Zusammenfassung
Die bisherigen Überlegungen orientieren sich allein an der Frage, wie ein Bewußtsein seine Zeitlichkeit durch Akte in der Zeit operativ konstituiert. Einer soziologischen Theorie der Zeit scheint dieser Befund einer bewußtseinsbasierten Selbstkonstitution von Zeit jedoch zunächst den Boden unter den Füßen zu entreißen, denn wie soll die Brücke von der bewußtseinsbasierten Konstitution von Zeit zu den gesellschaftlich wirksamen Temporalitäten — man denke nur an die Uhrzeit — zu schlagen sein, wenn man aus epistemologischen Gründen reale Zeit nicht mehr annehmen kann? Als real bezeichnet die philosophische Tradition bekanntlich Seiendes, das unabhängig von seiner bewußtseinsmäßigen Repräsentation existiert.1 Der theoretische Zugang zu einer solchen realen Zeit scheint aber auf den ersten Blick die conditio sine qua non einer soziologischen Theorie der Zeit zu sein, für die die bewußtseinsmäßige Konstitution von Dauer nur von sekundärer Bedeutung sein dürfte. Ich werde dazu zunächst kurz auf die Diskussion der analytischen Philosophie um die Irrealität bzw. Realität der Zeit eingehen (1.). Danach wende ich mich der Entwicklung von der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zur Phänomenologie des intersubjektiven Zeitbewußtseins zu (2.) und komme dabei auf Husserl zurück, dessen Phänomenologie ihre egologische Beschränkung durch eine Theorie der Intersubjektivität zu überwinden sucht, anhand derer sich auch die Zeit des anderen phänomenologisch aufweisen lassen soll. Daran schließt eine kritische Analyse der Adaption und Weiterentwicklung der Husserlschen Intersubjektivitätstheorie durch Alfred Schütz an. Schließlich frage ich im Anschluß an George Herbert Meads Handlungstheorie und Alfred North Whiteheads Prozeß- und Ereignisphilosophie nach der epistemologischen Relativität und der Sozialität und praktischen Intersubjektivität der Zeit (3).
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Literatur
Für viele andere Formulierungen vgl. das Krönersche Philosophische Wörterbuch (Schmidt 1982: 572): “real (lat.), wirklich objektiv, nicht nur in Gedanken seiend (…).” Ob ein solches Verständnis von Realität einer soziologischen Theorie standhalten kann, darf nicht unbefragt hingenommen werden. Vgl. dazu ausführlich 111.3.
Bieri rekurriert bei dieser Diagnose auf eigene Bemerkungen Husserls, die sich durchaus in der angedeuteten Richtung interpretieren lassen, etwa aus § 11 der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins: “An jede dieser Retentionen schließt sich so eine Kontinuität von retentionalen Abwandlungen an, und diese Kontinuität ist selbst wieder ein Punkt der Aktualität, der sich retentional abschattet.” (Husserliana X: 29) Eine andere Stelle aus der Beilage Nr. 50: “Die Wandlung besteht darin (…), daß stetig ein immer neues Ton-Jetzt das in Modifikation übergegangene ablöst.” (ebd.: 326)
Ob der Terminus “Erklärung” für diesen Sachverhalt glücklich gewählt ist, scheint mir zweifelhaft - auch wegen der wissenschaftstheoretischen Konnotationen, die dieser Begriff beinhaltet (vgl. nur Riedel 1978: 9ff. et passim; Apel 1979; Schwemmer 1987: 93ff.; Stegmüller 1969: 72ff.). Glücklicher wäre es gewesen, sich auf die “notwendigen und hinreichenden Bedingungen” der Möglichkeit zu beschränken. Vielleicht will Bieri eine zu starke Anlehnung an die Begrifflichkeit der transzendentalen Methode Kants vermeiden. Er kommt jedoch trotzdem nicht umhin, auf diese Parallelität selbst aufmerksam zu machen (vgl. Bieri 1972: 203, Anm. 14).
Dieses Argument mag hier noch recht apodiktisch klingen. Ich werde es jedoch weiter unten noch einmal aufnehmen (vgl. IlI.3c).
Zum Leibnizschen Monadenbegriff vgl. Poser 1984: 117ff.
Unter Primordialität versteht Husserl den jeweiligen individuellen Horizont egos, der sich ursprünglich durch die Konstitutionsleistungen des jeweiligen Bewußtseins in der strömenden Gegenwart der immanenten Zeit ergibt. Mit ihm korreliert der Begriff der Urimpression als bewußtseinsmäßige, nicht auf Fremdes reduzible Selbstgegenwart. Zu Sprachgebrauch und Schreibweise bemerkt Held: “Das Adjektiv primordial ist abgeleitet von lat. primordium (=Uranfang, Ursprung, A.N.) und nicht von einem Kompositum mit ordo (=Ordnung, Reihenfolge, A.N.). Die gelegentlich auch bei Husserl auftretende Form ‘primordinal’ ist demnach falsch und sollte aus dem philosophischen Sprachgebrauch verschwinden.” (Held 1972: 31, Anm. 37) Im folgenden werde ich den korrekten Sprachgebrauch wählen, wörtliche Zitate jedoch selbstverständlich in der von Husserl gestalteten Form wiedergeben.
Den Relativismus als Behauptung der Unmöglichkeit von Wahrheitsgeltung überhaupt weist Husserl mit dem Hinweis zurück, daß relativistische Thesen ihrem Inhalt widersprechen: “Der Inhalt ihrer Behauptungen leugnet das, was überhaupt zum Sinn oder Inhalt jeder Behauptung gehört und somit von keiner Behauptung sinngemäß abtrennbar ist.” (Husserliana XVIII: 123) Mit dieser Bemerkung liegt also schon eine frühe Form des Vorwurfs des performativen Widerspruchs vor.
Innerhalb des von Held abgesteckten Rahmens ist diese Umkehrung auch deshalb plausibel, weil die Vorgängigkeit der Thematisierung des anderen vor der unthematischen Voraussetzung der Welt als Welt zu folgender Konsequenz führen würde: “Das Auftreten des Mitsubjekts geht bewuBtseinsgeschichtlich aus einer Aktivität des Vollziehers hervor, es hat mithin einen Anfang, folglich ist eine bewußtseinsgeschichtliche Phase ohne Mitsubjekt anzunehmen. Die primordiale Reduktion ist dann kein bloß methodischer Kunstgriff, sondern Rückgang auf ein Früher im Bewußtseinsleben; denn die Überschreitung der Primordialität ist eine aktive Genesis. Fazit: Am Anfang des Bewußtseinslebens steht ein transzendentaler Robinson.” (Held 1972: 49 )
Ähnlich spricht Hans Blumenberg von “intersubjektiver Retention” (Blumenberg 1986: 301).
Nur am Rande: Habermas nimmt Husserl nicht in seine Studie zum “Philosophischen Diskurs der Moderne” (Habermas 1985) auf, obwohl man auch bei Husserl jene von Habermas an verschiedenen Stellen des philosophischen Dikurses aufzuspürende Wende vom Logozentrismus der propositionalen Geltung (vgl. Habermas 1988b: 58f.) in Richtung einer mehrdimensionalen Vernunft beobachten kann. Bekanntlich geht es Habermas darum, nicht nur Wahrheitsfragen (Konstativa über die objektive Welt), sondern auch Gerechtigkeits- (Normativa über die soziale Welt) und Geschmacksfragen (Expressiva über die subjektive Welt) in den Kanon des Vernünftigen aufzunehmen. Husserls Beschreibung der monadischen Koexistenz als Verständigungsgemeinschaft (vgl. Husserliana XV: 208) weist exakt in jene Richtung. Das, was als gemeinsame Welt behandelt wird, ist dann nicht eine vorgegebene Welt eindeutiger Bedeutungs-und Wahrheitsgehalte, sondern bildet sich erst durch die gemeinsame intentionale Konstitutionsleistung von Subjekten. Husserl gehört aber für Habermas trotz dieses modernen, konstruktivistischen Wahrheits-und Weltverständnisses nicht zu jenem philosophischen Diskurs der Moderne, den er untersucht. Denn anders als Nietzsche, Heidegger, Derrida und Foucault ist es Husserl nicht darum zu tun, das subjektphilosophische Paradigma aufzuheben. Husserl beabsichtigt vielmehr das Inter der Subjekte eindeutig subjektphilosophisch, also von den “primordialen Vermöglichkeiten” egos her, zu verstehen.
Neben dem unmittelbaren temporalen Horizont der Kopräsenz weist Husserl der Geschichte als historischer Relativität von Geltung im Sinne einer Sedimentierung von Sinn in historischer Generativität eine entscheidende Bedeutung zu. Geschichte wird damit selbst zum Generator für die Geltungsrelativität von Welt als werdender Welt. Sie ist selbst von modalisierter Zeitstruktur und nicht bloß eine B-Reihe von Ereignissen, die sich etwa dem Historiker als A-Reihe darstellt. Dieser steht vielmehr selbst in der Geltungsrelativität einer gewordenen Welt, die ihm den Horizont der Geschichte in der entsprechenden Weise eröffnet. Vgl. dazu ausführlicher I11.2c. Ernst Tugendhat weist darauf hin, daß Husserl sowohl die Geltungsrelativität der Geschichte als auch die geschichtliche Relativität der Behauptung der Geltungsrelativität der Geschichte reflektiert. Vgl. dazu die Überlegungen “Die Geschichtlichkeit der Wahrheit und die Wahrheit des Geschichtlichen” in Tugendhat 1967: 245–255.
Wie Husserl operiert Schütz reflexionstheoretisch: “Denn da der Begriff des sinnvollen Erlebnisses immer voraussetzt, daß das Erlebnis, dem Sinn prâdiziert wird, ein wohlunterschiedendes sei, so zeigt sich mit großer Klarheit, daß Sinnhaftigkeit nur einem vergangenen, d.h. nur einem Erlebnis zuerkannt werden kann, das sich dem rückschauenden Blick als fertig und entworden darbietet. (…) Nur das Erlebte ist sinnvoll, nicht aber das Erleben. Denn Sinn ist nichts anderes, als eine Leistung der Intentionalität, die aber nur im reflexiven Blick sichtbar wird.” (Schütz 1981: 69) Auch hier spielt demnach die urimpressionale Gegenwart der Selbstgegebenheit die zentrale Rolle für die operative Konstitution der Identität in der Zeit.
Man könnte sagen, daß mit Schütz der quasi versteckte Kantianismus Webers erst zum Tragen kommt. Zum Weberschen Kantianismus vgl. Schluchter 1988: 80ff.
Gegen einen irreführenden Sprachgebrauch betont Thomas Luckmann zu Recht, daß es eine phänomenologische Soziologie nicht gebe und auch nicht geben könne (Luckmann 1979: 196). Gleichwohl schließt er an Schutz an, wenn er meint, die Phänomenologie könne die “invarianten (!; A.N.) Strukturen des Alltagslebens” (ebd.: 205) freilegen, die bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen für die Konstitution der Sozialwelt. Auch hier liegt also die Annahme zugrunde, daß sich die Sozialwelt unter Rekurs auf den Bewußtseinsstrom Handelnder erklären ließe. Dies mag hier noch unkommentiert bleiben, wird jedoch weiter unten diskutiert (vgl. Ill.la und c).
Der Begriff des Idealtyps hat hier eine andere Bedeutung als bei Max Weber, schließt aber unmittelbar an dessen Konzept an. Bei Weber ist der Idealtyp ein methodologisches Konstrukt des Sozialforschers, der durch Überzeichnung signifikanter Merkmale besonders typische Phänomene hervortreten lassen will, um die durch akzidentelle Besonderheiten von konkreten Phänomenen entstehenden Unschärfen zu vermeiden. Folgerichtig sind Idealtypus und Realphänomen niemals eindeutig aufeinander abbildbar. Schütz sieht im Idealtypus ein ähnliches Phänomen wie Weber, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, daß es sich hier nicht um eine wissenschaftliche Methode, sondern um ein Strukturmerkmal der Alltagswelt handelt. Wie der Sozialwissenschaftler operieren Alltagshandelnde mit überzeichneten Typen, anhand derer sich Phänomene in der Sozialwelt leichter auffmden, zuordnen, erwarten und in ihrem Ablauf kalkulierbar machen lassen. ralisierung der eigenen Erfahrung“ (Habermas 1982: 234), daß Schütz die phänomenologische Einstellung verläßt und nach Kategorien sucht, die historisch-konkrete Lebenswelten zu beschreiben vermögen. Bekanntlich bildet bei Habermas schon in der Frühphase seines Werkes Sprache die entscheidende Trägerin der Intersubjektivität der Welt. Sprache erst macht die Welt zur Sozialwelt, was Habermas zu der sicher grundsätzlich berechtigten Kritik veranlaßt, das phänomenologische Denken könne durch seine monadologische Anlage die Funktion und Struktur von Sprache nicht entschlüsseln. ”Die Monaden spinnen die sprachliche Intersubjektivität erst aus sich heraus. Noch ist Sprache nicht als Gespinst durchschaut, an dessen Fäden die Subjekte hängen und an ihnen zu Subjekten sich erst bilden.“ (ebd.: 240) Gleichwohl trifft diese Kritik Schütz nur am Rande, der zwar die Konstitutionstheorie der inneren Dauer der Subjekte voraussetzt und von Husserl nahezu nahtlos übernimmt, als Sozialtheoretiker aber explizit nach dem übersubjektiven Sinnzusammenhang der sozialen Welt fragt.1ó Deutlich wird diese Erweiterung Husserls, wie angedeutet, in der Einführung des Zeichenbegriffs.
Ähnlich argumentiert Ilja Srubar (1979: 43f.), der Habermas’ Schütz-Kritik vorwirft, den Unterschied zwischen Schütz und Husserl einzuebnen, so auch Grathoff 1989: 30, Fn 13.
Vgl. dazu die “zeichentheoretische” Kritik Derridas an Husserl, I.2e.
In einer sehr instruktiven Arbeit macht Ilja Srubar darauf aufmerksam, wie Schütz sich zwar von der Phänomenologie Husserls abkoppelt und - wie ich oben gezeigt habe - über den Zeichenbegriff eine nicht primordial egologische Kategorie einführt, trotzdem aber am bewußtseinstheoretischen Paradigma festhält (vgl. Srubar 1983: 68ff.).
Diese Kritik schließt jedoch keineswegs einen produktiven Rekurs auf die Schützsche Sozialphänomenologie aus. Im Gegenteil: Die Schützsche Soziologie kann sich da bewähren, wo es in erster Linie darauf ankommt, die Frage der Rückwirkung sozialer Sinnstrukturen auf das individuelle Bewußtsein zu untersuchen. Als Beispiel vgl. die Ausführungen zur Frage einer sozialen Verdrängung des Todes in der Moderne in Nassehi und Weber 1989: 164ff. Es dürfte dort jedoch deutlich werden, daß bei der Analyse der Genese solcher rückwirkenden Wissensstrukturen andere Theoriemittel angewandt werden müssen und auch werden, nämlich solche gesellschaftstheoretischer Art.
Walter L. Bühl sieht in dieser bloßen Voraussetzung Ich-bewußter Perspektiven, d.h. in der “Generalthesis des alter ego”, eine “soziologische Leerstelle” (Bühl 1972: 45), die egos als letztlich transzendental zu begründende “Aprioris” behandelt. Daß auch das bewußte Ich möglicherweise anders als bewußtseinsphilosophisch beschrieben werden kann, werde ich weiter unten zeigen (vgl. II.3a und b und fII.lc).
Alle nicht unmittelbar als Vis-a-vis-Situationen fundierten Sozialverhältnisse erscheinen dann als defizienter Modus dieser, so vor allem in den auf Schütz aufbauenden)berlegungen zur “gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit” von Peter Berger und Thomas Luckmann (1969).
Nur der Vollständigkeit halber, weil immer wieder darauf hingewiesen wird (zuletzt Adam 1990: 35ff.): Schutz legt Wert auf die Unterscheidung von Handeln und Handlungen. Während ersteres den je unmittelbar präsenten Vollzug des Handelns bezeichnet, sind letztere bereits das Ergebnis eines vergangenen Vollzuges (vgl. SchUtz/Luckmann 1984: 27 ). Letztlich bildet sich hier das Husserlsche Modell der Differenz von vorreflexiver Urimpression und reflexiver Retention ab. Fur meinen Argumentationsgang spielt dieser Unterschied jedoch keine Rolle.
So Srubar auch schon in seiner Frankfurter Dissertation “Glaube und Zeit” (Srubar 1975: 33ff. und 102ff.).
Ich schließe mich damit der Argumentation von Gerhard Schmied ( 1985: 34f.) an, die den expliziten und impliziten Einfluß Bergsons auf die soziologische Theoriebildung zum Zeitproblem betont. Schmied stellt heraus, daß die Soziologie von Bergson zwar die Opposition qualitativer und quantitativer Zeitformen übernimmt, sie jedoch nicht an die Differenz innere/äußere Zeit, sondern soziale/kosmische Zeit anlegt. Ob diese Opposition für neueste Theorieniveaus noch gelten kann, wird weiter unten problematisiert werden (vgl. I V ).
Was Sorokin und Merton übrigens bestreiten. Zur Kritik vgl. wiederum Schmied 1985: 45f.
Zu den Konsequenzen dieser Unterscheidungen für das Verständnis von Zeit vgl. IV.6a.
Vgl. meine kurzen Bemerkungen zu Husserls Begriff der Geschichte, II.2a.
Zur Schreibweise: Es gibt keine kritische Gesamtausgabe des Meadschen Werkes in deutscher Sprache, so daß die tlbersetzungen nicht aufeinander abgestimmt sind. Während die von Joas edierte Ausgabe der gesammelten Aufsätze (Mead 1980 und 1983) die Begriffe I und Me mit Ich und Mich übersetzt, spricht die deutsche Ausgabe von “Geist, Identität und Gesellschaft” (Mead 1988) von Ich und ICH. Soweit nicht daraus zitiert wird, halte ich mich an die Joas-Edition.
So bestimmt bekanntlich Manfred Frank (1986: v.a. 116ff.) in kritischer Abhebung gegen die klassische Reflexionsphilosophie des Subjekts und in Anlehnung an Schleiermachers Hermeneutik den Begriff der unhintergehbaren Individualität.
Vgl. dazu in einem anderen Kontext IV.5c.
Durch exakte Berechnung der wahrgenommenen Ungleichzeitigkeit lassen sich die Atomuhren der verschiedenen weltweiten Laboratorien internationaler Zeitmessung - in der Bundesrepublik die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig - miteinander zur Internationalen Atomzeitskala TAI (Temps atomique international) synchronisieren. Vgl. dazu Sexl/Schmidt 1990: 23ff.
Auf die parallelen Ausgangslagen von Whiteheads und Husserls relativistischen Theorien der perspektivischen Konstitution von Zeithorizonten macht Wolfe Mays (1972: 357) aufmerksam.
In eine ähnliche Richtung weist Jacques Derridas Kritik des Strukturalismus, die in der Annahme einer vorgängigen Struktur den Prâformismus beerbt: “Die wohlbekannte biologische Lehre, die einer Epigenese entgegengesetzt ist und derzufolge das Ganze der erblichen Charakterzüge im Keim in actu in verkleinerten Dimensionen angelegt ist, die nichtsdestoweniger die Formen und Proportionen des zukünftigen Erwachsenen schon enthalten.” (Derrida 1972: 41) Diese “implizite Metaphysik jedes Strukturalismus” (ebd.: 43) muß, so Derrida, aus methodologischen Gründen an der Beobachtung von “Nichtvollendetem oder Fehlerhaftem” (ebd.: 46) scheitern, es entweder unsichtbar machen oder es in den “Rang eines abweichenden Zufalls” (ebd.) verweisen. Für Derrida ist dagegen gerade das Unkalkulierbare, das Neue, das Abweichende und die irreduzible Zeichenvermitteltheit der Welt und deren notwendige Unansichtigkeit für uns erklärungsbedürftig (vgl. Derrida 1988). Was hier mit Whitehead “kreatives Fortschreiten” genannt wird, widerspricht letztlich einer strukturalistischen Perspektive. Derrida kann demnach als Fürsprecher einer ereignisbezogenen Theorieanlage in Anspruch genommen werden, die hinter jeder strukturalistischen Einschränkung eine Totalität des Sinns, also letztlich eine theologische Absicht vermutet. Zugleich aber sieht Derrida nicht an der empirischen Einschränkung der ereignishaften Welt vorbei. Er versucht also, Strukturbildung durch Ereignisbezug zu erklären, vielleicht könnte man sogar modern sagen: Ordnung durch Chaos (vgl. dazu Gleick 1988): “Und wenn der Sinn nur in einer Totalität Sinn ist, wie könnte er dann entstehen, wäre die Totalität nicht durch die Vorahnung eines Endziels beseelt, durch eine Intentionalität, die übrigens nicht notwendig und nicht in erster Linie die eines Bewußtseins zu sein braucht? Wenn es Strukturen gibt, dann sind diese aufgrund jener fundamentalen Strukturen möglich, durch die die Totalität sich öffnet und absticht, um im Vorgriff auf ein Telos, das hier in seiner unbestimmten Gestalt zu verstehen ist, Sinn anzunehmen. Diese Öffnung ist freilich das, was die Zeit und die Genesis freisetzt (und die sich sogar mit ihnen vermischt), sie ist aber auch das, was durch seine Information die Gefahr birgt, das Werden einzuschließen und die Kraft unter der Form zum Schweigen zu bringen.” (Derrida 1972: 47 )
Bereits Aristoteles bindet Zeit an Schnitte, d.h. an die Unterscheidung von Jetztpunkten, allerdings noch gebunden an den Bewegungsbegriff (vgl. Aristoteles, Phys.: IV 219a; vgl. auch I. 2a ).
Der Meadsche Begriff “the emergent” wird in der deutschen Ausgabe der Philosophie der Sozialität mit “das Neu-Entstehende” übersetzt (vgl. Mead 1969: 230). Es läßt sich aber generell fragen, wie der schillernde Begriff “Emergenz”, der derzeit in verschiedensten Kontexten gebraucht wird, zu verstehen ist. Manfred Stöckler (1990) unternimmt den begrüßenswerten Versuch, den vieldeutigen Begriff auf seine Aussagekraft hin zu untersuchen. Er geht davon aus, daß eine fruchtbare Verwendung des Begriffs nur dann gewährleistet ist, wenn er nicht allein die Trivialität bezeichnet, daß es Neues gibt und geben kann. Entscheidend ist vielmehr, daß emergente Phänomene nicht auf ihre Komponenten reduzierbar sind, sondern daß gerade die Nichterklärbarkeit des Phänomens durch die Erklärung seiner einzelnen Komponenten erst auf Emergenz aufmerksam macht. Stöcklers Defmitionsvorschlag lautet: “Emergent sind diejenigen Eigenschaften komplexer Systeme, die nicht allein mit Hilfe jener Teiltheorien und Strategien erklärt werden können, die ausreichen, um das Verhalten der isolierten Komponenten zu erklären. Von Emergenz spricht man aber nur dann, wenn das Erklärungsarsenal wesentlich gegenüber dem Minimalinhalt erweitert werden muß, der ausreicht, um die Komponenten zu erklären.” (ebd.: 19) Quintessenz dieser Definition ist, daß man es bei emergenten Phänomenen offenbar immer mit Zusammengesetztem zu tun hat, das - um eine beliebte Formel aufzugreifen - mehr ist als die Summe ihrer Teile. Stöcklers Fokus liegt auf der wissenschaftstheoretischen Fragestellung, wie sich verschiedene Theorien zueinander verhalten bzw. welche Phänomene auf die Erklärungskraft einer bestimmten Theorie reduzierbar sind. Beispiel: Ohne Zweifel lassen sich Lebewesen oder auch ihre Teile als physikalische Objekte beschreiben, doch verhält sich das Leben als spezifischer Gegenstand der Biologie emergent zu den Gegenständen der Physik, auch wenn beide Wissenschaften hier auf den ersten Blick mit dem gleichen Untersuchungsgegenstand zu tun haben. Der hier verwendete Begriff der Emergenz trägt zwar einige Charakteristika des Stticklerschen Definitionsversuchs, unterscheidet sich aber von diesem in einem entscheidenden Punkt. Auch Mead geht es in der Beschreibung von Emergenz darum, eine Realitätsebene zu beschreiben, die sich in ihrer Beschreibung nicht auf die Bestimmung anderer Phänomene reduzieren läßt. Im Klartext: Das je gegenwärtige Ereignis ist zwar Anschlußereignis eines vorherigen, doch läßt es sich nicht eineindeutig von diesem vorherigen Ereignis ableiten. Der entscheidende Unterschied zu Stöcklers Variante liegt darin, daß es Mead - wie Übrigens auch Whitehead - hier nicht primär um das Problem der wissenschaftlichen Beschreibung von beobachtbaren Phänomenen geht. Ihre Perspektive ist vielmehr kosmologischer bzw. ontologischer Natur. Danach ist alles, was geschieht, also das Auftreten jedes Ereignisses, letztlich ein emergentes Phänomen, weil sich Ereignisreihen nicht vorgängig durch strukturdeterminierende Entwicklungslogiken eingeschränkt sehen. Daraus jedoch ergibt sich das Problem, daß diese prinzipielle Offenheit von Ereignisreihen stets sehr wohl durch Strukturen eingeschränkt wird. Ich werde sogleich darauf zu sprechen kommen.
Theologisch gesprochen, liegt also eine creatio continua vor, eine Art permanenter Schöpfung, die aber explizit nicht aus dem Nichts, sondern aus je gegenwärtigen Anfangsbedingungen heraus zu erklären ist. Gegen die scholastische Dogmatik des ex nihilo setzt Pierre Teilhard de Chardin, der stets eine Verbindung zwischen theologischer Tradition und naturwissenschaftlichem Evolutionismus herzustellen suchte, den Begriff einer transformatio creatrix (schöpferische Transformation), die das Neue stets in Relation zum bereits Geschaffenen setzt (vgl. Teilhard de Chardin 1972: 28 ).
Davon unberührt bleibt übrigens die - zugegebenermaßen banale - Tatsache, daß sich nicht jedes Ereignis selbst als “neu” im Sinne von andersartig definieren muß. Doch auch die Wiederholung eines Ereignisses ist letztlich emergent, weil sie nicht ohne Rest auf die Beschaffenheit des vorherigen Ereignisses verrechnet werden kann.
Den Theologen Welker interessiert dabei naturgemäß nicht die Frage, wie sich ein metaphysischer Rekurs auf den Letztbegriff Gott vermeiden läßt, sondern wie sich angesichts der Relativität der Welt die Universalität Gottes überhaupt denken läßt.
Von hier aus wird plausibel, warum Meads Werk “The Philosophy of the Present” in deutscher Übersetzung “Philosophie der Sozialität” heißt. Jedoch bedauert Joas - wie ich meine mit Recht -, daB mit dieser Übersetzung die bewußte Zweideutigkeit des Titels einer “Philosophie der Gegenwart” verlorengeht (vgl. Joas 1989: 164 und 231, Anm. 1). Denn ohne Zweifel behandelt das Buch sowohl eine Philosophie der je gegenwärtigen Emergenz als auch eine systematische Einschätzung der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts.
Obwohl Mead an einer Stelle auf Leibniz’ Monadologie eingeht. Dabei geht es ihm jedoch nicht um die prästabilierte Harmonie der Monaden, sondern um eine Abgrenzung gegen die Whiteheadsche “Variante des von Spinoza stammenden Begriffs der ‘grundlegenden Substanz’ (underlying substance)” (Mead 1969: 216) und gegen den platonischen Dualismus, die er im Spiegelungsprinzip der Leibnizschen Monaden zu entdecken meint. In der Monadologie sieht Mead ein Beispiel für die Bedeutung des ereignishaften Einzelwesens.
Allerdings gesteht Mead durchaus einen Weltbegriff zu, der die Gesamtheit der Welt als Transzendenz der Perspektiven bezeichnet. Diese, wie er sagt, “Gesamtheit der Perspektiven in ihren Wechselbeziehungen zueinander” (Mead 1969: 216) jedoch tritt an die Stelle eines substantiellen Weltbegriffs, der eine Welt als Entität sui generis beschreibt, an der individuelle Perspektiven nur in unterschiedlicher Weise partizipieren.
Auf diesen Unterschied machen Werner Bergmann und Gisbert Hoffmann (1985: 107f.) aufmerksam.
Dewey skizziert den Dualismus von Reiz und Reaktion folgendermaßen: “Instead of interpreting the character of sensation, idea and action from their place and function in the sensori-motor circuit, we still incline to interpret the latter from our preconceived and preformulated ideas of rigid distinctions between sensations, thoughts and acts. The sensory stimulus is one thing, the central activity, standing for the idea, is another thing, and the motor discharge, standing for the act proper, is a third. As a result, the reflex arc is not a comprehensive, or organic unity, but a patchwork of disjointed parts, a mechanical conjunction of unallied processes. What is needed is that the principle underlying the idea of the reflex arc as the fundamental psychical unity shall react into and determine the values of its constitutive factors. More specifically, what is wanted is that sensory stimulus, central connections and motor responses shall be viewed, not as separate and complete entities in themselves, but as divisions of labor, functioning factors, within the single concrete whole, now designated the reflex arc.” (Dewey 1896: 358 )
Das hat Parsons bekanntlich zu seinem Konzept des allgemeinen Handlungssystems geführt, das als Zusammenspiel notwendiger, jedoch nicht hinreichender Komponenten anzusehen ist (vgl. Parsons 1972: 10ff.).
Auch auf diese Parallele machen Bergmann und Hoffmann (1985: 95)
Daraus leitet Mead einen “Parallelismus” (vgl. Mead 1988: 153f.) ab, der von einer Kopplung der verschiedenen gleichzeitigen Realitätsebenen der beteiligten Komponenten ausgeht, also von einer Parallelisierung von neurophysiologischer, bewußter und “äußerer” Ebene, die je funktional aufeinander bezogen sind. Zu Begriff und Phänomen der strukturellen Kopplung vgl. weiter unten M.ld.
Die hier betonte Fähigkeit zur Distanz und die komplexe Beziehung zwischen Reiz und Reaktion erinnern stark an die Thesen der “exzentrischen Positionalität” des Menschen (vgl. Plessner 1982: 9ff.).
In der Sekundärliteratur wird bisweilen von einer Einteilung in drei Phasen gesprochen, wobei die Phasen 1 und 2 zu einer zusammengefaßt sind (so etwa Reck 1963: 17f. und Bergmann 1981b: 356ff.). Daftir sprechen sicher triftige Grunde, denn Impuls und Wahrnehmung treten in der Tat zusammen auf und bedingen sich gegenseitig. In der Durchführung halte ich mich jedoch - wie übrigens auch Joas (1978: 24f.) - an die Vier-Phasen-Einteilung in Meads “Philosophie der Sozialität”.
Reck (1963: 17, Anm. 2) spricht treffend von einer “predisposition of the organism to respond to a given stimulus”.
Meads Theorie der Dingkonstitution als Überwindung der “Distanz-Erfahrung” durch Antizipation einer “Kontakt-Wahrnehmung” erinnert an Martin Heideggers etwa gleichzeitig geprägten Begriff der “Zuhandenheit” (Heidegger 1979: 102). Auch hier werden Dinge nicht einfach wahrgenommen, sondern durch die Wahrnehmung selbst wird das Ding innerhalb des Rahmens eines Auslegungszusammenhangs in seiner Dinghaftigkeit bestimmt. Übrigens gilt diese Erkenntnis heute als Selbstverständlichkeit in der konstruktivistischen Kognitionswissenschaft, die auch im Einflußbereich der Naturwissenschaft in Frage stellt, daß die von einer wahrnehmenden Einheit - ob Bewußtsein, Zelle oder Organismus - konstituierte Welt in dieser Form unabhängig vom Konstitutionsvorgang existiert. Vgl. als Überblick Varela 1990: v.a. 88ff.; Stadler/Kruse 1990: 133ff.; sowie Maturana 1990a: 11ff. Ausführlich zum Konstruktivismus vgl. IIl.lb und 3a.
In der treffenden Formulierung von Harold N. Lee: “In Mead’s philosophy, the world that is there does not arise from knowledge; instead, knowledge arises from it. The world that is there does not arise within consciousness; instead, consciousness is a response to it. The world that is there, does not arise within experience; experience takes place within it. The world that is there does not arise at all; it is there. It is passage, process. It is the passage that is the ‘undifferenciated now’.” (Lee 1963: 53 )
Dies erinnert stark an Gehlens These vom Menschen als Mängelwesen. “Er wäre in jeder natürlichen Umwelt lebensunfähig, und so muB er sich eine zweite Natur, eine künstlich bearbeitete und passend gemachte Ersatzwelt, die seiner versagenden organischen Ausstattung entgegenkommt, erst schaffen.” (Gehlen 1961: 4) Auf diese Parallele macht übrigens auch boas (1980: 15) aufmerksam.
Eine solche Intersubjektivität wird von Mead nicht einfach vorausgesetzt, sondern sie ist Resultat von Handlungsvollzügen. Diesen Sachverhalt drückt Joas’ Buchtitel “Praktische Intersubjektivität” (Joas 1989) als Gegenbegriff zur egologischen, primordialen Intersub.
Bergmann meint sogar, daß solche Generalisierungen die Genese “übergreifender System-und Weltzeiten” (Bergmann 1981b: 362f.) wären. Ob dies die theoretischen Mittel Meads hergeben, muß sich m.E. erst noch zeigen.
Es ist hinzuzufügen, daß für Mead ein großer Teil der Gleichsinnigkeit der Perspektiven durch das symbolische Universum einer Kommunikationsgemeinschaft mit ihren zeitfesten Symbolen verbürgt ist.
Dies widerspricht übrigens nicht dem Gedanken der Perspektivenübernahme, weil diese keineswegs eine vollständige Bedeutungsidentität der Welt impliziert, sondern eher die hypothetische Einstellung des anderen zur Selbstbeobachtung einnimmt. Entscheidend ist, daß der Mechanismus der Perspektivenübernahme von der je individuellen Position her reziprok erfolgt und so die wechselseitige Fremd-und Selbstbeobachtung zu denjenigen Differenzen führt, die Mead Handlungshemmung nennt (vgl. dazu auch Mead 1988: 180; Bergmann 1981b: 354).
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Nassehi, A. (1993). Intersubjektive und soziale Zeit. In: Die Zeit der Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14447-2_3
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