Zusammenfassung
Ein unverkürzter Begriff der NEUEN SOZIALEN BEWEGUNGEN ist nur dann zu gewinnen, wenn die theoretische Bestimmung ihren Ausgang nimmt vom »gerissenen Band« zwischen Gesellschaftstheorie und sozialen Bewegungen. Dieser These war in den beiden vorangegangenen Kapiteln anhand der beiden für eine zeitdiagnostische Einordnung der NEUEN SOZIALEN BEWEGUNGEN wichtigsten Themenbereiche nachgegangen worden. Die Ergebnisse können nun im Hinblick auf vier Dimensionen zusammengefaßt werden, die die Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis in zeitdiagnostischer Perspektive umfaßt (Vgl. dazu auch Kapitel 1.):
-
1.)
Die Bestimmung der sozialen Problemlagen, von denen eine Bestimmung der NEUEN SOZIALEN BEWEGUNGEN ihren Ausgang nehmen kann, muß vor allem zwei Entwicklungen berücksichtigen: die »Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse« und die Individualisierung der Sozialstruktur. Wenn um diese beiden Motive auch die Zeitdiagnose von Ulrich Beck angeordnet ist, dann muß jedoch im Gegensatz zu Beck davon ausgegangen werden, daß diese Problemlagen nicht auf einen neuen Gesellschaftstyp im Sinne eines neuen sozialen Organisationsprinzips hindeuten. Ganz im Gegenteil scheinen die Erklärungsprobleme der Sozialwissenschaften den neuen Phänomenen gegenüber gerade dadurch verursacht zu werden, daß sich die Diskontinuität gesellschaftlicher Entwicklung den gleichen Mechanismen verdankt, die auch auf die Kontinuität kapitalistischer Vergesellschaftung hindeuten: Subsumtion aller sozialen Prozesse unter die Bedingungen der Kapitalverwertung und die Universalisierung des Lohnarbeiterschicksals.
“Inzwischen ist der Satz, daß zwei Heere, die sich bekämpfen, notwendig immer eine Schlachtlinie haben, anachronistisch. “1)
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Bernward Vesper: Die Reise, Berlin 1977; S.45
Es geht im folgenden nur um diese beiden Alternativen, da sich, wie gezeigt, der Weg einer Transformation im Verhältnis von Theorie und Praxis aus inneren Ambivalenzen heraus nach einer der beiden Seite hin auflöst.
Welche Gestalt der Revolutionsbegriff selbst auch annehmen mag und welche Differenzen zu historisch-konkreten Revolutionen zu berücksichtigen sind: Seine Basis findet er in der Marxschen Gesellschaftstheorie in der Analyse der Vermittlung von Individuum, Gesellschaft und Natur im System gesellschaftlicher Produktion und deren bloß historischer Existenzformen. (vgl. zu den Veränderungen im Revolutionsbegriff: F. Schmidt 1988). Dem genügt nicht die Versicherung, die dynamischen Gehalte der bürgerlichen Revolution hätten sich inzwischen “verstetigt wie auch trivialisiert” (Habermas 1989) und seien nicht zuletzt von den NEUEN SOZIALEN BEWEGUNGEN in “unauffälligeren Wertewandel” (ebenda) umgewandelt worden. Selbst wenn ein dem modernen Kapitalismus angemessener Revolutionsbegriff vielleicht als ein allmählicher Prozeß angesehen und “nicht mehr als Sturm auf das Winterpalais denkbar” (Claussen 1981/40) ist, so gehört zu ihm unabdingbar der Nachweis einer qualitativ anderen Organisation sozialer Einheit. Eine andere Frage ist die, inwieweit bestimmte Theoretiker, im besonderen Adorno und Marcuse, dem Begriff der Revolution gerade in den Auseinandersetzungen mit der Studentenbewegung einen positiven Gehalt zubilligen wollten bzw. zu einer solchen Bestimmung in der Lage waren. Auch wenn von Adorno in seiner Kritik der provokanten Elemente studentischen Protests (vgl. Adorno 1969/180ff) der Anschein erweckt wird, daß er weiterhin an einem eher orthodoxen Revolutions- und Politikmodell orientiert ist, dann sind die damit zusammenhängenden Fragen komplexer und bedürften einer systematischeren Analyse des Theorieaufbaus, als daß sie hier geleistet werden könnten. Zu Marcuse, für den diese Orientierung nicht mehr in gleicher Weise gilt, liegt eine entsprechende Rekonstruktion in der Arbeit von Roland Roth bereits vor (vgl. R.Roth 1985). Mutmaßlich berührt diese Frage weit eher die entscheidenden Differenzen zwischen beiden Theoretikern als der ihnen zugeschriebene Pessimismus oder Optimismus.
Auch für Marx war es schon eine der zentralen Krisenpotentiale des Kapitalismus, die Reproduktion »der Erde und des Arbeiters« zu zerstören (vgl. MEW 23/530)
Offe 1986/113. Es geht hier nicht darum, den Inhalt der »Utopie der Null-Option« zu bewerten, sondern allein die Form, in der sie entwickelt und in Bezug zu den NEUEN SOZIALEN BEWEGUNGEN gebracht wird.
Rights and permissions
Copyright information
© 1992 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Görg, C. (1992). Zum Verhältnis von Theoretischer Kritik und Sozialem Protest. In: Neue Soziale Bewegungen und Kritische Theorie. DUV Sozialwissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14580-6_6
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-14580-6_6
Publisher Name: Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-8244-4100-6
Online ISBN: 978-3-663-14580-6
eBook Packages: Springer Book Archive