Zusammenfassung
Seit elf Jahren ist Tolstoi nun tot. Vor kurzem am 20. November hat sich der Tag wieder gejährt, an dem er auf seiner „Flucht“ in Astapowo verschied. Aber seine Gedanken sind nicht tot. Sie fangen jetzt erst an, eine wirksame Macht zu werden; denn jetzt erst beginnen sie, die Gewissen der Menschen ernsthaft zu beschäftigen. Als Nietzsche seinen Antichrist schrieb, meinte er das Christentum zu vernichten, indem er Tolstois Auffassung des Christentums als die allein der Absicht des Stifters entsprechende bekräftigte. Denn Nietzsches Darstellung des Christentums bringt nichts Selbstgefundenes. Ihr Grundgedanke — das Nichtwider-streben gegen das Úbel als der Kern der christlichen Lehre — ist in wörtlicher Anlehnung aus Tolstoi übernommen1) und von Nietzsche nur übertrieben worden. Aber was Nietzsche als eine Widerlegung erschien, gerade das wirkt heute überzeugend. Unter dem Eindruck des Weltkriegs ist die Stimmung unter uns mächtig geworden, die mit Tolstoi nicht nur das Töten, sondern alle Gewalt überhaupt grundsätzlich verabscheut und in der, selbst mit dem Opfer des eigenen völkischen Daseins zu erkaufenden friedsamen Einigung der Völker das höchste Menschheitsziel erblickt. Sie wird vertreten, sogar am lautesten vertreten, da, wo man die religiöse Begründung, die Tolstoi seiner Lehre gegeben hat, ablehnt. Dagegen sträubt sich jedoch wieder das tief sittlich begründete Gefühl, daß ein derartiges Opfer, einem ganzen Volk zugemutet, zu hoch sei, und es regt sich der Zweifel, ob dies wirklich der echte Sinn des Christentums sei. Zwischen beidem schwankt das Gewissen nicht nur der europäischen, sondern der ganzen christlichen Menschheit jetzt hin und her; unsicher, wohin es sich wenden solle.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Anm. L. N. Tolstoi, Öffentlicher Vortrag, gehalten in der t’reufi. Akademie d. Wiss. am 20. November 1921.
Zuerst festgestellt von E. Hirsch, Jahrb. d. Luthergesellschaft 2./3. Jahrg. 1920/21, S. 98; vgl. auch dessen Darstellung Tolstois in seinem Buch „Deutschlands Schicksal“, S. 125 ff.
Additional information
Besonderer Hinweis
Dieses Kapitel ist Teil des Digitalisierungsprojekts Springer Book Archives mit Publikationen, die seit den Anfängen des Verlags von 1842 erschienen sind. Der Verlag stellt mit diesem Archiv Quellen für die historische wie auch die disziplingeschichtliche Forschung zur Verfügung, die jeweils im historischen Kontext betrachtet werden müssen. Dieses Kapitel ist aus einem Buch, das in der Zeit vor 1945 erschienen ist und wird daher in seiner zeittypischen politisch-ideologischen Ausrichtung vom Verlag nicht beworben.
Rights and permissions
Copyright information
© 1922 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Holl, K. (1922). Tolstoi. In: Tolstoi. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-15792-2_1
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-15792-2_1
Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-663-15229-3
Online ISBN: 978-3-663-15792-2
eBook Packages: Springer Book Archive