Zusammenfassung
Fremd und finster tritt in den heimatstillen Kreis der Schwaben Nikolaus Lenau, Franz Nikolaus Niembsch Edler von Strehlenau (1802–1850). Dämonisch erschien er den Stuttgarter Freunden in seiner wilden Ruh- und Heimatlosigkeit, die ihn von Ungarn nach Schwaben, zu den Urwäldern und Wasserstürzen Amerikas und schließlich in unausgesetzten Eilfahrten zwischen Wien und Stuttgart hin und wider jagte. Uhland, Kerner, Mörike, Schwab waren wurzeltief ihrer Heimat entwachsen, waren — selbst der geistersüchtige Kerner — der volkshaften Wirklichkeit liebend nah geblieben. Aber gerade dieser Gegensatz ist es, der Lenau anzieht. Denn all seine Melancholie, sein Weltschmerz ist nichts anderes als das quälende Werther-problem: die leidenschaftliche, wachsende Sehnsucht aus der unbestimmten, freien Innenwelt, dem Idealisch-Allgemeinen des Lebens in die bestimmte Einzelwirklichkeit — und doch das Zurückschaudern vor ihr aus der „Zärtlichkeit des Gemüts, welches weiß, daß im Bestimmten es sich mit der Endlichkeit einläßt, sich eine Schranke setzt und die Unendlichkeit aufgibt : es will aber nicht der Totalität entsagen, die es beabsichtigt.“ (Hegel.) Es ist das Problem, das einem jeden gesetzt ist, wenn er aus der freien Innerlichkeit, der ideellen Allgemeinheit des Jünglingslebens in die handelnde Bestimmtheit der Mannesjahre übergeht — ein Problem, das sich dem Volks-, Gesellschafts- und Familien-Verbundenen meist unmerkbar löst, da ihm die Idee schon in Sitte, Bildung und Religion bestimmt entgegentrat, das aber um so schmerzlich-schwieriger wird, je mehr sein Träger sich aus aller überlieferten Bestimmtheit der Lebens- und Weltanschauung, der Sitte und des Berufs in die restlos freie Ungebundenheit und ideelle Ganzheit des inneren Lebens verloren hat. Seine Einbildungskraft wird, je leidenschaftlicher sie ist, desto ruhloser vor der strengen Entsagung zurückschrecken, ihr Leben im Ganzen, im Idealisch-Allgemeinen zunächst preiszugeben, um sich erst an ein Einzelnes, Endlich-Beschränktes handelnd zu binden, um erst durch die Fülle des Einzelnen und Wirklichen hindurch den Weg zum Ganzen zurückzugewinnen. Nie ist dieser Zwiespalt ergreifender durch litten, dieser Kampf verzweifelter gekämpft worden, als im Leben und Dichten Nikolaus Lenaus. An immer neuen Stellen sucht er aus der gepeitschten Unrast, der dämonisch wachsenden Angst und Einsamkeit seines Innern in die Wirklichkeit durchzubrechen, um sich immer neu von der Härte und Enge des Wirklichen zurückgeworfen zu fühlen. In der typischen Reinheit und Größe dieses Lebenskampfes liegt die Bedeutung Lenaus; in ihr wurzelt die Dauer seiner Dichtungen, die einzeln und für sich meist unvollkommen und wenig selbständig sind.
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Witkop, P. (1921). Lenau. In: Die Deutschen Lyriker von Luther bis Nietzsche. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-16123-3_6
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-16123-3_6
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