Zusammenfassung
Eine soziale Zwangsvorstellung, eine Zukunftsvison, die in der Übersteigerung ihrer wesentlichen Merkmale zugleich die bestehende Gesellschaft beschreibt und kritisiert. Gut ein Jahrhundert erst ist es her, seit Hegel im Staat eine Stufe der Verwirklichung des Geistes sah. »Die Vollendung der Realisation des Begriffs des objektiven Geistes wird aber erst im Staat erreicht«, schreibt er in der Enzyklopädie. (E/3, 34) Der Staat als objektiver Geist, als eine Stufe des dialektischen Prozesses, durch den sich der Geist selbst denkt und zum Wissen seiner selbst wird, als eine Stufe zum absoluten Geist und damit auch als eine Stufe in der Verwirklichung des Menschen, der im absoluten Geist gleichermaßen seinen Ursprung, sein Ziel und seine Wahrheit findet. Davon ist nicht mehr viel übrig geblieben. Der Staat erscheint nicht mehr als eine durch ihre »Wahrheit« gerechtfertigte Ordnung. Die Ordnung ist vielmehr anonoym und willkürlich. Der Mensch kann sich nicht mit dem identifizieren, was von ihm verlangt wird, seine Handlungen, die Normen und Werte, die sein Tun bestimmen, bleiben ihm fremd, und er ist so — darauf läuft die Analyse Musils immer wieder hinaus — in dieser Ordnung eigenschaftslos, oder, wie es der Erzähler an einer anderen Stelle des Romans sagt: »Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt.« (150)
»Eine solche soziale Zwangsvorstellung ist nun schon seit langem eine Art überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den anderen, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, die Vergnügungen sind in anderen Stadtteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet. Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen.« (31)
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Völse, HJ. (1990). Das Möglichkeitsdenken. In: Im Labyrinth des Wissens. Literaturwissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-20507-4_2
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