Zusammenfassung
Der bisherige Durchgang durch einige der Probleme kritischer Gesellschaftstheorie hat gezeigt, daß die wesentlichen Schwierigkeiten normativer Natur sind — und das hängt wiederum mit dem prekären Status des Vernunftbegriffs unter Bedingungen der Moderne zusammen. Dieser ist wohl dadurch zu beschreiben, daß gerade in dem Moment, in dem Vernunft zum Medium und Organon humaner Selbstverwirklichung avanciert, siewie Habermas formuliert — in ihre Momente des theoretischen, praktischen und ästhetischen Wissens auseinandertritt, ohne allerdings die von Habermas supponierte formale Einheit auch real wahren zu können.1 Vielmehr scheint sich unter dem Erfolgsdruck des technischen Fortschritts wie einer als Bürokratisierung beschriebenen gesellschaftlichen Rationalisierung eine Vereinseitigung des Vernunftbegriffs auf eine Form technisch-instrumenteller Rationalität durchgesetzt zu haben. Demgegenüber scheinen Formen praktischer und ästhetischer Rationalität sozial nur noch eine residuale Funktion zu haben, und die — wie Lefèbvre schreibt2 — große Illusion der Einheit von Wahrheit, Leben und Wissen scheint sich aufzulösen. Von dieser Entwicklung bleibt natürlich das Marxsche Projekt einer kritischen Praxistheorie nicht unberührt, das auf den unmittelbaren Zusammenhang von wahrer Erkenntnis und gutem Leben setzte, so daß Lefèbvre schlicht resümiert: “... die Revolution durch das Wissen ... scheitert.”3 In dieser Konstellation liegt es nahe, soll denn der Gedanke an die Immanenz von Kritik nicht preisgegeben werden (und d.h. die Vermutung der Einheit von Vernunft und Leben), dem sozialen Leben in Gestalt des Alltagslebens selbst den Begriff von Vernunft abzugewinnen.
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Referenzen
Zu dieser Diagnose vgl. auch H. J. Jauß: Der literarische Prozeß der Moderne von Rousseau bis Adorno. In: v. Friedeburg/Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz 1983. Ffm 1983, S.95–130 (hier S.103f)
H. Lefèbvre: Critique: III. A.a. O. S.76
Ebda. S.77
So zuletzt H. G. Prodoehl: Theorie des Alltags. Berlin 1983, S.52
B. Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich. Ffm 1983, S.31ff und S.450. Auch bei Morin und Châtelet finden sich explizit Hinweise, die in diese Richtung deuten. Vgl. E. Morin: Autocritique. A.a. O. S.260 und F. Châtelet: Logos et praxis. A.a. O. S.136f
Vgl. etwa Hammerich/Klein (Hrsg.): Materialien zur Soziologie des Alltags (KZfSS-Sonderheft 20). Opladen 1978; W. Bergmann: Lebenswelt, Lebenswelt des Alltags oder Alltagswelt. A.a. O.; R. Albrecht: Alltagsleben — Variationen über einen neuen Forschungsbereich. In: Neue Politische Literatur XXVI/1 (1981), S.1–12; R. O. Neugebauer: Alltagsleben. A.a. O.; P. Alheit: Alltagsleben. Zur Bedeutung eines gesellschaftlichen Restphänomens. A.a. O.; H. G. Prodoehl: Theorie des Alltags. A.a. O.; sowie die Arbeiten von A. Heller: Das Alltagsleben. A.a. O. und Th. Leithäuser: Formen des Alltagsbewußtseins. Ffm 1976 und ds.et al.: Entwurf zu einer Empirie des Alltagsbewußtseins. Ffm 1977. Siehe auch Waidenfels/Broekman/Pazanin (Hrsg.): Phänomenologie und Marxismus, 4 Bde. A.a. O. sowie die Arbeit von R. Bubner: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. A.a. O. und die Studie von U. Matthiesen: Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen Handelns. A.a. O.
K. Meyer: Henri Lefèbvre. Ein romantischer Revolutionär. A.a. O.; Th. Kleinspehn: Der verdrängte Alltag. Henri Lefèbvres marxistische Kritik des Alltagslebens. A.a. O.; H. Müller: Praxis und Hoffnung. Studien zur Philosophie und Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis von Marx bis Bloch und Lefèbvre. Bochum 1986
So B. Waldenfels: Im Labyrinth des Alltags. A.a. O. S.31
H. Lefèbvre: La vie quotidienne dans le monde moderne. A.a. O. S.64 <dt.: S.49>
Vgl. dazu Ed Rose: Generalized self-management: the position of Henri Lefèbvre. In: Human Relations 31/1978, S.617–630 (hier S.618)
Es ist vor allem das Verdienst der Arbeit K. Meyers: Henri Lefèbvre. Ein romantischer Revolutionär. A.a. O., auf die Kontinuität des romantischen Motivs im Werk Lefèbvres aufmerksam gemacht zu haben. Indem er jedoch die Kontinuitätsthese prononciert, entgehen ihm die theoretisch entscheidenden Wendungen. Daß in dieser Werkentwicklung eine gewisse Vergleichbarkeit mit Positionen der Frakfurter Schule vorhanden ist (vor allem zu Adorno), darauf kann ich hier nur hinweisen. Vgl. etwa zu einem Überblick über den Stand der Adorno-Forschung: v. Friedeburg/Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz 1983. A.a. O. sowie einen Hinweis von M. Poster: Existential Marxism in Postwar France. A.a. O. S.248 (Anm.81)
H. Lefèbvre: La vie quotidienne dans le monde moderne. A.a. O. S.56f <dt.: S.43f>; ds.: Critique: III. A.a. O. S.15 und 20f und ds.: Critique: I. A.a. O. S.266f <dt.: Bd.1, S.253f>
Zum folgenden siehe ds.: Critique: III. A.a. O. S.16ff und ds.: Critique: I. A.a. O. S.266f <dt.: Bd.1, S.253f>
Ds.: La vie quotidienne ... A.a. O. S.62ff <dt.: S.48ff> und ds.: Critique: I. A.a. O. S.209–214 und S.175f <dt.: Bd.1, S.197–202 und 167f>
Ds.: La vie quotidienne ... A.a. O. S.60f <dt.: S.47>
Ds.: Critique: I. A.a. O. S.248f <dt.: Bd.l, S.235> und ds.: La vie quotidienne... A.a. O. S.72f <dt.: S.55f>
Ds.: La vie quotidienne ... A.a. O. S.244ff und S.140 <dt.: S.181ff und S.104>
Der zweite Band der “Critique” erscheint 1961, die in diesem Zusammenhang aufschlußreiche Arbeit “La vie quotidienne ...”, auf die ich mich im folgenden stützen werde, 1968
Ds.: La vie quotidienne ... A.a. O. S. 116 <dt.: S.87f>
Ebda. S.85<dt.:S.65>
Ebda. S.88f<dt.:S.67f>
Ebda. S.126f <dt.: S.95>. Vgl. auch den programmatischen Titel “Vers le cybemanthrope”. Paris (Denoel) 1967
Ds.: La vie quotidienne ... A.a. O. S.128f <dt.: S.96f>. So auch der Tenor einer Rezension von H. Marcuses “Triebstruktur und Gesellschaft” unter dem Titel “Eros et logos”. In: La Nef No.36/1969, S.59–65 (hier S.60f)
Ds.: La vie quotidienne ... A.a. O. S.123f <dt.: S.93f>
Mit diesem Argument wende ich mich nicht gegen die Relevanz der Krisendiagnose, sondern ich gehe umgekehrt von dieser aus und nehme das dann zum Anlaß, auf Unzulänglichkeiten des von Lefèbvre vertretenen Ansatzes zu schließen.
Ebda. S.181f <dt.: S.135>. Die Behauptung dieses Widerspruchs wird mit dem Verweis auf die europäische Nationalstaatsbildung gestützt.
Ebda. S.56 <dt.: S.43f> und ds.: Introduction à la modernité. A.a. O. S. 121–130 <dt.: S.140–151>
Ds.: La vie quotidienne ... A.a. O. S. 376 <dt.: S.278>. Siehe auch seine Ausführungen zum Begriff der “Autogestion”: Problèmes théoriques de l’autogestion. In: Autogestion No. 1/1966, S.59–70 (bes. S.64)
Ds.: La présence et l’absence. Contribution à la théorie des représentations. Paris (Casterman) 1980
Das Problem hat A. Wellmer: Wahrheit, Schein, Versöhnung. Adornos ästhetische Rettung der Moderne. In: v. Friedeburg/Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz. A.a. O. S. 138–176 deutlich gemacht.
H. Lefèbvre: Critique: III. A.a. O. S.95
Ebda. S.105f
Ebda. S.127
Ebda. S. 152
Das ist die Formulierung von W. Bonß: Empirie und Dechiffrierung von Wirklichkeit. Zur Methodologie von Adorno. In: v. Friedeburg/Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz. A.a. O. S.201–225 (hier S.203)
H. Lefèbvre: Critique: III. A.a. O. S.24 und 51
Vgl. H. Schnädelbach: Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno. In: v. Friedeburg/Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz. A.a. O. S.66–93 (hier S.89ff)
H. Lefèbvre: La présence et l’absence. A.a. O. S.128f
Ebda. S. 45f
Ebda. S. 138
Ebda. S.202
Ebda. S.202f
Ds.: Critique: III. A.a. O. S.1651
E. Morin: Les complexes imaginaires. In: Cahiers de l’Institut des Sciences Économiques Appliquées (INSEA) Sér. M, No.11–12/1961, S.73–88
Ds.: L’esprit du temps: necrose. A.a. O.; ds.: Le cinéma ou l’homme imaginaire. A.a. O.; ds.: Commune en France. La métamorphose de Plodémet. Paris (Fayard) 1967; ds.: La rumeur d’Orléans. Paris (Seuil) 1969 und ds. et al.: La croyance astrologique moderne. Paris (Age d’Homme) 21981 (Erstausgabe: Le retour des astrologues. Paris (Seuil) 1971
Eine interessante Illustration dieses Tatbestands findet sich in dem Aufsatz von H. Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. In: F.Rodi (Hrsg.), Dilthey-Jahrbuch 1/1983, S.39–56
Vgl. K. Axelos: Douze thèses lacunaires sur le problème de la praxis révolutionnaire. In: ds., Arguments d’une recherche. Paris (Minuit) 1969, S. 158–160, die in gewisser Weise die historisch-politische Plattform der Argument-Gruppe bilden. So auch ausdrücklich E. Morin: Introduction à une politique de l’homme. A.a. O. S.22f
So in den “Fragments pour une anthropologie”. In: Arguments No.18/1960, S.46–48 (hier S.47) und als Summe seiner biographisch-politischen Erfahrungen als Mitglied der Résistance und der KPF in: Autocritique. A.a. O. S.240f. Vgl. auch ds.: Introduction à une politique de l’homme. A.a. O. S.18f
Zum folgenden vgl. ds.: Introduction à une politique de l’homme. A.a. O. S.17ff
Ds.: Le cinéma ou l’homme imaginaire. A.a. O und ds.: Les stars. Paris (Seuil) 1957
Ds.: L’esprit du temps: necrose. A.a. O. S.233ff <dt.: S.216f> und ds.: Le cinéma ... A.a. O. S.31ff <dt.: S.28ff>
Ds.: L’esprit du temps ... A.a. O. S.224f <dt.: S.209>
Ebda. S. 106 <dt.:S.101>
Ds.: Commune en France ... A.a. O. Vgl. auch M. Maffesoli: La conquête du présent. Pour une sociologie de la vie quotidienne. Paris (P.U. F.) 1979 (bes. S.83–89), wo er die These erläutert, daß die Rationalisierungen der wissenschaftlichen Moderne an hartnäckigen mythischen Strukturen des Alltagsbewußtseins abgleiten.
E. Morin: Commune en France ... A.a. O. S.270ff
Die hier zitierten Beispiele bieten auf der Darstellungsebene die Möglichkeit, die Ergebnisse der Studie in einem gleichsam literarischen Spiegel zusammenzufassen. Eine ausführliche empirische Erörterung der in diesem Kontext von Morin als relevant wahrgenommenen Modernisierungsaspekte findet sich in ebda. S.229–269.
Ds.: La rumeur d’Orléans. A.a. O. S.17–116. Die Geschichte des Gerüchts wird auf den Seiten 17–37 erzählt, die Seiten 39–116 sind der Interpretation des Gerüchts als einen modernen Form mythischen Denkens gewidmet.
Ebda. S.114
Ebda. S.63 und 44ff
Ebda. S. 106
Ebda. S.115
Vgl. ebda. S. 19
Vgl. ebda. S.62, 102 und 105
Vgl. ebda. S.108
Ebda. S.115f
Ds.: Les complexes imaginaires. A.a. O. S.86f
Ebda. S.73f
Ebda. S.75ff
Ebda. S.79f
Ebda. S.82f
Diese Auffassung wird u.a. auch von G. Dux: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte. Ffm 1982 vertreten.
E. Morin: Les complexes imaginaires. A.a. O. S.83ff. Unter diese Bestimmung können dann die schon erwähnten Phänomene moderner Massenkultur subsumiert werden, die dann als Illustration des Irreduzibilitätstheorems fungieren.
Dux geht in seiner Studie weiter und rekonstruiert die Logik der Weltbildgenese im Rahmen des subjektiven Deutungsschemas. Vgl. G. Dux: Die Logik der Weltbilder. A.a. O.
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Schmalz-Bruns, R. (1989). Die Kritik des Alltagslebens. In: Alltag — Subjektivität — Vernunft. Studien zur Sozialwissenschaft, vol 81. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14513-4_4
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