Zusammenfassung
Theoretiker, die nach den geistesgeschichtlichen Konstitutionsbedingungen autobiographischer Literatur fragen, machen übereinstimmend die bürgerlich-individualistische Mentalität als grundlegenden Faktor aus. Unter Hinweis auf den hervorstechenden „psychologisch-individualistischen Grundzug, welcher der autobiographischen Gattung recht eigentlich das Gepräge gibt und daher unsere besondere Aufmerksamkeit verdient,“ stellt schon Hans Glagau (1903, S. 6) als einer der ersten, die sich überhaupt wissenschaftlich mit dieser Gattung auseinandergesetzt haben, fest: „Wir haben sie (die moderne Selbstbiographie; K.B.) als den entschiedensten Ausdruck unserer individualistischen Geistesrichtung zu betrachten.“ (S. 1)1 Selbst Georg Misch, der aufgrund seines umfassenden Gattungsbegriffs der Autobiographie („die Beschreibung [graphia] des Lebens [bios] eines Einzelmenschen“; Misch 1949 I/1, S. 7) in seiner Geschichte der Autobiographie auch eine große Zahl antiker und mittelalterlicher Beispiele behandelt, die „das eigene Ich außer Spiel (lassen)“ (Misch IV/584), weist auf die Bedeutung des neuzeitlichen Individualismus für die Entwicklung dieser literarischen Gattung hin. Erst im zweiten Teil des vierten und letzten Bandes seines Werkes wendet er sich der Neuzeit zu; und räumt ihr damit, zumindest quantitativ, keinen besonders großen Raum ein. Zu Beginn dieses Teils stellt er jedoch den aufkommenden Individualismus als die eigentliche Grundlegung der autobiographischen Gattung heraus:
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Literatur
Jean-Jacques Rousseau gibt zu Beginn seiner Bekenntnisse ein Zeugnis davon ab, wie wichtig für dieses Unternehmen seine selbstbewußte Individualität ist: “Ich kenne mein Herz und ich kenne die Menschen. Ich gleiche keinem von allen, die ich gesehen habe; ich bin kühn genug zu glauben, nicht wie ein einziger von denen, die mit mir leben, beschaffen zu sein. Wenn ich auch nicht besser bin, bin ich doch anders.” Vgl. auch Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften [1910] (1968, S. 192ff). “Die Selbstbiographie ist… die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebenslauf.”(S. 199)
Daß die ‘Statik’ dieser traditionellen Gesellschaften relativ war, daß ihre dynamischen Momente und ihre Differenziertheit häufig übersehen wurden, darauf wurde in der neueren Geschichtswissenschaft verschiedentlich hingewiesen. ( Vgl. Wehler 1974, S. 20 )
Vgl. auch den Band Was Philosophen über Frauen denken von Annegret Stopczyk (1980)
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Bergmann, K. (1991). Historische Konstitutionsbedingungen der Autobiographik. In: Lebensgeschichte als Appell. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14370-3_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-14370-3_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-12152-9
Online ISBN: 978-3-663-14370-3
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