoforme Störungen;

  • Borderline-, histrionische, ängstliche, abhängige und zwanghafte Persönlichkeitsstörungen.

Es sei betont, dass die in der ICD-10-Klassifikation erwähnte Kategorie „Angst und depressive Störung, gemischt“ nur dann Verwendung findet, wenn weder die Angstsymptome noch die depressiven Symptome so ausgeprägt sind, dass die Kriterien für eine Angststörung oder depressive Störung erfüllt sind (▶ Kap. 7.2.3).

Differenzialdiagnostisch sind beim Vorliegen eines Angstsyndroms eine Fülle von exogenen Faktoren, organischen Grunderkrankungen und nichtorganisch bedingten psychischen Störungen zu berücksichtigen. ◘ Tab. 8.5 fasst die wichtigen Differenzialdiagnosen der Angststörungen zusammen.

2.4 Therapie

Akut entstandene Angstsymptomatik, heftige Angstanfälle und schwere Panikattacken gehören zu den psychiatrischen Notfällen (▶ Kap. 15.7). Allein durch geduldiges Eingehen auf den Angstpatienten und sog. „talking down“ ist bereits eine Entspannung der Notfallsituation möglich. Notfallmäßig kann die schwere Panikattacke durch die Applikation eines anxiolytisch wirksamen Benzodiazepintranquilizers (z. B. 2,5 mg lyophilisiertes Lorazepamplättchen sublingual) koupiert werden. Der Patient sollte über die Natur von primären Panikattacken aufgeklärt und über die differenziellen Möglichkeiten einer Psycho- und Pharmakotherapie informiert werden.

Nach evidenzbasierten Kriterien sind kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychotherapieverfahren bei Angststörungen wirksam.

Die Psychotherapie von spezifischen Phobien und Agoraphobien gilt als Domäne der Verhaltenstherapie mit Reizkonfrontation bzw. Exposition. Des Weiteren sind psychoedukative Patienten- und Angehörigengruppen therapeutisch angezeigt. Mit Ausnahme der spezifischen Phobien existieren Empfehlungen für die medikamentöse Therapie von Angststörungen. Sie sind in ◘ Tab. 8.7 zusammengefasst.

Nach erfolgreicher Akuttherapie der Angststörungen mit Antidepressiva sollte eine mindestens 6-monatige Erhaltungstherapie durchgeführt werden. Die Höhe der Antidepressivadosierung sollte für die Dauer der Erhaltungstherapie die gleiche sein wie für die Akuttherapie. Sie ist im Allgemeinen jedoch niedriger als bei der Behandlung depressiver Episoden. Das Absetzen darf auf keinen Fall abrupt erfolgen, weil sonst Absetzsyndrome provoziert werden. Es empfiehlt sich daher eine langsame, schrittweise Reduktion der Antidepressivadosis über mehrere Wochen unter kontinuierlicher ärztlicher und/oder psychotherapeutischer Begleitung. Nicht selten ist bei Angstpatienten eine mehrjährige bzw. unbegrenzte prophylaktische Langzeittherapie indiziert.

3 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen

3.1 Allgemeines

Hierbei handelt es sich um psychische Folgestörungen von schweren psychischen Traumata und psychosozialen Belastungen. Nach der ICD-10-Klassifikation wird ein Trauma als „ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ definiert. In diesem Zusammenhang werden 2 Traumatatypen unterschieden:

  • Typ-I-Traumata oder Monotraumata bedeuten plötzlich auftretende, kurz dauernde traumatische Ereignisse. Beispiele: Opfer („Primäropfer“) oder Zeuge („Sekundäropfer“) einer Naturkatastrophe, eines schweren Verkehrsunfalls, einer Vergewaltigung, eines Amoklaufs oder eines Gewaltverbrechens sein; unzureichende Sedierung während operativer Eingriffe, akut erlebter Myokardinfarkt, Reanimation bei Kreislaufstillstand, Defibrillation mit einem automatischen implantierbaren Kardioversionsdefibrillator (ICD: „implantable cardioverter defibrillator“).

  • Typ-II-Traumata oder Kumulativtraumata stellen länger dauernde, wiederholte traumatische Ereignisse dar. Beispiele: Opfer („Primäropfer“) oder Zeuge („Sekundäropfer“) einer Geiselhaft, einer Konzentrationslagerhaft (KZ-Haft), eines Kriegseinsatzes, einer sexuellen oder körperlichen Misshandlung oder einer mehrfachen Folter sein; prolongierte intensivmedizinische Behandlungen nach akutem Lungenversagen, nach Verbrennungen oder nach Organtransplantationen.

Psychosoziale Belastungen beziehen sich auf kritische Lebensereignisse, Stressoren oder „life events“, die bedeutsam in die Lebensstruktur des Betroffenen eingreifen. Sie weisen prinzipiell einen geringeren Schweregrad auf als Mono- oder Kumulativtraumata. Beispiele sind Kündigung, finanzielle Nöte, Partnerschaftskonflikte, Scheidung, Tod einer geliebten Person, systematische Ausgrenzung und Erniedrigung einer Person am Arbeitsplatz („Mobbing“), wiederholtes Kontaktieren, Verfolgen, Beobachten oder Bedrohen einer Person gegen deren Willen („Stalking“), schwere körperliche Krankheit, tiefgreifende soziale Umwälzungen (z. B. Zusammenbruch der DDR) und Flucht.

Nach der ICD-10 werden nachfolgende psychische Traumafolgereaktionen unterschieden:

  • Akute Belastungsreaktion (Synonyme: akute Krisenreaktion, psychischer Schock) nach einem schweren psychischen Trauma.

  • Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (Synonym; PTSD/„posttraumatic stress disorder“) nach Mono- oder Kumulativtraumata. Im weiteren Verlauf ist eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung im Sinne von langfristigen Reaktionen auf schwerwiegende und länger anhaltende Traumatisierungen (z. B. KZ-Haft, andauernde Gefangenschaft mit unmittelbarer Todesgefahr, Folter) in Erwägung zu ziehen.

  • Anpassungsstörungen (Synonyme: abnorme Trauerreaktion, Kulturschock) nach psychosozialen Belastungen.

Epidemiologischen Studien zufolge beträgt die Häufigkeit der posttraumatischen Belastungsstörung in der Allgemeinbevölkerung ca. 3,5 %. Frauen entwickeln etwa doppelt so häufig eine PTSD wie Männer. Die Angaben zur Häufigkeit von Anpassungsstörungen schwanken erheblich. Etwa 20 % aller im Allgemeinkrankenhaus konsiliarpsychiatrisch mitbehandelter Patienten leiden an Anpassungsstörungen.

3.2 Klinik

Die akute Belastungsreaktion stellt eine vorübergehende Folgereaktion auf ein schweres psychisches Trauma dar. Der Betroffene, bei dem zum Zeitpunkt der Traumatisierung keine manifeste psychische Störung vorliegt, entwickelt unmittelbar nach dem Trauma Entfremdungserlebnisse wie Derealisation und Depersonalisation, Gefühle des Ausgeliefertseins, der Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und/oder Beklemmung sowie Zeichen motorischer Anspannung und vegetativer Überaktivität. Er fühlt sich wie betäubt und losgelöst und nimmt die Umgebung um sich herum nur eingeschränkt wahr. An wichtige Aspekte des Traumas kann er sich mitunter nicht mehr erinnern. Auf den Untersucher wirkt er benommen und desorientiert. Die Symptome klingen häufig innerhalb von Stunden nach dem Trauma ab und verschwinden im Allgemeinen innerhalb von 2 oder 3 Tagen.

Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) oder PTSD entsteht als eine verzögerte bzw. protrahierte Folgereaktion auf ein schweres psychisches Trauma. Sie ist charakterisiert durch 3 Symptomgruppen, die in ◘ Tab. 8.8 zusammengefasst sind.

Das PTSD-Vollbild bildet sich in der Regel erst mit einer Latenz von wenigen Wochen bis 6 Monaten nach Mono- oder Kumulativtraumata aus. Selten folgt die PTSD einem schweren psychischen Trauma mit einer Latenz, die länger als 6 Monate beträgt. Nach Vyssoki (2007) sind folgende Risikofaktoren für die Entwicklung einer PTSD zu beachten:

  • Psychische Störungen in der Anamnese

  • Frühe Erfahrungen von Not und Trennung

  • Mangelnde Unterstützung durch Familie und soziales Umfeld

  • Fehlen einer tragfähigen religiösen oder weltanschaulichen Bindung

Nach Frommberger (2004) unterscheiden sich die schweren psychischen Traumata in ihrer Häufigkeit und ihrer Wahrscheinlichkeit, eine posttraumatische Belastungsstörung auszulösen. Eines der häufigsten Traumata in den westlichen Industriegesellschaften, ein schwerer Verkehrsunfall, hat bei rund 10–30 % der Verletzten eine Voll- oder Teilausprägung einer PTSD zur Folge. Beispielsweise fand die Arbeitsgruppe um H.-B. Rothenhäusler in ihrer Grazer Polytraumastudie (Baranyi et al. 2010b) bei 25 % der 52 untersuchten Polytraumapatienten (schwere Verkehrsunfälle oder Arbeitsunfälle) ein Jahr nach dem schweren Unfallereignis ein PTSD-Vollbild. Das wesentlich seltenere traumatische Ereignis einer Vergewaltigung bewirkt hingegen in ca. 60–90 % aller Betroffenen eine PTSD. Auch traumatische Erlebnisse intensivmedizinisch behandelter Patienten mit einem akuten Lungenversagen (ARDS: „acute respiratory distress syndrome“), wie z. B. das Gefühl zu ersticken, ausgeprägte Angstaffekte oder Paniksyndrome, schwere Schmerzzustände und bizarre Alpträume, führen nach Schelling et al. (1999), Rothenhäusler et al. (2001c) und Kapfhammer et al. (2004) in fast 25 % der ARDS-Patienten zum Vollbild einer PTSD. Beispiele für Alpträume, wie sie von Überlebenden eines akuten Lungenversagens geschildert werden, sind:

Beispiele

  • „… Das Pflegepersonal lief mit Punkerkleidung umher und wollte mir die Haut abziehen …...“

  • „...… Kriegsszenen, Wände, die abblättern und mich begraben, Schlangen, Kröten und Spinnen, die auf mich zukamen, und ich konnte nicht weglaufen …“

  • „...… Die Aufhängevorrichtungen an der Decke sahen aus wie lange Würmer, die auf mich herabfielen …...“

  • „...… Ich war gefangen im Körper eines lebensgroßen Porzellanhundes; eine große Halle voller Särge. Einer nach dem anderen wurde abgeholt ...…“

Kennzeichnend für den Verlauf einer posttraumatischen Belastungsstörung ist, dass es bei etwa einem Viertel der Patienten mit PTSD auch ohne fachspezifische Behandlung innerhalb des ersten Jahres zu einer Spontanremission kommt. Bei adäquater Therapie steigt der Anteil der Remissionen sogar auf ein Drittel an. Auf der anderen Seite persistieren bei mehr als einem Drittel der Patienten die PTSD-Symptome über mehr als 6 Jahre. Mit der Chronifizierung gehen eine deutlich erhöhte psychiatrische Komorbidität (z. B. depressive Erkrankungen, Angststörungen, Substanzabhängigkeit) und wesentliche Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität einher. Zu den Langzeitfolgen einer PTSD wird auch die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung gezählt (▶ Kap. 10.1.3). Innerhalb der Psychotraumatologie wird die „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ als eine spezifische Form der PTSD angesehen (▶ Kap. 10.1.3).

Fallgeschichte 1

Der 21-jährige Einzelhandelskaufmann Herr A. kommt auf Zuweisung des praktischen Arztes in die Akutambulanz der psychiatrischen Klinik. Herr A. gibt an, er habe vor 4 Monaten einen schweren Autounfall gehabt. Er habe damals ein Polytrauma erlitten. Körperlich gehe es ihm aber bereits seit 2 Monaten wieder gut. Die Intensivmediziner, die Unfallchirurgen und die Ärzte in der Reha-Klinik seien ausgezeichnet gewesen. Was ihn aber seit etwa 6–8 Wochen zunehmend betrübe und niederschlage, seien die wiederholt auftretenden Alpträume. Dabei träume er von Unfallopfern, Blut, Autowracks, Rettungswagen und Blaulicht. Auch habe er zunehmend quälende Schuldgefühle, zum Unfallzeitpunkt nicht aufgepasst zu haben. Er fahre zwar nach wie vor Auto, allerdings beunruhige ihn zunehmend im Straßenverkehr ein seltsames Gefühl von Beinaheunfällen mit anderen Verkehrsteilnehmern, auch die Befürchtung, dass der Abstand zu anderen Fahrzeugen näher sei, als er tatsächlich sei. Insgesamt fühle er sich beim Autofahren angespannt, nervös und ängstlich. Er habe generell weniger Zutrauen zu den eigenen fahrerischen Fähigkeiten. Die Frustrationstoleranz im Verkehr sei merklich vermindert. Sehr schnell werde er wütend und zornig, wenn andere Verkehrsteilnehmer nicht genügend Abstand zu ihm halten würden. Auf Fahrstrecken, die der damaligen Unfallstrecke ähneln, fühle er sich unwillkürlich an den damaligen Unfall erinnert, was ihn sehr schmerze.

Fallgeschichte 2

Der 44-jährige, geschiedene Mittelschulprofessor Herr R. kommt auf Zuweisung des praktischen Arztes in die Akutambulanz der psychiatrischen Klinik. Herr R. berichtet, er sei vor 3 Jahren wegen eines akuten Lungenversagens für insgesamt 3 Monate auf der Intensivstation am LKH Graz behandelt worden. Gott sei Dank habe er die damalige schwere Erkrankung überlebt. Im Anschluss an die Behandlung auf der internistischen Normalstation sei er in die Reha-Klinik verlegt worden. Damals seien dann erstmals Alpträume aufgetreten. So habe er immer wieder davon geträumt, dass das Pflegepersonal auf der Intensivstation mit Punkerkleidung umhergegangen sei und ihm die Haut habe abziehen wollen. Auch habe er wiederholt geträumt, er sei auf der Intensivstation in durchsichtiges Material fortwährend eingegossen worden, was mit unsäglichen Schmerzen am ganzen Körper verbunden gewesen sei. Oftmals träumte er, er sei ein Elektrogerät und werde von den Intensivmedizinern zerlegt. Nachts sei er dann schweißgebadet aufgewacht und habe Panik gehabt. Nach dem Reha-Aufenthalt, als er schon wieder zuhause gewesen sei, habe er versucht, die Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Intensivaufenthalt aus seiner Erinnerung zu löschen. Auch versuchte er, nicht darüber zu sprechen bzw. nicht daran zu denken. Aber er musste immer wieder daran denken, auch wenn er nicht daran denken wollte. Zunehmend habe er Mühe gehabt, einzuschlafen oder durchzuschlafen, weil ihm Bilder davon durch den Kopf gegangen seien. Manchmal sei es ihm so vorgekommen, als ob der ganze Intensivaufenthalt nicht wirklich passiert sei. Er fühle sich ständig „wie unter Strom“, sei reizbarer geworden, extrem wachsam, auch schreckhaft, wenn er Maschinengeräusche höre, die ihn an die Beatmungsgeräte erinnerten.

Anpassungsstörungen treten innerhalb eines Monats als direkte Folge einer identifizierbaren psychosozialen Belastungssituation auf. Im Gegensatz zur akuten Belastungsreaktion und zur posttraumatischen Belastungsstörung spielt die individuelle Prädisposition bzw. Vulnerabilität des Betroffenen bei dem möglichen Auftreten von Anpassungsstörungen eine bedeutsame Rolle („abnorme Erlebnisreaktionen“). Die Symptome von Anpassungsstörungen sind variabel. Neben depressiven Symptomen können Verstimmungen wie Angst oder Ärger, aber auch Besorgnis und Gefühle der Anspannung dominieren. Oftmals liegt ein Gefühl vor, dass es unmöglich ist, in der gegenwärtigen Situation zurechtzukommen oder gar weiterzumachen. Bei Jugendlichen finden sich häufig Störungen des Sozialverhaltens, wie z. B. aggressive oder dissoziale Verhaltensweisen. Der anpassungsgestörte Patient befindet sich im Allgemeinen in einem Zustand emotionaler Not oder Bedrängnis, welcher ihn in seiner beruflichen oder sozialen Leistungsfähigkeit deutlich beeinträchtigt. Infolgedessen hat der Betroffene Schwierigkeiten, seiner Arbeit nachzugehen oder mit seinen Angehörigen, Freunden oder Nachbarn zusammen zu sein. Nach Ende der psychosozialen Belastung und ihrer Folgen bleiben die Symptome in aller Regel nur bis zu 6 Monaten bestehen. Ausnahme hierbei ist die Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion, die als Folge einer länger anhaltenden Belastungssituation bis zu 2 Jahren andauern kann.

Fallgeschichte

Die 31-jährige Verwaltungsangestellte Frau C. kommt auf Vermittlung der Arbeiterkammer in die Akutambulanz der psychiatrischen Klinik. Frau C. berichtet, seit 2 Jahren einen neuen Bürovorgesetzten zu haben. Dieser habe etwa vor 3 Wochen angefangen, sie unentwegt zu belästigen und zu schikanieren. So habe er wiederholt wichtige Informationen zurückgehalten, verletzende Bemerkungen im Vorbeigehen geäußert, sie wiederholt grundlos in einer herabwürdigenden Weise ausgelacht und sie sogar beim Abteilungsleiter angeschwärzt. Sie fühle sich derzeit depressiv verstimmt, ängstlich und besorgt. Zunehmend herrsche ein Gefühl der Anspannung vor. Seit Tagen habe sie das Gefühl, dass es unmöglich sei, in der gegenwärtigen Arbeitsplatzsituation so weiterzumachen. Denn für sie sei gegenwärtig das Leben am Arbeitsplatz unerträglich.

Als spezifische Form der Anpassungsstörungen gilt nach Linden et al. (2004) die posttraumatische Verbitterungsstörung, die durch nachfolgende Kernkriterien charakterisiert ist:

  • Es ist ein einmaliges schwerwiegendes negatives Lebensereignis (z. B. „Mobbing“, Kündigung, kränkende Trennung) zu identifizieren, in dessen Folge sich die psychische Störung entwickelt hat.

  • Dem Patienten ist dieses Lebensereignis bewusst, und er sieht seinen Zustand als direkte und anhaltende Konsequenz aus dem Ereignis.

  • Der Patient erlebt das kritische Lebensereignis als „ungerecht“.

  • Wenn das kritische Ereignis angesprochen wird, reagiert der Patient mit Verbitterung und emotionaler Erregung.

  • Der Patient berichtet wiederholte intrusive Erinnerungen an das Ereignis; teilweise ist es ihm sogar wichtig, nicht zu vergessen.

  • Die emotionale Schwingungsfähigkeit ist nicht beeinträchtigt. Der Patient zeigt normalen Affekt, wenn er abgelenkt wird, oder kann beim Gedanken an Rache lächeln.

  • Es trat keine manifeste psychische Störung im Jahr vor dem kritischen Lebensereignis auf; der gegenwärtige Zustand ist kein Rezidiv einer vorbestehenden psychischen Erkrankung.

Ein innovatives Konzept der Anpassungsstörungen (AD: „adjustment disorder“) als Stressreaktionssyndrome wurde von Maercker (2002) erstmals 2002 in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Er geht davon aus, dass Anpassungsstörungen, analog zu posttraumatischen Belastungsstörungen, durch „Intrusion“, „Vermeidung“ und „Fehlanpassungssymptome“ charakterisiert sind. ◘ Tab. 8.9 gibt die vorgeschlagenen diagnostischen Kriterien der „adjustment disorder“ nach Maercker et al. (2007) in der deutschsprachigen Version von Baumschlager u. Rothenhäusler (2011) wieder.

3.2.1 Beispiele evaluierter posttraumatischer Belastungsreaktionen

In den von der Arbeitsgruppe um Rothenhäusler an der Grazer Universitätsklinik für Psychiatrie durchgeführten Evaluationsstudien (Krammer et al. 2007; Kreiner et al. 2008; Baumschlager et al. 2011) wurden die emotionalen Folgen von „Stalking“, „Mobbing“ und „HIV-Diagnosestellung“ untersucht.

Stalking

„Stalking“ („to stalk“ heißt „sich anpirschen, jemandem nachstellen“) im psychiatrischen Sprachgebrauch beschreibt pathologische Verhaltensweisen, die durch wiederholtes Verfolgen, Belästigen, Bedrohen oder Attackieren einer Person gekennzeichnet sind, wodurch sich diese in ihrer Sicherheit gefährdet fühlt. In Österreich fällt Stalking im Übrigen unter den Straftatbestand „beharrliche Verfolgung“ (§ 107a öStGB). Durch die Assoziation von Stalking und psychischen Störungen gehören Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen zu den exponierten Berufsgruppen. Im Rahmen unserer Grazer Stalkingstudie (Krammer et al. 2007) wurden an insgesamt 164 Grazer Psychiatern aus dem klinischen, institutionellen oder niedergelassenen Bereich, Psychotherapeuten und klinischen Psychologen Fragebögen ausgegeben. 117 nahmen an der anonymen Befragung teil (Rücklaufquote: 71 %). In 45 Fällen (38,5 %) waren die Kriterien für klinisch signifikantes Stalking erfüllt. Rein verbal bedrohendes und belästigendes Verhalten in Verbindung mit Verfolgung fand sich mit 68,9 % am häufigsten. In 15,5 % kam es zu sexuell motivierten Übergriffen, in 13,3 % zu tätlichen Übergriffen bzw. Handgreiflichkeiten. In 2,2 % kam es zur Körperverletzung. Die Häufigkeit von Symptomen einer posttraumatischen Belastungsreaktion unter den befragten Stalkingopfern lag bei 44,4 %. Davon konnten nach dem Schweregrad 33,3 % als leicht, 6,7 % als mäßig und 4,4 % als schwer ausgeprägt klassifiziert werden.

Mobbing

„Mobbing“ („to mob“ heißt „jemanden bedrängen, anpöbeln“) im psychiatrischen Sprachgebrauch beschreibt negative kommunikative Handlungen (von einem oder mehreren anderen), die gegen eine Person gerichtet sind, sehr oft über einen längeren Zeitraum bestehen und damit die Beziehung zwischen Täter und Mobbingopfer kennzeichnen. Zapf (1999) spricht von Mobbing bei feindseligen Interaktionen am Arbeitsplatz, wo einzelne Personen von Vorgesetzten oder Kollegen schikaniert werden. Im Rahmen der Stressforschung lässt sich Mobbing als extreme Form sozialer Stressoren einordnen. Aktive Mobbinghandlungen sind körperliche Gewalt in unterschiedlichem Ausmaß, Erpressung, Diebstahl oder Beschädigung von Gegenständen des Opfers, Zerstören des am Arbeitsplatz erarbeiteten Materials, Beschädigen und Stehlen von Kleidungsstücken und diversen Gegenständen sowie sexuelle Belästigung. Passive Mobbinghandlungen sind Ausgrenzen von Arbeitskollegen aus der Gemeinschaft, Zurückhalten wichtiger Informationen, Auslachen, verletzende Bemerkungen, ungerechtfertigte Anschuldigungen, Erfinden von Gerüchten und Geschichten über das Opfer, Denunzieren, Ignorieren (stummes Mobbing). Neben betrieblichen Folgen, wie schlechteres Betriebsklima und Betriebsergebnis, erhöhten Fehlzeiten und Krankenständen, Kündigungen und Personalfluktuation wird ein Reihe von psychischen und physischen Beschwerden bei den betroffenen Personen beschrieben (z. B. Angst-, Depressions- und psychosomatische Symptome). Im Rahmen unserer explorativen Grazer Mobbingstudie (Kreiner et al. 2008) wurden insgesamt 20 Mobbingbetroffene mit Hilfe des strukturierten klinischen Interviews für DSM-IV und mittels Fremdbeurteilungs- und Selbstbeurteilungsfragebögen systematisch evaluiert. Es zeigte sich, dass 11 (55 %) unserer 20 interviewten Mobbingbetroffenen unter einer nach DSM-IV zu klassifizierenden posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD; PTBS) litten. Unsere Mobbingbetroffenen mit PTSD wiesen signifikant geringere Lebensqualitätskennziffern auf als jene ohne eine PTSD. Im Verständnis von Mobbing als dynamischem Prozess zwischen Täter und Betroffenen sollte in der Behandlungssituation tatsächlich beim Mobbingopfer selbst angesetzt werden und nicht nur bei der Mobbingsituation. Insbesondere sollten therapeutische Strategien erarbeitet werden, die gegen die soziale Abkapselung und gedankliche Weiterbeschäftigung des Mobbingbetroffenen mit der Mobbingsituation ankämpfen. Techniken zur Stress- und Problemanalyse, die Erarbeitung von Copingstrategien, die Förderung von Selbstverbalisierungsfähigkeiten mit Hilfe von Rollenspielen und auch Elementen der Weisheitstherapie nach Baumann u. Linden (2008) sind zu empfehlen. Andererseits können diese Therapieansätze keine Mediation mit allen beteiligten Konfliktparteien ersetzen.

HIV-Diagnosestellung

In unserer explorativen Grazer HIV-Studie (Baumschlager et al. 2011) evaluierten wir gezielt emotionale Befindlichkeitsstörungen im Gefolge von HIV-Diagnosestellungen. Hierbei beachteten wir für möglicherweise auftretende HIV-assoziierte, posttraumatische Belastungssymptome die Forschungsergebnisse von Maercker et al. (2007) durch Berücksichtigung seines innovativen Konzepts der Anpassungsstörungen („adjustment disorder“) als Stressreaktionssyndrome. Insgesamt konnten wir 37 HIV-Infizierte ambulante Patienten in unserer explorativen Studie einschließen und mittels Fremdbeurteilungs- und Selbstbeurteilungsfragebögen gezielt untersuchen. 25 (67,6 %) der evaluierten HIV-Patienten wiesen ein posttraumatisches Belastungssyndrom (PTSS) auf, das eine Anpassungsstörung nach Maercker darstellte. Im Vergleich zu HIV-Patienten ohne PTSS hatten HIV-Patienten mit PTSS signifikant ungünstigere Werte in den SF-36-Domänen „allgemeine Gesundheit, Vitalität, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion und psychische Gesundheit“. Hervorgehoben werden muss an dieser Stelle, dass selbst Patienten mit vergleichbaren Erkrankungen (z. B. Hepatitis-C-Virus-Infektion [HCV-Infektion]) deutlich niedrigere PTSS-Werte zeigten. Für HCV konnte eine PTSS-Prävalenz von 8,8 % ermittelt werden (Grazer HCV-Studie: Rothenhäusler et al. 2009b) (▶ Kap. 14.3.3). In einer somatomedizinischen Perspektive ist die HCV-Erkrankung als chronische, virale Infektion mit Neurotropie mit der HIV-Infektion vergleichbar. Hingegen sind deutliche Unterschiede im gesellschaftlichen Bild und in den damit verbundenen psychischen Belastungen beider Krankheiten vorhanden.

3.3 Diagnostik und Differenzialdiagnostik

Mono- oder Kumulativtraumata sowie psychosoziale Belastungen müssen gezielt exploriert werden. Liegt ein schweres psychisches Trauma vor, so ist die akute Belastungsreaktion von der posttraumatischen Belastungsstörung abzugrenzen. Während die akute Belastungsreaktion unmittelbar nach dem Trauma auftritt und innerhalb kurzer Zeit wieder abklingt, entwickelt sich die posttraumatische Belastungsstörung innerhalb von 4 Wochen als eine verzögerte Folgereaktion auf das Trauma.

Zur syndromalen Diagnostik einer PTSD kann vorteilhaft die Impact-of-Event-Scale (IES) von Horowitz et al. (1979) eingesetzt werden (▶ Kap. 2.7.4). ◘ Tab. 8.10 gibt die deutsche Version der IES-Selbstbeurteilungsskala von Hütter u. Fischer (1997) wieder.

Für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung müssen nach der ICD-10-Klassifikation ein schweres psychisches Trauma, intrusive Kollektionen und Vermeidungsverhalten im Zusammenhang mit dem Trauma vorliegen. Zusätzlich müssen entweder Symptome einer vegetativen Übererregtheit oder eine teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte des Traumas zu erinnern, nachweisbar sein. Die charakteristischen Symptomgruppen treten innerhalb von 6 Monaten nach dem Monotrauma oder nach Ende des Kumulativtraumas auf. Eine bedeutsame Variante der PTSD ist die häufiger in neueren Forschungsarbeiten beschriebene subsyndromale posttraumatische Belastungsstörung („sub- PTSD“; „partial PTSD“). Dabei handelt es sich um das unterschwellige klinische Bild einer PTSD, deren Ausprägung jedoch nicht den Kriterien der ICD-10 genügt. So sind bei einer sub-PTSD beispielsweise Symptome eines intrusiven unwillentlichen Wiedererlebens von Aspekten des Traumas und Symptome einer vegetativen Übererregtheit zu explorieren, nicht aber Symptome eines umfassenden, auf das Trauma bezogenen Vermeidungsverhaltens zu beobachten.

Häufige psychiatrische Komorbiditäten einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung sind:

  • depressive Erkrankungen,

  • Angststörungen,

  • Substanzabhängigkeit,

  • andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung,

  • nichtorganische Schlafstörungen,

  • sexuelle Funktionsstörungen,

  • „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ mit komorbid vorliegenden posttraumatischen Belastungsstörungen, somatoformen und dissoziativen Störungen sowie Borderlinepersönlichkeitsstörungen.

Diese und mögliche suizidale Verhaltensweisen gilt es in einem mehrdimensionalen Gesamtbehandlungsplan mit zu berücksichtigen.

Anpassungsstörungen entstehen innerhalb von 4 Wochen als direkte Folge von identifizierbaren psychosozialen Belastungen. Je nach Erscheinungsbild der im Vordergrund stehenden Symptome unterscheiden wir nach der ICD-10 folgende Formen:

  • Kurze depressive Reaktion: Die depressive Verstimmung dauert nicht länger als 4 Wochen an.

  • Längere depressive Reaktion: Die depressive Verstimmung dauert nicht länger als 2 Jahre an.

  • Angst und depressive Reaktion, gemischt: Eine Kombination von Angst und depressiver Verstimmung liegt vor.

  • Mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen Gefühlen: Unterschiedliche affektive Symptome wie Ärger, Anspannung, Angst, Depression und Besorgnis treten auf.

  • Mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens: Insbesondere bei Jugendlichen kommt es zu aggressiven und dissozialen Verhaltensweisen wie rücksichtloses Autofahren, Schlägereien, Vandalismus usw.

Die Symptome im Zusammenhang mit Anpassungsstörungen liegen im Allgemeinen nicht so schwer ausgeprägt vor, dass eine spezifischere Diagnose nach der ICD-10-Klassifikation gerechtfertigt ist (z. B. Angst und depressive Störung, gemischt, oder leichte depressive Episode) (◘ Tab. 7.2).

3.4 Therapie

Die psychotherapeutische Krisenintervention ist die Therapie der Wahl bei der akuten Belastungsreaktion. Hierbei handelt es sich um eine stützende psychotherapeutische Interventionsform, die zum einen der Abwendung der akuten Bedrohung für Gesundheit und Leben des Patienten, zum anderen der emotionalen Entlastung des Patienten im Hier und Jetzt dient. Wesentlich in der psychotherapeutischen Begegnung des Behandlers mit dem akut traumatisierten Patienten ist, ein Beziehungsangebot für verständnisvolle und supportive Gespräche zu machen. Die stützenden Gespräche zielen sowohl auf Stärkung der eigenen Ressourcen als auch auf Wiedergewinnung der Selbstkontrolle beim Betroffenen. Das Verhalten des Therapeuten wird hierbei durch Empathie, Wertschätzung und Echtheit bestimmt. Angehörige sollten nach Möglichkeit in das therapeutische Konzept miteinbezogen werden. Zur Dämpfung von Übererregbarkeitssymptomen im Gefolge einer akuten Belastungsreaktion kann vorteilhaft Propranolol (z. B. initial täglich 2-mal 40 mg Inderal® bzw. Dociton®) verabreicht werden. Neuere Studien konnten sogar eine sekundärpräventive Wirkung von Propranolol im Sinne der Verhinderung einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen. Geht die akute Belastungsreaktion mit akuter Suizidalität oder mit akutem Erregungszustand einher, so ist die stationäre Unterbringung des Patienten erforderlich und die vorübergehende Applikation von Benzodiazepintranquilizern zur emotionalen Entspannung indiziert (▶ Kap. 15 und 16).

Das sog. Debriefing (Nachbesprechung) stellt eine gruppenpsychotherapeutische Interventionsform für Einsatzkräfte (z. B. Angehörige der Polizei, der Feuerwehr, der Armee, des Rettungsdienstes) und für Primäropfer unmittelbar nach einem Trauma dar. Mittels geleiteter Gruppengespräche sollen alle Elemente des Erlebten (z. B. kognitive Bewertungen, affektive und somatische Reaktionen) durch gezieltes Ansprechen aktiviert werden und die Möglichkeit zum kathartischen Ausdruck schockartiger Gefühle geschaffen werden. Neben psychoedukativen Ansätzen, bei denen es um Wissensvermittlung über Symptomatik, Dauer, Verlauf und Behandelbarkeit von Traumafolgestörungen geht, werden stressverarbeitende Bewältigungsstrategien trainiert. Hierdurch soll die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung bei den Betroffenen vermieden werden.

Das Debriefingkonzept wird gegenwärtig kontrovers diskutiert . Kritiker sprechen von der Verhinderung des natürlichen Vermeidungsprozesses (z. B. Vergessen von Einzelheiten des Traumas), der Verstärkung der vegetativen Übererregtheit und der möglichen Retraumatisierung aufgrund von „Debriefing“.

Die therapeutischen Strategien zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung umfassen psychotherapeutische Verfahren und pharmakologische Interventionen.

Medikamente der Wahl sind SSRI. Beispielsweise sind in Österreich Sertralin und Paroxetin zur PTSD-Behandlung zugelassen. Generell sollte hierbei die Dosierung der SSRI langsam einschleichend erfolgen – Sertralin initial 25 mg 1-mal täglich bzw. Paroxetin initial 10 mg 1-mal täglich –, um das erhöhte Nebenwirkungsrisiko von PTSD-Patienten zu verringern. Die Erhaltungstherapie mit Sertralin oder Paroxetin sollte generell in höherer Dosierung erfolgen und mindestens 12 Monate betragen. Treten schwere Schlafstörungen als bedeutsame Begleitsymptome auf, sollte zusätzlich Mirtazapin oder Trazodon verabreicht werden. Erst jüngst wurde von der Tel Aviver Arbeitsgruppe um Zohar (Zohar et al. 2011) ein innovatives Behandlungsregime der posttraumatischen Belastungsstörung publiziert. Die intravenöse Applikation von 100 bis 140 mg Hydrokortison innerhalb von 6 h nach dem Trauma habe im Vergleich zu Plazebo eine signifikante Reduktion sowohl der akuten Stresssymptome als auch der charakteristischen PTSD-Symptomgruppen ergeben. Möglicherweise wird künftig der frühzeitige Einsatz von Steroiden als sekundärpräventive Strategie der ersten Wahl anerkannt werden.

Die psychotherapeutischen Ansätze bei der PTSD implizieren ein phasenorientiertes Vorgehen:

  1. 1.

    Stabilisierung: Nach der akuten Traumatisierung und vor der eigentlichen Traumabearbeitung geht es zunächst um die individualisierte Unterstützung im Sinne einer Krisenintervention. In diesem Kontext sind der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung und die nicht beurteilende Akzeptanz des Opfers essenziell. Auf keinen Fall darf die Traumaerinnerung forciert werden. Im Rahmen der Stabilisierungsphase kommen entlastende Informationsvermittlung, Entspannungsverfahren und stabilisierende Imaginationen zum Einsatz. Bei den sog. Ich-stabilisierenden Imaginationen arbeitet der Therapeut mit positiven Erinnerungs- bzw. Vorstellungsbildern zur Schaffung eines inneren sicheren Orts beim Betroffenen.

  2. 2.

    Traumabearbeitung: Ziele der Traumakonfrontation sind die Defragmentierung dissoziierter Erlebnisinhalte und die Integration in die individuelle Biographie. Im Fokus der bei der PTSD-Behandlung infrage kommenden psychotherapeutischen Verfahren (z. B. kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychotherapieverfahren, Verfahren der tiefenpsychologischen Psychotherapie und der imaginativen Traumakonfrontation) steht die Bearbeitung von Intrusion, affektiver Überflutung und daraus resultierenden Verhaltensänderungen. Als imaginatives Traumakonfrontationsverfahren wird die EMDR-Therapie (EMDR: „eye movement desensitization and reprocessing“) eingesetzt. Die EMDR fußt auf der empirischen Beobachtung einer Desensibilisierung belastender Gedanken durch wiederholte, angeleitete Augenbewegungen. Es sei betont, dass die Traumabearbeitung absolut kontraindiziert ist bei Vorliegen psychotischen Erlebens, akuter Suizidalität und/oder anhaltenden Täterkontakts.

  3. 3.

    Rehabilitation: Zielsetzung ist die psychosoziale, berufliche und familiäre Reintegration.

Stützende und konfliktzentrierte psychotherapeutische Gespräche stellen das Mittel der Wahl zur Behandlung von Anpassungsstörungen dar. Denn das Erleiden psychosozial belastender Lebensereignisse kann bei dem Betroffenen zu Verlust der Autonomie, der Lebensfrische, des Selbstwertgefühls, der beruflichen Leistungsfähigkeit, der sozialen Beziehungen, der finanziellen Ressourcen usw. führen. Dieses Verlusterleben ist Ausgangspunkt für depressive Verstimmung, Angst, Verbitterung usw. Im Rahmen der supportiven Gespräche gilt es, den Zusammenhang zwischen diesen psychischen Beschwerden und den psychosozialen Belastungen zu erarbeiten. Primäre Zielsetzung ist die emotionale Entlastung des Patienten. Des Weiteren geht es um Stärkung der eigenen Ressourcen und Förderung der Motivation zum selbstständigen Entscheiden und Handeln zur Lösung der Krise. Es gehört zur Kunst des Behandlers, dabei ein ausgeglichenes Verhältnis von Distanz und Nähe einzuhalten. Denn nach Berzewski (2009) kann zu große Nähe dazu führen, dass der Patient in seinem Zustand emotionaler Not verharrt. Andererseits kann zu große Distanz von dem Patienten als Ablehnung erlebt werden. Insbesondere der Hinweis, dass es sich um ein Lebensereignis handele, mit welchem viele Menschen fertig werden, wird häufig vom Betroffenen als Abwertung und Kränkung empfunden. Der vorübergehende Einsatz von Antidepressiva bei Anpassungsstörungen ist gerechtfertigt und sinnvoll. Je nach im Vordergrund stehender Symptomatik kommen psychomotorisch dämpfende Antidepressiva (z. B. Mirtazapin) oder psychomotorisch aktivierende Antidepressiva (z. B. SSRI) in Betracht.

3.5 Exkurs: das Burnoutsyndrom

Der New Yorker Psychologe und Psychoanalytiker Freudenberger führte erstmals 1975 den Begriff „burn-out“ („to burn out“ heißt „ausbrennen, verheizen“) in die wissenschaftliche Literatur ein. „Burn-out“ definierte er als „state of mental and physical exhaustion caused by one‘s professional life“. Er bezog sich hierbei auf seine Erfahrungen aus seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der biopsychosozialen Betreuung unterprivilegierter Drogenabhängiger, als er bei sich und seinen Kollegen aus der Freiwilligenarbeit Symptome der inneren Leere und der seelischen Verausgabung feststellen musste.

Beim Burnoutsyndrom nach Maslach (1979), einer in Berkely in den USA tätigen Sozialpsychologin, handelt es sich um ein psychologisches Konstrukt im Zusammenhang mit emotional belastenden zwischenmenschlichen Kontakten am Arbeitsplatz. Es ist durch 3 Dimensionen charakterisiert:

  • Emotionale Erschöpfung im Arbeitszusammenhang („exhaustion“): Gefühl der emotionalen Überanstrengung und Empfindung, ausgelaugt zu sein, z. B. Verlust des Interesses an der Arbeit, Gefühl der Frustration bei der Arbeit, Gefühl, bei der Arbeit ausgenutzt und nicht genug anerkannt zu werden.

  • „Depersonalisation“ im Maslachschen Sinne („cynicism“): gefühllose, gleichgültige oder zynische Einstellung gegenüber Patienten, Klienten, Kunden oder Kollegen, z. B. abwertende, abfällige, geringschätzige oder despektierliche Bemerkungen des Arztes über seine Patienten.

  • Reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit im Arbeitszusammenhang („inefficacy“): Gefühl der Inkompetenz und der Abnahme der Belastbarkeit bei der Arbeit. Oft werden von den betroffenen Personen psychovegetative gastrointestinale, kardiorespiratorische, urogenitale und/oder Schmerzbeschwerden sowie ständig anhaltendes Müdigkeitsgefühl und subjektive Konzentrationsstörungen geschildert.

Im Rahmen der arbeitsmedizinischen und -psychologischen Burnoutforschung wird sehr häufig die „Maslach-Burnout-Inventory-(MBI)“-Selbstbeurteilungsskala verwendet, die in einer deutschen Version von Büssing u. Perrar (1992) verfügbar ist (Beispielitem: „Ich fühle mich durch meine Arbeit ausgebrannt.“).

Galten früher Lehrer im Schuldienst, Pflegekräfte und Ärzte auf Intensivstationen, onkologischen Stationen, Stationen mit Demenzerkrankten, Stationen mit AIDS-Erkrankten usw. als Burnoutrisikogruppen, so können nach neueren Studien heutzutage fast alle Berufsgruppen von Burnout betroffen sein. Für den Mainzer Arbeits- und Organisationspsychologen Dormann (2011) ist bei Personen, die nicht in helfenden Berufen tätig sind, der bedeutsamste Prädiktor für den Bereich Erschöpfung im Kontext von Burnout „ein hoher Zeitdruck“ bzw. „eine hohe Arbeitsbelastung“. Der Hamburger Psychologe und Burnoutforscher Burisch (2006) betrachtet die fehlende Gratifikation, Anerkennung oder Wertschätzung von Vorgesetzten als vorrangigen Trigger für das Burnoutsyndrom im Arbeitszusammenhang.

Freilich spielt eine deutlich subjektive Komponente beim Burnoutsyndrom eine Rolle. Es sei betont, dass derzeit das Burnoutsyndrom in den modernen psychiatrischen Klassifikationssystemen DSM-IV und ICD-10 nicht als psychische Störung berücksichtigt ist. Rössler (2011) aus Zürich schrieb daher jüngst: „Die Skepsis der Fachpersonen beruht zum Teil darauf, dass es keine eigentliche Diagnose ιBurnout᾿ in ICD oder DSM gibt. Voraussetzung für eine medizinisch/psychiatrische Behandlung ist jedoch immer eine Diagnose. ‚Ersatzdiagnosen‘ sind z. B. Neurasthenie, Chronic Fatigue oder am häufigsten Anpassungsstörung. Abzugrenzen ist das Burnoutsyndrom i. d. R. von der Diagnose Depression. Am Besten lässt sich Burnout als subklinische Depression definieren. Das wichtigste Kriterium ist jedoch, dass Burnout immer im Arbeitszusammenhang entsteht.“

4 Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen)

Die Termini dissoziative Störungen und Konversionsstörungen lösten den alten Begriff der hysterischen Neurose ab. Beide Bezeichnungen werden im Übrigen im Verständnis der ICD-10-Klassifikation synonym verwendet. Bei den dissoziativen Störungen bzw. Konversionsstörungen handelt es sich um neurotische, rein psychisch bedingte Störungen mit mono- oder oligosymptomatischen, pseudoneurologischen Funktionsausfällen auf den Gebieten der Willkürmotorik, Sensorik, Sensibilität und/oder Bewusstseinsregulation. Es findet sich also keine körperliche Erkrankung, welche die Konversionssymptome bzw. dissoziativen Symptome ausreichend erklären könnte. Sehr wohl ist aber eine psychogene Verursachung der Konversionssymptome bzw. dissoziativen Symptome nachzuweisen. In diesem Kontext ist auf einen schlüssigen Zusammenhang zwischen beobachteten Funktionsausfällen und relevanten psychosozialen Belastungen zu achten. Die Konversionssymptome bzw. dissoziativen Symptome können plötzlich oder schleichend auftreten; sie können von vorübergehender Natur sein oder persistieren. Am häufigsten treten dissoziative Bewegungsstörungen auf, während dissoziative Amnesie, Fugue, Krampfanfälle und Empfindungsstörungen in den westlichen Industriegesellschaften sehr viel seltener vorkommen. ◘ Tab. 8.11 fasst die Symptomatik klinisch relevanter dissoziativer Störungen oder Konversionsstörungen unter Berücksichtigung der ICD-10-Klassifikation zusammen.

Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle die in der ICD-10 berücksichtigte „multiple Persönlichkeitsstörung“ erwähnt. Die sog. multiple Persönlichkeitsstörung – oder sprachlich besser die „Störung mit multipler Persönlichkeit“, weil nach Erkwoh u. Saß (1993) nicht die Störung, sondern die Persönlichkeit multipel ist –, soll als besonders schweres und seltenes dissoziatives Krankheitsbild gelten. Im DSM-IV wird sie als „dissoziative Identitätsstörung“ bezeichnet, womit nach Fiedler (2001) deutlich zum Ausdruck gebracht werden soll, dass es sich bei ihr nicht um eine Persönlichkeitsstörung, sondern um eine dissoziative Störung handelt. In diesem Zusammenhang sei auf den US-Film „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ aus dem Jahre 1941 hingewiesen.

Differenzialdiagnostisch müssen organische Ursachen sicher ausgeschlossen werden. Deshalb ist hier eine besonders gründliche zerebralorganische, aber auch allgemeinorganische Diagnostik erforderlich.

  • Ursachen einer organischen Amnesie können unter ▶ Kap. 4.1.3 nachgeschlagen werden.

  • Häufige Ursachen einer organischen Fugue sind nach Ehrentraut et al. (2001):

    • Epilepsien, insbesondere Temporallappenepilepsien,

    • Substanzen, z. B. Alkohol, Barbiturate, LSD,

    • Schädel-Hirn-Traumata,

    • Migräne.

  • Als Ursachen für einen organischen Stupor kommen vor allem Intoxikationen mit psychotropen Substanzen, Tumoren im Bereich des Frontallappens, Enzephalitiden, malignes neuroleptisches Syndrom und metabolische Störungen in Betracht (▶ Kap. 15).

  • Multiple Sklerose und zahlreiche andere neurologische Störungen sind häufige Ursachen von organischen Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung.

Die dissoziative Symptomatik ist streng zu unterscheiden von

  • der bewussten und absichtlichen Vortäuschung und Nachahmung von Krankheitssymptomen (Simulation) oder

  • der gleichfalls absichtlichen Übertreibung tatsächlich vorhandener Krankheitssymptome und Krankheitsempfindungen (Aggravation, psychogene Überlagerung). Dies spielt vor allem bei zivil- und sozialrechtlichen Begutachtungen eine wichtige Rolle.

Des Weiteren ist zu beachten, dass dissoziative Phänomene bei einer Vielzahl von anderen psychischen Störungen auftreten können. In diesem Zusammenhang sind vor allem folgende psychiatrische Erkrankungen auszuschließen:

  • Schizophrenie (z. B. katatoner Stupor),

  • depressive Episoden (z. B. depressiver Stupor),

  • posttraumatische Belastungsstörung (z. B. psychogene Amnesie),

  • Substanzabhängigkeit (z. B. im Rahmen von Entzugssyndromen),

  • Borderlinepersönlichkeitsstörung (z. B. Identitätskonfusion).

Psychotherapeutische Verfahren stellen das Mittel der Wahl zur Behandlung von dissoziativen Störungen oder Konversionsstörungen dar (▶ Kap. 3.3). Nach Ermann (1997) gilt die Psychotherapie von Konversionsstörungen als Domäne der Psychoanalyse. Unsere klinische Erfahrung zeigt, dass gesprächspsychotherapeutische und suggestive Verfahren wirksam sind. Eine medikamentöse Therapie kommt kaum in Betracht. Zur Vertiefung empfehlen wir das Buch „Dissoziative Störungen und Konversion. Trauma und Traumatherapie“ (Fiedler 2001).

5 Somatoforme Störungen

Die Bezeichnung somatoforme Störungen löste die alten Begriffe „polysymptomatische Hysterie“ und „Briquet-Syndrom“ ab. Nach Hoffmann (1998) handelt es sich bei den somatoformen Störungen um Störungen, die wie körperlich verursachte aussehen, es aber nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht sind. Somatoforme Störungen kommen in allen medizinischen Fachdisziplinen vor. Innerhalb der klinisch-somatischen Medizin wird hierfür häufig der allgemeine Terminus „funktionelle Störungen“ synonym verwendet.

Typisch für Patienten mit somatoformen oder funktionellen Störungen ist ein Krankheitsverhalten, das als Somatisierung bezeichnet wird. Hierunter wird nach Lipowski (1988) eine Tendenz verstanden, körperliche Beschwerden und Symptome, die nicht ausreichend durch ein organisches Korrelat erklärbar sind,

  • zu erleben und auszudrücken,

  • sie einer körperlichen Krankheit zuzuschreiben und vor diesem Hintergrund,

  • medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Im Verlauf treten oftmals depressive und Angstsyndrome sowie Substanzmissbrauch sekundär auf.

Somatisierung kann sich als Reaktion auf psychosoziale Stressoren im Kontext von emotional belastenden Lebensereignissen manifestieren. In einer tiefenpsychologischen Perspektive soll hierbei die sog. alexithyme Persönlichkeit eine wichtige Rolle spielen. Alexithymie („Lesestörung für Gefühle“) ist definiert durch die Beeinträchtigung, Gefühle bei sich zu erkennen, zu erleben und zu verbalisieren. Als Folge können Emotionen nicht von körperlichen Empfindungen unterschieden werden.

◘ Tab. 8.12 fasst die Charakteristika der in der ICD-10 aufgelisteten somatoformen Störungen zusammen.

Die Diagnose einer somatoformen Störung erfordert eine umfassende psychiatrische und somatische Exploration des Patienten. Erklärende organische Ursachen müssen sicher ausgeschlossen sein. Deshalb geht es zunächst darum, sich einen Überblick über die vom Patienten angegebenen körperlichen Missempfindungen und Störungen von Funktionsabläufen zu verschaffen. Hierbei ist der SOMS-Selbstbeurteilungsfragebogen vorteilhaft einzusetzen (▶ Kap. 2.7.4). Gleichzeitig sind die bisherigen organmedizinischen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen mit dem zuweisenden somatisch-medizinischen Kollegen zu besprechen. Gegebenenfalls kann es erforderlich sein, hilfreiche Zusatzuntersuchungen zu veranlassen (z. B. Screening für Schilddrüsenfunktionsstörungen, Bestimmung der Rheumafaktoren im Serum, Sero- und Liquordiagnostik der Neurosyphilis, serologische Tests zum Nachweis HIV-spezifischer Antikörper). Es sei betont, dass das Vorliegen einer somatoformen Störung nicht grundsätzlich zusätzliche körperliche Erkrankungen ausschließt; diese dürfen aber das somatoforme Beschwerdebild nicht hinreichend erklären.

Anschließend sind die berichteten somatischen Beschwerden und Symptome psychopathologisch einzuordnen. Hierzu empfiehlt sich ein multidimensionales Beschreibungssystem von Somatisierungssymptomen und Somatisierungssyndromen (mod. nach Mayou et al. 2005), das in ◘ Tab. 8.13 zusammengefasst ist.

Die somatoforme Symptomatik ist streng von der Simulation zu unterscheiden.

Differenzialdiagnostisch sind somatoforme Störungen von den nachfolgenden psychischen Störungen abzugrenzen:

  • Schizophrenie (z. B. Zönästhesien),

  • artifizielle Störungen,

  • Panikstörung,

  • depressive Störungen (z. B. somatisierte, maskierte oder larvierte Depression).

Im Gegensatz zu depressiven Patienten weigern sich primär somatoforme Patienten in aller Regel hartnäckig, die medizinische Feststellung zu akzeptieren, dass keine ausreichende körperliche Ursache für die somatischen Symptome vorliegt. Hiernach können wir zwischen fakultativen Somatisierern (z. B. larvierte Depression) und anhaltenden Somatisierern (z. B. Somatisierungsstörung) differenzieren.

Unsere klinische Erfahrung bei der Behandlung von somatoformen Störungen zeigt, dass anhaltende Somatisierer ohne manifeste sekundäre Depression (mit Ausnahme von Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen) Dosierungen von Antidepressiva nach den Regeln der Behandlung der depressiven Episode häufig wenig oder nicht tolerieren. Auf der anderen Seite sind Antidepressiva mit dualem Wirkmechanismus, wie z. B. die SNRI Duloxetin und Milnacipran, bei somatoformen Schmerzstörungen durchaus angezeigt, weil sie analgetische Effekte entfalten können. Sie beeinflussen positiv das nozizeptive System, welches durch die absteigenden serotonergen und noradrenergen Fasern auf der spinalen Ebene moduliert wird. Es sei betont, dass das zur Therapie der somatoformen Schmerzstörung gewählte, dual wirksame Antidepressivum über mindestens 3 Monate in ausreichender Dosierung (z. B. Duloxetin 60–120 mg/die) verabreicht werden sollte. Bei allen anderen somatoformen Störungen stellen kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsverfahren das Mittel der Wahl dar. ◘ Tab. 8.14 gibt einen möglichen psychotherapeutischen Behandlungsplan für Patienten mit somatoformen Störungen wieder (nach Rief u. Hiller 1992).

6 Andere neurotische Störungen

6.1 Depersonalisations-/Derealisationssyndrom

Traditionellerweise werden in der deutschsprachigen Psychiatrie die Symptome Depersonalisation und Derealisation als nicht durch eine Ich-fremde Instanz beeinflusste Ich-Störungen aufgefasst (▶ Kap. 2.3.2, Abschn. „Ich-Störungen“). Dies hängt mit der Schizophrenielehre von Bleuler (1911) mit ihrem zentralen Modell von Spaltungsvorgängen oder Fragmentation des Ichs zusammen. In den Konzepten aus dem angloamerikanischen Raum hingegen werden Depersonalisation und Derealisation als dissoziative Phänomene verstanden, weshalb im DSM-IV die sog. Depersonalisationsstörung folgerichtig zu den dissoziativen Störungen gezählt wird. In einer psychoanalytischen Perspektive gelten Depersonalisation und Derealisation als klinische Symptome einer „schizoiden Neurose“.

Beim Depersonalisationssyndrom kommt die eigene Person den Betroffenen merkwürdig verändert, fremdartig und unwirklich vor. Beim Derealisationssyndrom erscheint die Umgebung den Betroffenen eigentümlich verändert, fremd und unwirklich.

Beispiele aus dem Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (FDS)

  • „Einige Menschen haben zeitweise das Gefühl, dass ihr Körper oder ein Teil ihres Körpers nicht zu ihnen gehört.“

  • „Einige Menschen haben manchmal das Gefühl, als betrachteten sie die Welt durch einen Schleier, sodass Personen und Gegenstände weit entfernt, undeutlich oder unwirklich erscheinen.“

  • „Einige Menschen erleben gelegentlich, dass sie in den Spiegel schauen und sich nicht erkennen.“

  • „Einige Menschen machen manchmal die Erfahrung, neben sich zu stehen oder sich selbst zu beobachten, wie sie etwas tun; und dabei sehen sie sich selbst tatsächlich so, als ob sie eine andere Person betrachteten.“

Lange u. Bostroem (1939) charakterisierten das Depersonalisations-/Derealisationssyndrom folgendermaßen: „Es ist, als ob der Körper nicht ihnen gehörte; die eigene Stimme, das eigene Spiegelbild erscheinen ihnen fremd. Das Handeln ist mechanisch, das Ich steckt nicht drin, auch in den Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht, denen der Kranke wie ein teilnahmsloser Zuschauer zusieht. Es ist, als ob Watte in den Ohren, eine Glasscheibe vor den Dingen wäre. Die anderen Menschen sind fern wie die Dinge. Meist klagen die Kranken beweglich über die Veränderung.“

Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass Depersonalisation und Derealisation Entfremdungserlebnisse ohne Realitätsverlust darstellen. Die Veränderung wird von den Betroffenen also nicht als fremdbeeinflusst oder als von außen gemacht erlebt.

Differenzialdiagnostisch sind organische Ursachen auszuschließen. Ursachen eines organisch bedingten Depersonalisations-/Derealisationssyndroms sind nach Ehrentraut et al. (2001):

  • neurologische Erkrankungen, vor allem Temporallappenepilepsien, Migräne, Gehirntumoren, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Enzephalitiden;

  • Hemidepersonalisation bei rechtsparietalen fokalen Hirnläsionen;

  • metabolische Störungen, vor allem Hypoparathyreoidismus, Hypothyreose, Hypoglykämie;

  • Substanzen, vor allem Cannabinoide, LSD.

Die Symptome Depersonalisation und Derealisation können im Verlauf zahlreicher psychischer Störungen beobachtet werden. Hierbei sind in erster Linie zu nennen:

  • beginnende primär degenerative demenzielle Erkrankungen,

  • beginnende Schizophrenie,

  • schizotype Störung,

  • dissoziative Störungen (Konversionsstörungen),

  • depressive Episoden,

  • Panikstörung,

  • posttraumatische Belastungsstörung und andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung,

  • Substanzabhängigkeit.

Therapeutisch kommen beim Depersonalisations-/Derealisationssyndrom vorzugsweise kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren und eine medikamentöse Behandlung mit SSRI in Betracht.

6.2 Neurasthenie

Im Verständnis der deutschsprachigen Neuropsychiatrie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert umfasst die Neurasthenie Zustände von Ermüdbarkeit bei erhöhter Empfindlichkeit, Missstimmung und Missempfindungen aller Art, die auf eine Schwäche oder Erschöpfung der Nervenkraft beruhen. Dabei wird mit dem historischen Neurasthenieterminus eine mögliche organische Genese verbunden. Nach Schäfer (2002) stellen das „Chronic-Fatigue-Syndrom“, die Fibromyalgie und die multiple chemische Sensitivität moderne Varianten dieses traditionellen Neurastheniekonzepts dar, da bei ihnen eine Organizität trotz Fehlens eines eindeutigen somatischen Korrelats favorisiert wird.

In der ICD-10-Klassifikation wird die Neurasthenie unter den neurotischen und somit nicht organisch bedingten Störungen kategorial erfasst. Die ICD-10-Kriterien für die Neurasthenie sind in ◘ Tab. 8.15 zusammengefasst.

Differenzialdiagnostisch sind bei Verdacht auf eine Neurasthenie auszuschließen:

  • organisch bedingte, pseudoneurasthenische Syndrome: z. B. bei Enzephalitiden, Infektionen, Hirngefäßprozessen, Residualzustand nach Schädel-Hirn-Trauma, neurodegenerativen Erkrankungen, metabolischen Störungen usw.;

  • Vorstadium und Residuum bei schizophrenen Störungen;

  • Dysthymia und depressive Episoden;

  • Anpassungsstörungen;

  • generalisierte Angststörung und Panikstörung;

  • abhängige Persönlichkeitsstörung.

Die Therapie der Neurasthenie stützt sich einerseits auf die gesprächspsychotherapeutischen und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Verfahren, andererseits auf die medikamentöse Therapie mit Antidepressiva. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass sich bei nicht depressiven Fibromyalgiepatienten die SNRI Milnacipran und Duloxetin im Rahmen von randomisierten, plazebokontrollierten Studien als wirksam erwiesen haben. Hierbei betrug die Therapiedauer jeweils 3 Monate. Milnacipran wurde zunächst in einer Dosierung von 2-mal 12,5 mg/die oder 1-mal 25 mg/die verabreicht. Die Dosissteigerung erfolgte innerhalb von 3 Wochen bis zu einer Maximaldosis von 2-mal 100 mg/die oder 1-mal 200 mg/die. Duloxetin wurde entweder in einer Dosierung von 1-mal 60 mg/die oder von 2-mal 60 mg/die appliziert. Als häufigste unerwünschte Nebenwirkungen wurden Übelkeit und Schwitzen beobachtet.

Tab. 8.1 Diagnostische Kriterien für die Zwangsstörung nach der ICD-10

Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen sind an den meisten Tagen über einen Zeitraum von mindestens 2 Wochen nachweisbar.

Zwänge zeigen nachfolgende Merkmale:

1. Sie werden als eigene Gedanken bzw. Handlungen von den Betroffenen angesehen und nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben.

2. Sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden. Mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig anerkannt.

3. Die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten. Gegen mindestens einen Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand geleistet.

3. Die Ausführung eines Zwangsgedankens oder einer Zwangshandlung ist für sich genommen nicht angenehm.

Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und Zwangshandlungen oder werden in ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den besonderen Zeitaufwand.

Die Zwangsstörung ist nicht bedingt durch eine andere psychische Störung wie Schizophrenie und andere verwandte psychotische Störungen oder affektive Störungen.

Es wird unterschieden zwischen:

Zwangsstörung mit vorherrschenden Zwangsgedanken oder dominierendem Grübelzwang

Zwangsstörung mit vorherrschenden Zwangshandlungen bzw. Zwangsritualen

Zwangsstörung mit gemischt vorliegenden Zwangsgedanken und Zwangshandlungen

Tab. 8.2 Psycho- und pharmakotherapeutische Strategien bei der Zwangsstörung und bei Zwangssymptomen im Rahmen anderer Erkrankungen

Zwangsstörung mit vorherrschenden Zwangshandlungen bzw. Zwangsritualen ohne klinisch relevante depressive Begleitsymptomatik, ohne komorbide Borderlinepersönlichkeitsstörung und ohne Gilles-de-la-Tourette-Syndrom als Begleiterkrankung

Kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychotherapieverfahren mit Reizkonfrontation oder Monotherapie mit einem SSRI in höherer Dosierung, falls der zwangsgestörte Patient für die Psychotherapie nicht motivierbar ist bzw. falls die Wartezeit für die Psychotherapie dem Arzt zu lang erscheint. Denn bei reinen Zwangshandlungen ist die Kombination aus Psycho- und Pharmakotherapie der Monotherapie mit Methoden der Verhaltenstherapie nicht überlegen.

Zwangsstörung mit vorherrschenden Zwangsgedanken oder dominierendem Grübelzwang oder Zwangsstörung mit klinisch relevanter depressiver Begleitsymptomatik

Kombination aus einem SSRI in höherer Dosierung und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Psychotherapieverfahren mit Reizkonfrontation

Zwangssymptome im Rahmen schwerer depressiver Episoden

Monotherapie mit SSRI in höherer Dosierung, keine Psychotherapie mit Reizkonfrontation

Zwangssymptome im Rahmen schizophrener und verwandter psychotischer Störungen

Monotherapie mit atypischen Antipsychotika, keine Psychotherapie mit Reizkonfrontation, evtl. zusätzlich SSRI, aber erst dann, wenn Plussymptomatik remittiert

Zwangssymptome im Rahmen eines Gilles-de-la-Tourette-Syndroms

Kombination aus einem Antipsychotikum (vorzugsweise Haloperidol, Pimozid oder Risperidon) und einem SSRI; begleitende kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen sinnvoll

Pharmakotherapie der ersten Wahl

SSRI in höherer Dosierung; antiobsessionelle Wirklatenz des SSRI beträgt etwa 6–8 Wochen; langsames Aufdosierena des SSRI bis zur angestrebten Tageshöchstdosis ratsam; Response, definiert als 20- bis 40%ige Reduktion der Zwangssymptomatik gemäß der Y-BOCS, erst nach 8–12 Wochen, aber in immerhin 60–80 % aller Fälle zu beobachten; Vollremissionen sind selten; Rückfallrate nach Absetzen des SSRI beträgt ca. 80–90 %, sodass Langzeittherapie mit adäquater Dosierung dringend zu empfehlen ist.

Pharmakotherapie der zweiten Wahl

Clomipramin in höherer Dosierung; antiobsessionelle Wirklatenz von 6 bis 8 Wochen; Response in der Regel nach 8–12 Wochen; Clomipramin ist bei der Zwangsstörung zwar wirksamer als die SSRI, aber hat als TZA ein deutlich ungünstigeres Nebenwirkungsprofil.

Vorgehen bei Therapieresistenz

Kombination aus SSRI und kognitiv-verhaltenstherapeutischen Psychotherapieverfahren mit Reizkonfrontation

Kombination eines SSRI (z. B. Fluvoxamin) mit Clomipramin. Hierbei sind EKG-Überwachung und Plasmaspiegelkontrollen erforderlich.

Augmentation eines SSRI mit einem atypischen Antipsychotikum mit Ausnahme von Clozapin, denn Clozapin soll Zwangssymptome induzieren können. Zu empfehlen ist in erster Linie Risperidon in einer Dosis von 0,5 bis 3 mg/die. Auch Aripiprazol in einer Dosis von 3 bis 12 mg/die, Olanzapin in einer Dosis von 5 bis 10 mg/die und Quetiapin in einer Dosis von 200 bis 600 mg/die sollen wirksam sein. Die Antipsychotika sind unter den besonderen Voraussetzungen des Off-Label-Gebrauchs einzusetzen.

Notabene:

– ECT und repetitive TMS sind bei der Zwangsstörung nicht wirksam.

– Traditionelle neurochirurgische Therapieansätze wie Zingulotomie und anteriore Kapsulotomie sind aus unserer Sicht wegen der Irreversibilität dieser Eingriffe und möglicher schwerer psychischer Komplikationen obsolet!

– Nach Kordon et al. (2011) könnte sich künftig die Tiefenhirnstimulation (THS) des Nucleus accumbens oder der vorderen Kapselschenkelb bei Patienten mit therapieresistenter Zwangsstörung als innovatives Therapieverfahren etablieren. Die THS ist immerhin ein reversibles und nichtdestruktives Operationsverfahren.

aBei zwangsgestörten Kindern und Jugendlichen sind langsames Aufdosieren des SSRI und häufige Kontrolluntersuchungen angezeigt, da sie initial besonders oft unter Nebenwirkungen wie Unruhe und Schlafstörungen leiden. Der SSRI Sertralin ist zur Behandlung der Zwangsstörung sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern ab 6 Jahren zugelassen.

bDer vordere Kapselschenkel und der Nucleus accumbens sind Teile des orbitofrontokortikostriatalen Kreislaufs, welcher in der Ätiopathogenese der Zwangsstörung eine wichtige Rolle spielen soll.

Tab. 8.3 Multifaktorielle Ätiopathogenese der Angststörungen

Psychosoziale Faktoren

Biologische Faktoren

Verlusterlebnisse wie Tod eines Elternteils

Genetische Einflüsse: Anteil der genetischen Faktoren an der Genese von Angsterkrankungen soll rund 30 % bei der generalisierten Angststörung, jeweils ca. 50 % bei der Panikstörung und der sozialen Phobie und etwa 70 % bei der Agoraphobie betragen.

Traumatisierende Erfahrungen wie körperliche und sexuelle Misshandlungen, Alkoholmissbrauch innerhalb der Ursprungsfamilie, schwere Erkrankung eines Elternteils, eigene schwerwiegende somatische Erkrankung

Störungen der Neurotransmission: Fehlfunktionen der serotonergen und noradrenergen Kerngebiete (z. B. Raphe-Kerne der Medulla oblongata, Locus coeruleus im Pons) sowie Veränderungen der Serotoninrezeptoraktivität stehen als pathophysiologische Erklärungsansätze für verschiedene Angststörungen (z. B. Panikstörung) zur Diskussion.

Vermehrte allgemeine Belastungsfaktoren wie das Aufwachsen bei anderen Personen als den leiblichen Eltern

Überempfindlichkeit zentralnervöser Strukturen: Eine Fehlfunktion des sog. Furchtkreislaufs mit der Amygdala als zentralem Regulationsorgan wird diskutiert.

Prägender Umgang der Eltern mit Ängsten und Sorgen (Lernen am Modell)

Somatische Faktoren: Störungen der Schilddrüse und der Nebenniere können sich ungünstig auf die Entwicklung von Angsterkrankungen auswirken.

Persönlichkeitsfaktoren wie ängstliche und abhängige Persönlichkeitszüge

 

Tab. 8.4 Charakteristika der Angststörungen nach der ICD-10

Art der Störung

Charakteristika

Spezifische oder isolierte Phobien

Deutliche Furcht vor bestimmten Objekten oder Situationen. Beispiele sind Angst vor Spinnen, Schlangen, Tauben oder Hunden, Flugangst, Angst vor Höhen oder engen Räumen, Angst vor Blut, Spritzen, AIDS oder Zahnarztbehandlungen, Angst vor Gewittern usw.

Nach Konfrontation mit den angstauslösenden Objekten oder Situationen treten verschiedene Kombinationen körperlicher und psychischer Angstsymptome auf, die sich bis zu einer Panikattacke steigern können.

Die angstauslösenden Objekte und situativen Auslöser werden vermieden.

Spezifische, isolierte oder einfache Phobien entstehen häufig bereits in der Kindheit.

Soziale Phobie

Die Angst bezieht sich auf soziale Situationen, in denen der Betroffene der prüfenden Betrachtung durch andere Menschen ausgesetzt ist. In diesem Kontext befürchtet der Betroffene, sich zu blamieren, beschämt dazustehen, sich lächerlich zu machen oder zum Gespött zu werden.

Häufige angstauslösende soziale Situationen sind: öffentlich sprechen, einen Vortrag halten, Essen und Trinken in Gesellschaft, unter Beobachtung von Autoritätspersonen eine Unterschrift leisten, Besuch öffentlicher Toiletten, Teilnahme an Kongressen, Tagungen, Diskussionen, Feiern usw.

Beim bloßen Gedanken an die angstauslösenden sozialen Situationen bzw. in den sozialen Situationen selbst treten Angstsymptome und Angstkorrelate wie Erröten, Miktionsdrang, Zittern und/oder Angst, erbrechen zu müssen, auf. Die Symptomatik kann sich bis zu einer Panikattacke steigern.

Die angstauslösenden sozialen Situationen werden vermieden.

Soziale Phobien oder soziale Angststörungen entstehen häufig erstmals in der Pubertät.

Agoraphobie

Die Angst bezieht sich auf den Aufenthalt auf Straßen und Plätzen sowie in Versammlungen (z. B. Oper, Theater, Vorträge, Vorlesungen). Auch Situationen wie Betreten von Kaufhäusern, Warten in der U-Bahn-Station auf die Metro, allein mit der Bahn, dem Bus oder dem Flugzeug reisen sind angstauslösend.

In den angstauslösenden Situationen treten verschiedene Kombinationen körperlicher und psychischer Angstsymptome auf, die sich bis zu einer Panikattacke steigern können.

Die angstauslösenden Situationen werden vermieden.

Schwere Formen der Agoraphobie fesseln den Betroffenen völlig ans Haus oder an eine Begleitperson.

Agoraphobie kann sich sekundär im Zusammenhang mit einer Panikstörung entwickeln. Hierbei stellt die Agoraphobie ein Vermeidungsverhalten gegenüber Situationen dar, in denen ein Entkommen unmöglich erscheint (z. B. größere Menschenansammlungen, öffentliche Verkehrsmittel).

Agoraphobien entstehen gehäuft zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr.

Generalisierte Angststörung

Hierbei dominiert eine über mindestens 6 Monate anhaltende, wenn auch der Intensität nach fluktuierende Angst, die sich nicht auf bestimmte Objekte oder Situationen bezieht. Die Angstsymptome sind von motorischer Anspannung, vegetativer Überaktivität und ängstlicher Erwartungshaltung begleitet.

Charakteristisch sind bedrückende und quälende Sorgen des Betroffenen um sich und seine Familie und deren Wohlbefinden. In diesem Kontext stehen übertriebene Katastrophenerwartungen im Vordergrund.

Generalisierte Angststörungen treten mit Latenz oftmals erst nach dem 40. Lebensjahr auf.

Panikstörung oder episodisch paroxysmale Angst

Typisch sind heftige Angstattacken, die anfallsartig ohne Beziehung zu situativen Auslösern auftreten. Sie gehen einher mit starken körperlichen Angstsymptomen wie Atemnot, Herzrasen, Schwitzen, Zittern, Übelkeit, Parästhesien usw.

In aller Regel stellt sich der Betroffene in der Notfallambulanz eines Allgemeinkrankenhauses vor, da sein subjektives Krankheitskonzept von einer vorrangigen organischen Genese für seine körperliche Symptomatik bestimmt ist.

Zumeist klingt die Panikattacke nach 10–30 min wieder ab.

Die mittelgradige Panikstörung ist charakterisiert durch mindestens 4 Panikattacken in 4 Wochen, die schwere Panikstörung durch mindestens 4 Panikattacken pro Woche über einen Zeitraum von 4 Wochen.

Panikstörungen entstehen gehäuft zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr.

Tab. 8.6 Wichtige Differenzialdiagnosen der Angststörungen

Konsum bzw. Entzug von psychotropen Substanzen

Koffeinkonsum

„Horrortrip“ nach Konsum von LSD und anderen Halluzinogenen

Atypische Rauschzustände nach Konsum von Cannabinoiden, Kokain und amphetaminartigen Stimulanzien

Alkohol-, Benzodiazepin- und Opioidentzugssyndrome

Arzneimittelklassen, die akute Angstsyndrome induzieren

Bronchospasmolytika wie Theophyllin und Betasympathomimetika

Schilddrüsenpräparate

Steroide

Levodopa und Dopaminergika

Psychoanaleptika

Kalziumkanalblocker

SSRI zu Beginn der Pharmakotherapie

Beta-Blocker nach abruptem Absetzen

Somatische Krankheiten mit dem Risiko akuter Angstsyndrome (◘ Tab. 8.7)

 

Demenzielle Erkrankungen

 

Substanzinduzierte psychotische Störungen (▶ Kap. 5.2.2)

 

Schizophrenie, schizoaffektive Störungen und akute vorübergehende psychotische Störungen (z. B. Angst-Glück-Psychose nach Leonhard [2003], ▶ Kap. 6.5)

 

Unipolare affektive Störungen, insbesondere depressive Episoden und rezidivierende depressive Störungen

Pragmatischerweise gilt die Diagnose der depressiven Episode als gesichert, wenn die Angststörungen mit der depressiven Episode abklingen.

Zu beachten ist, dass nach der ICD-10-Klassifikation die Panikstörung nicht als Hauptdiagnose verwendet werden soll, wenn der Betroffene bei Beginn der Panikattacken an einer depressiven Störung leidet.

Akute Belastungsreaktion und Anpassungsstörungen (z. B. Angst und depressive Reaktion, gemischt)

 

Tab. 8.5 Somatische Krankheiten mit dem Risiko akuter Angstsyndrome

Kardiovaskulär

Angina pectoris, Arrhythmien, Myokardinfarkt u. a.

Respiratorisch

Asthma bronchiale, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD: „chronic obstructive pulomonary disease“), Lungenembolie, Pneumothorax u. a.

Endokrin

Hyperthyreose, Hypoglykämie, Cushing-Syndrom, Hyperparathyreoidismus, Karzinoidsyndrom, Phäochromozytom u. a.

Metabolisch

Akutes Nierenversagen, Elektrolytentgleisungen, Porphyrie u. a.

Gastrointestinal

Ulcus pepticum u. a.

Neurologisch

Epilepsien, insbesondere Temporallappenepilepsie, vestibuläre Störungen, demyelinisierende Prozesse u. a.

Immunologisch

Anaphylaxie, systemischer Lupus erythematodes u. a.

Tab. 8.7 Empfehlungen für die medikamentöse Therapie von Angststörungen

Therapie der Wahl

Panikstörung und Agoraphobie

Generalisierte Angststörung

Soziale Phobie

1. Wahl

SSRIa,b: Escitalopram initial 5 mg/die, dann 10 mg/die (max. 20 mg/die); Citalopram 20–40 mg/die; Sertralin initial 25 mg/die, nach einer Woche 50 mg/die, bei Bedarf langsam in 50-mg-Schritten steigern, max. 200 mg/die; Paroxetin initial 10 mg/die, schrittweise Dosissteigerung bei Bedarf; max. 60 mg/die

Venlafaxin: initial 75 mg/die, bei Bedarf langsam steigern, max. 225 mg/die

SSRI: Paroxetin 20–60 mg/die; Sertralin initial 25 mg/die, nach 1 Woche 50 mg/die, bei Bedarf langsam in 50-mg-Schritten steigern, max. 200 mg/die; Escitalopram 10–20 mg/die

Venlafaxinb: initial 37,5 mg 1-mal täglich 7 Tage lang, danach Dosiserhöhung auf 75 mg/die; max. Dosis 225 mg/die

Paroxetin: 20–40 mg/die

Venlafaxin: initial 75 mg/die, bei Bedarf langsam steigern, max. 225 mg/die

 

Escitalopram: 10–20 mg/die

 
 

Duloxetin: initial 30 mg/die, Erhaltungsdosis meist 60 mg/die

 
 

Pregabalin: initial 2-mal 75 mg/die, Dosissteigerung bei Bedarf nach 1 Woche auf 2-mal 150 mg/die, weitere Steigerung möglich nach einer weiteren Woche auf 3-mal 150 mg/die, nach einer weiteren Woche bei Bedarf Steigerung auf 2-mal 300 mg/die

 

2. Wahl

Clomipraminb: initial 10 mg/die, langsam steigern bis 100 mg/die, evtl. bis 150 mg/die

Buspirone: 15–30 mg/die in mehreren Einzeldosen (max. 60 mg/die)

Moclobemid: Tagesdosis 300 mg/die, ab 4. Tag 600 mg/die in 2 Einzeldosen

Alprazolamc: initial 0,5–1 mg/die vor dem Schlafengehen; Erhaltungsdosis 5–6 mg/die in 3–4 Teilgaben

Opipramole: 50–300 mg/die

 

3. Wahl

Clonazepamc,d: 1–4 mg/die

Hydroxyzine: 50 mg/die in 3 Einzeldosen, z. B. Tagesdosis 12,5 mg–12,5 mg – 25 mg; maximale Tagesdosis 300 mg/die

Gabapentinf 600–1.200 mg/die

Lorazepamc: 2–7,5 mg/die

  

aBei der Panikstörung empfiehlt es sich, den selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer initial mit einem Benzodiazepintranquilizer zu kombinieren. Denn Patienten mit Panikstörungen zeigen unter anfänglicher Gabe von SSRI verstärkt psychische und körperliche Angstsymptome, wie z. B. Herzklopfen, Schwitzen, Zittern („Jitteriness“) und weisen erst im Verlauf der SSRI-Therapie eine signifikante Reduktion der Angstsymptomatik auf. Seit 2011 ist die Maximaldosis von Escitalopram bei älteren Patienten über 65 Jahre 10 mg täglich. Für Citalopram gilt seit 2011: Bei älteren Patienten und Patienten mit verminderter Leberfunktion wird die Maximaldosis auf 20 mg täglich gesenkt.

bDie antipanische Wirkung von SSRI, Venlafaxin und Clomipramin bildet sich in aller Regel erst mit einer Latenz von 2 bis 6 Wochen aus (antipanische Wirklatenz). Generell sollte die Dosierung der für die Therapie der Panikstörung zugelassenen Antidepressiva langsam einschleichend erfolgen, um das erhöhte Nebenwirkungsrisiko bei Panikpatienten zu minimieren.

cAuch bei Angststörungen sollten Benzodiazepine nach Möglichkeit nicht längerfristig appliziert werden, weil sich Nebenwirkungen wie Sedierung, Beeinträchtigung kognitiver Funktionen und mögliche Abhängigkeitsentwicklung nach mehrwöchiger Behandlungsdauer nachteilig auf den Ausgang von Angststörungen auswirken können. Zudem können die sedierenden und anxiolytischen Effekte von Benzodiazepintranquilizern das Reizkonfrontationstraining im Rahmen kognitiv-verhaltenstherapeutischer Psychotherapieverfahren konterkarieren.

dClonazepam (z. B. Rivotril®) ist in Österreich ausschließlich zur Behandlung von Epilepsien (vor allem bei Kindern) zugelassen.

e▶ Kap. 3.1.4

fDas Antikonvulsivum Gabapentin (z. B. Neurontin®), dessen Anwendungsgebiete Epilepsien und neuropathische Schmerzen sind, hat sich in einer plazebokontrollierten Studie als wirksam gegen die soziale Phobie erwiesen.

Tab. 8.8 Charakteristische Symptomgruppen der posttraumatischen Belastungsstörung

Symptomgruppen

Symptome

Intrusive Rekollektionen („Intrusion“)

Wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen bzw. „flashbacks“), Träumen oder Alpträumen

Plötzliches Handeln oder Fühlen, als ob das Trauma wiederkehrt

Intensive psychische Belastung und körperliche Reaktionen bei Ereignissen, die das Trauma symbolisieren oder ihm ähnlich sind

Vermeidungsverhalten

Vermeidung von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, aber auch von Aktivitäten, Orten oder Menschen wie auch Erinnerungen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen

Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern

Gleichgültigkeit gegen andere Menschen

Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber

Gefühl von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit

Anhedonie

Vegetative Übererregtheit („Hyperarousal“)

Ein- und Durchschlafstörungen

Reizbarkeit bis hin zu Wutausbrüchen

Konzentrationsschwierigkeiten

Übertriebene Schreckreaktion

Übermäßige Wachsamkeit („Hypervigilität“)

Tab. 8.9 Vorgeschlagene diagnostische Kriterien der Anpassungsstörung (AD: „adjustment disorder“) (engl. Orginalfassung von Maercker et al. [2007], dt. Version von Baumschlager u. Rothenhäusler [2011])

A

Reaktion auf ein identifizierbares, belastendes Ereignis innerhalb eines Monats nach dem Ereignis

B

Intrusive Symptome

1. Wiederkehrende, quälende und unwillkürliche Erinnerungen an das Ereignis

2. Kreisende Gedanken oder permanentes Grübeln über das Ereignis, während der meisten Tage zumindest eines Monats

3. Stress bei Erinnerung des Ereignisses

C

Vermeidung

1. Vermeidung von Reizen, die in Zusammenhang mit dem Ereignis stehen

2. Vermeidung von Gedanken, die mit dem Ereignis assoziiert sind – meist erfolglos

3. Vermeidung von Gefühlen, die mit dem belastenden Ereignis assoziiert sind

4. Bemühen, nicht über das Ereignis zu sprechen

5. Rückzug von anderen Menschen

D

Fehlanpassung

1. Interesseverlust an der Arbeit, sozialem Leben, Fürsorge um andere, Freizeitaktivitäten

2. Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafstörung

3. Mangel an Selbstvertrauen bei gewohnten Aktivitäten

Zusätzliche Charakteristikabestimmung des Subtypus

– mit depressiver Stimmung: vorwiegend depressive Symptome

– mit Angst: vorwiegend Symptome der Angst

– mit Störungen der Impulskontrolle: Beispielsweise werden die Rechte anderer durch aggressives Verhalten verletzt.

Tab. 8.10 Deutschsprachige Version der Impact-of-Event-Scale (IES)

Beschreibung des erlebten schweren traumatischen Ereignisses

Zeitpunkt

Im Folgenden sind Aussagen aufgeführt, die Menschen nach belastenden Lebensereignissen formuliert haben. Bitte beantworten Sie diese Fragen in Bezug auf Ihr belastendes Erlebnis.

Lesen Sie jede Aussage und kreuzen Sie an, wie häufig sie innerhalb der letzten 7 Tage zutraf. Wenn ein solcher Vorfall während dieser Zeit nicht aufgetreten ist, kreuzen Sie bitte die Spalte „überhaupt nicht“ an. Beantworten Sie bitte jede Frage.

Items

Häufigkeit

(1) Jede Art von Erinnerung daran weckte auch die Gefühle wieder.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(2) Ich hatte Mühe, einzuschlafen oder durchzuschlafen, weil mir Bilder davon oder Gedanken daran durch den Kopf gingen.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(3) Andere Dinge erinnerten mich wieder daran.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(4) Ich dachte daran, wenn ich nicht daran denken wollte.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(5) Ich unterdrückte meine Aufregung, wenn ich daran dachte oder daran erinnert wurde.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(6) Mir kam es vor, als wäre es nicht wahr oder als wäre es gar nicht passiert.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(7) Ich blieb allem fern, was mich daran erinnerte.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(8) Bilder davon drängten sich mir plötzlich in den Sinn.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(9) Ich versuchte, nicht daran zu denken.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(10) Mir war zwar bewusst, dass ich noch gefühlsmäßig damit zu tun hatte, aber ich kümmerte mich nicht darum.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(11) Ich hatte deswegen starke Gefühlswallungen.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(12) Ich versuchte, es aus meiner Erinnerung zu löschen.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(13) Ich habe davon geträumt.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(14) Ich versuchte, nicht darüber zu sprechen.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

(15) Meine Gefühle darüber waren wie betäubt.

Überhaupt nicht, selten, manchmal oder oft

Testauswertung

Bildung eines Summenwertes aus den 15 Items

Keine Punkte für „überhaupt nicht“

1 Punkt für „selten“

3 Punkte für „manchmal“

5 Punkte für „oft“

– Testwert von 0 bis 8 Punkten: klinisch unauffällig

– Testwert über 43 Punkte: schweres posttraumatisches Belastungssyndrom

– Testwert von 9 bis 25 Punkten: leichtes posttraumatisches Belastungssyndrom

– Testwert von 26 bis 43 Punkten: mäßiges posttraumatisches Belastungssyndrom

Tab. 8.11 Symptomatik wichtiger dissoziativer Störungen oder Konversionsstörungen

Art der Störung

Symptomatik

Dissoziative Amnesie

In der Regel besteht ein nicht vollständiger Erinnerungsverlust für traumatische Erlebnisse, z. B. Unfälle, Kampfhandlungen, Katastrophen.

Beispiel aus dem FDSa: „Einige Menschen finden manchmal Schriftstücke, Zeichnungen oder Notizen unter ihren persönlichen Gegenständen, die von ihnen stammen, an deren Anfertigung sie sich jedoch nicht erinnern können.“

Dissoziative Fugue

Plötzliche zielgerichtete Ortsveränderung aus der gewohnten Umgebung (z. B. Reise), ohne dass dies dem Betroffenen bewusst ist. Gleichzeitig besteht eine Amnesie für die eigene Identität und für die Ortsveränderung. Er befindet sich gleichsam in einem Dämmerzustand, wobei er ansprechbar ist und vordergründige Gespräche führen kann, aber eigentümlich traumhaft fern wirkt. Die Handlungsfähigkeit (z. B. Selbstversorgung) bleibt erhalten.

Beispiel aus dem FDSa: „Einigen Menschen passiert es gelegentlich, sich an einem Ort zu befinden und nicht zu wissen, wie sie dorthin gekommen sind.“

Dissoziativer Stupor

Es dominieren Erstarrung und Regungslosigkeit. Hierbei ist mit dem Betroffenen praktisch kein Kontakt mehr aufzunehmen. Er ist gewissermaßen verhaltensblockiert.

Dissoziative Bewegungsstörungen

Es liegen Funktionsausfälle auf dem Gebiet der Willkürmotorik vor, wie z. B. Gangstörungen, Sprechstörungen, Stimmstörungen, Armlähmungen bis hin zu Halbseitenlähmungen.

Beispiel aus dem FDSa: „Einige Menschen stellen gelegentlich fest, dass ihre Beine oder Arme sehr schwach sind oder sie ihre Gliedmaßen gar nicht mehr bewegen können, ohne dass ein Arzt eine körperliche Ursache finden konnte.“

Dissoziative Krampfanfälle

Dramatische Anfälle, die phänomenologisch von epileptischen Anfällen oftmals nicht zu differenzieren sind. In der Regel gehen die pseudoepileptischen Anfälle nicht mit Zungenbiss, Harnabgang und Bewusstseinsverlust einher.

Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen

Es liegen Funktionsausfälle auf dem Gebiet der Sensorik und/oder Sensibilität vor, wie z. B. Blindheit, Taubheit, Parästhesien, Hyperästhesien.

 

Beispiel aus dem FDSa: „Einige Menschen spüren manchmal Körperteile nicht mehr oder erleben eigenartige Gefühle wie z. B. Brennen, Kribbeln oder Taubheit, ohne dass ein Arzt eine körperliche Ursache finden konnte.“

aFDS: Fragebogen zu dissoziativen Symptomen. Der FDS ist ein Selbstbeurteilungsverfahren zur syndromalen Diagnostik dissoziativer Phänomene (▶ Kap. 2.7.4).

Tab. 8.12 Charakteristika der somatoformen Störungen nach der ICD-10

Art der Störung

Charakteristika

Somatisierungsstörung

Habituelle, seit mindestens 2 Jahren andauernde, multiple körperliche Beschwerden und Symptome auf den Gebieten des Verdauungssystems, des Zirkulationssystems, des Urogenitalsystems, der Haut und/oder des nozizeptiven Systems. Beispiele sind Übelkeit, Völlegefühl, Schmerzen im Bauch oder in der Magengegend, schlechter Geschmack im Mund oder stark belegte Zunge, häufiger Durchfall oder häufiger Stuhldrang, Herzrasen oder Herzstolpern, Druckgefühl in der Herzgegend, häufiges Wasserlassen, unangenehme Empfindungen im oder am Genitalbereich, ungewöhnlicher oder verstärkter Ausfluss aus der Scheide, Flecken oder Farbänderungen der Haut, Schmerzen beim Wasserlassen, beim Geschlechtsverkehr, in den Armen oder Beinen, Rückenschmerzen, Kopf- oder Gesichtsschmerzen usw.

Für die körperlichen Beschwerden und Symptome bestehen keine erklärenden pathologischen Befunde.

Schwierigkeit der Betroffenen zu akzeptieren, dass der konsultierte Arzt keine erklärenden organischen Korrelate für die subjektiv empfundenen körperlichen Beschwerden finden kann.

Häufiger Arztwechsel („doctor shopping“) und/oder Selbstmedikation

Starke Beeinträchtigung des Alltagslebens der Betroffenen (z. B. sehr hohe Anzahl von Krankenhaustagen und Arbeitsfehlzeiten)

Häufig defizitäre und traumatische Erfahrungen in der frühen biographischen Entwicklung (z. B. körperlicher und/oder sexueller Missbrauch, schwere körperliche Krankheiten von nahen Familienmitgliedern, abnorme familiäre Beziehungsmuster)

Undifferenzierte Somatisierungsstörung

Im Gegensatz zur Somatisierungsstörung bestehen die körperlichen Beschwerden und Symptome weniger als 2 Jahre und sind weniger zahlreich.

Hypochondrische Störung

Bei der hypochondrischen Störung im engeren Sinne dominiert eine seit mindestens 6 Monaten anhaltende Angst oder Überzeugung, an einer schweren und fortschreitenden körperlichen Erkrankung zu leiden. Die Betroffenen beschäftigen sich exzessiv mit der eigenen Gesundheit und es liegt eine ängstlich-misstrauische Selbstbeobachtung vor.

Bei der Dysmorphophobie im Sinne einer hypochondrischen Störung besteht eine seit mindestens 6 Monaten anhaltende und überwertige Überzeugung, dass ein Körperteil entstellt sei, obwohl der Körper objektiv als normal erscheint. Falls eine geringe körperliche Anomalität besteht, ist der Patient unverhältnismäßig stark von dem vermeintlichen Makel in seiner äußeren Erscheinung betroffen.

Somatoforme autonome Funktionsstörung

Typisch sind körperliche Beschwerden und Symptome, die sich auf ein bestimmtes Organ oder Organsystem mit prominenter autonomer Innervation zentrieren. Hierunter sind die „Herzangstneurose“, das „Colon irritabile“, der „Reizmagen“, das „Hyperventilationssyndrom“ und die „Reizblase“ zu subsumieren.

Gleichzeitig bestehen allgemeine psychovegetative Symptome (z. B. Schwitzen, Erröten, Herzklopfen).

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung

Charakteristisch sind anhaltende, länger als 6 Monate dauernde Schmerzen in einem Körperteil, die den Betroffenen stark beschäftigen und aus dem erhobenen somatischen Befund nicht konklusiv erklärt werden können (z. B. Urogenitalschmerz, Kopfschmerz, Rückenschmerz, Gesichts- und Zahnschmerz).

Tab. 8.14 Psychotherapeutischer Behandlungsplan für Patienten mit somatoformen Störungen (nach Rief u. Hiller 1992)

Ziele

Maßnahmen

1. Phase: Diagnostik und Beziehungsaufbau

Vollständige Anamnese erheben und vertrauensvolle Beziehung herstellen

Den Patienten seine körperlichen Beschwerden ausführlich darstellen lassen

Realität der Beschwerden anerkennen

Verständnis zeigen

Akzeptanz signalisieren

Behandlungsmotivation aufbauen

Klar und verständlich über Untersuchungsergebnisse informieren

Psychosoziale Belastungen identifizieren

Körperliche, depressive und ängstliche Symptome sowie psychosoziale Stressoren zusammenfassend erörtern

Unrealistische Ziele (z. B. „Heilung“) relativieren

Psychotherapeutische Möglichkeiten aufzeigen (z. B. Entspannung, Stressreduktion)

2. Phase: Selbstkontrolle und Lebensqualität

Psychosomatisches Krankheitsverständnis entwickeln

Zusammenhänge zwischen körperlichen und psychischen Prozessen demonstrieren (z. B. Symptomtagebücher, Biofeedbackmethoden)

Somatomedizinische Maßnahmen reduzieren

Termine für Arztbesuche zeitkontingentierend festlegen

Medikamentenkonsum reduzieren

Ärztliche Rückversicherungen möglichst vermeiden

Abbau von inadäquatem Schonverhalten

Aufbau von sportlichen Aktivitäten

Übernahme von Verantwortung in Familie und Beruf

Kognitive Umstrukturierung

Krankheitsängste offen ansprechen

Alternativerklärungen suchen und überprüfen

Symptomtagebücher

Verbesserung der Lebensqualität

Förderung von sozialen Kontakten

Unternehmungen in der Freizeit, Hobbys, Interessen usw.

Tab. 8.13 Multidimensionales Beschreibungssystem von Somatisierungssymptomen und Somatisierungssyndromen (mod. nach Mayou et al. 2005)

Somatische Beschwerden und Symptome

Mono-/oligosymptomatisch versus polysymptomatisch

Akuität versus Chronizität

Krankheitsbezogene Überzeugungen

Hypochondrische Ängste

Externalisierende Attributionen (z. B. Belastung durch Umweltnoxen)

Subjektive Krankheitskonzepte (organisch zentriert, stressbezogen, konfliktorientiert)

Krankheitsverhalten

Kontaktverhalten zu Ärzten bzw. Krankenhäusern

Selbstdestruktive Dimension: Anzahl invasiver Eingriffe, Suizidalität, offenes oder heimliches selbstbeschädigendes Verhalten

Psychosoziale Stressoren

Akut versus chronisch

Hinweise auf Traumatisierungen in der frühen biographischen Entwicklung

Psychosoziale und sozioökonomische Konsequenzen

Sekundärer Krankheitsgewinn

Arbeitsfehlzeiten

Frühpensionierung

Schadensansprüche

Sekundäre psychische Störungen im Verlauf

Angsterkrankungen

Depressive Störungen

Substanzabhängigkeit

Komorbide posttraumatische Belastungsstörungen

Somatoforme Störungen kommen häufig nach traumatischen Ereignissen bzw. im Zusammenhang mit posttraumatischen Belastungsstörungen vor.

Komorbide Persönlichkeitsstörungen

Somatisierungsstörungen und undifferenzierte Somatisierungsstörungen sind häufig mit histrionischen und Borderlinepersönlichkeitsstörungen vergesellschaftet.

Hypochondrische Störungen sind häufig mit narzisstischen und zwanghaften Persönlichkeitsstörungen assoziiert.

Somatoforme autonome Funktionsstörungen und somatoforme Schmerzstörungen gehen nicht selten mit abhängigen Persönlichkeitsstörungen einher.

Kontrolle über Symptomproduktion

Somatoform: unbewusste Handlung und unbewusste Motivation

Artifiziell: bewusste Handlung und unbewusste Motivation

Simuliert: bewusste Handlung und bewusste Motivation

Tab. 8.15 Diagnostische Kriterien für die Neurasthenie nach der ICD-10

Entweder liegen ein anhaltendes und quälendes Erschöpfungsgefühl nach geringer geistiger Anstrengung (z. B. nach der Bewältigung oder dem Bewältigungsversuch alltäglicher Aufgaben, die keine ungewöhnlichen geistigen Anstrengungen erfordern) oder eine anhaltende und quälende Müdigkeit und Schwäche nach nur geringer körperlicher Anstrengung vor.

≥1 der folgenden Symptome:

Akute oder chronische Muskelschmerzen

Benommenheit

Spannungskopfschmerz

Schlafstörung

Unfähigkeit zu entspannen

Reizbarkeit

Die Betroffenen sind nicht in der Lage, sich von dem anhaltenden und quälenden Erschöpfungsgefühl bzw. von der Müdigkeit und Schwäche innerhalb eines normalen Zeitraums von Ruhe, Entspannung oder Ablenkung zu erholen.

Die Dauer der Störung beträgt mindestens 3 Monate.