Zusammenfassung
Staaten werden, wie menschliche Wesen, geboren, haben Kinderunarten, machen (wenn sie gesund sind) eine Wachstumsperiode durch und ebenso eine Zeit des Fortpflanzungstriebes, erreichen schließlich eine Epoche des Stillstandes, der höchsten Wirksamkeit, zeigen Krankheitssymptome, Zeichen des Alterns, zuweilen des Verfalls, und sterben schließlich, wenn ihre Zeit erfüllt ist. Die Geschichte führt uns mit großer Eindringlichkeit immer wieder diese organischen Erscheinungen in der Entwicklung der politischen Staaten vor Augen. Unter Umständen können einzelne Staaten ein sehr hohes Alter erreichen, aber die Regel ist dies nicht. Was ist noch vorhanden von all den glänzenden Staatsgebilden des Altertums und Mittelalters? Nur wenige hohe Säulen, die von vergangener Pracht zeugen! Die einzigen Staaten des Altertums, die ohne Unterbrechung dem Sturm der Zeiten getrotzt haben, sind China und Japan, allenfalls noch Persien, aber auch sie konnten nur durch eine Reihe von rechtzeitig erfolgten „Häutungsprozessen“ ein so hohes Alter erreichen. In dem einen Punkt unterscheidet sich nämlich das Lebewesen Staat von den anderen Lebewesen der organischen Welt: es kann unter glücklichen Umständen gelegentlich einen Verjüngungsprozeß durchmachen, der nicht selten mit einer zeitweiligen oder auch dauernden Teilung in zwei oder noch mehr staatliche Lebewesen verbunden ist. Wir sehen augenblicklich eine solche phönixgleiche Verwandlungs- und Verjüngungskur offenbar vor sich gehen in dem lange Zeit von seniler Schwäche befallen gewesenen China. Das 19. Jahrhundert hat ein besonders glänzendes und besonders typisches Beispiel dieser Art gebracht, als aus dem seit 843 bestehenden, greisenhaft gewordenen und 1806 scheinbar aufs Sterbelager gesunkenen alten deutschen Kaiserreich überraschend das Bismarcksche Reich von 1871 als junger Phönix emporstieg. Man würde geopolitisch durchaus irren, wenn man diese Schöpfung von 1870/1 lediglich nach Art eines Additions-exempels auffaßte als die Summe der vorher dagewesenen 36 staatlichen Einzelwesen, die wir dann deutsche Bundesstaaten nannten.
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Hinweise
Friedr Ratzel, Völkerkunde, 2. Aufl., Bd. II, S. 545. Leipzig-Wien 1894/5.
Leop. v. Ranke: „Englische Geschichte“, Bd. I, S. 230. Berlin 1877.
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Dieses Kapitel ist Teil des Digitalisierungsprojekts Springer Book Archives mit Publikationen, die seit den Anfängen des Verlags von 1842 erschienen sind. Der Verlag stellt mit diesem Archiv Quellen für die historische wie auch die disziplingeschichtliche Forschung zur Verfügung, die jeweils im historischen Kontext betrachtet werden müssen. Dieses Kapitel ist aus einem Buch, das in der Zeit vor 1945 erschienen ist und wird daher in seiner zeittypischen politisch-ideologischen Ausrichtung vom Verlag nicht beworben.
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Hennig, R. (1928). Die Staaten als Lebewesen. In: Geopolitik. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-15984-1_2
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-15984-1_2
Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden
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