Zusammenfassung
Dch habe einen Freund, der mir folgendes berichtet: „Ich fuhr mit einem Herrn in der Bahn zusammen und muß sagen, daß wir, nachdem ich seine Verehrung für Rainer Maria Rilke festgestellt hatte, innerhalb von drei Stunden nahezu Freunde wurden.“ So geht es eigentlich nicht nur meinem Freund, sondern jedem einzelnen. Der Briefmarkensammler ist viel eher geneigt, sich einem Menschen anzuschließen, der gleichfalls dieser Leidenschaft huldigt. Der Opernfreund kann sich nur mit Menschen verständigen, die die Oper bedingungslos anerkennen. Unsere Begeisterung für eine Sache erweckt in uns einseitig Sympathien für die Menschen, die Gleiches tun. Wehe demjenigen, der dagegen zu reden wagt! Wehe dem Andersdenkenden! — Halten Sie diese Einstellung für klug? Keinesfalls! Man verrät dadurch eine gewisse geistige Verkalkung, die sich gegen alles abschließt, was der eigenen, ausgefahrenen Bahn des Denkens zuwiderläuft. Es ist doch höchst unklug, sich selbst Scheuklappen anzulegen. Dadurch werden wir zu Egoisten, die immer nur sich und ihre eigenen Interessen sehen und den Andersdenkenden als „beschränkt“ oder gar „dumm“ ablehnen. Erinnern wir uns an folgenden alten Ausspruch: „Verfallen wir nicht in den Fehler, bei jedem Andersmeinenden entweder an seinem Verständnis oder an seinem guten Willen zu zweifeln!“
Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn verleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten als den Andersdenkenden.
Friedrich Nietzsche
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Sellien, R. (1955). Der Andersdenkende. In: Kaufmanns-Brevier. Gabler Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14766-4_41
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-14766-4_41
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