Zusammenfassung
Ganz aussichtslos erscheint der Versuch, in der alltäglichen Erfahrung Soziales von Psychischem scharf zu trennen. Eine Grenze hebt sich erst ab, wenn dieses oder jenes tradierte Deutungsschema die Differenz in einem objektiven Sinnzusammenhang zeigt. Einem Deutungsschema dieser Art gilt die gegenwärtige Studie. Es ist die auf Descartes zurückgehende Konzeption von der Struktur und Grenze menschlichen Bewußtseins, die als umfassendes Deutungsschema mit der Scheidung von Sozialem und Psychischem auch die Grenze setzt zwischen den ihnen geltenden wissenschaftlichen Disziplinen, zwischen der Soziologie und der Psychologie.
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Anmerkungen
Peter Berger hat diesen Verbund für psychoanalytische Deutungsschemata dargestellt: »Towards a Sociological Understanding of Psychoanalysis«, Social Research, Spring 1965. Vgl. audi das Kapitel »Theories about Identities« in P. Berger und Th. Luckmann,»The Social Construction of Reality«, New York 1966, pp. 159 ff.
Noch Theodor Litt verstand sich in der Rolle eines philosophischen Grenzwächters, vgl. sein »Naturwissenschaft und Menschenbildung«, Heidelberg 1959.
Ein ähnliches Problem, die merkwürdige Übereinstimmung von spieltheoretisch tradiertem Dualismus zwischen »Spiel« und »Handeln« einerseits und dem entsprechend dualistischen Verständnis im Alltag andererseits, habe ich dargestellt und aufzulösen versucht in: »The Structure of Social Inconsistencies«, The Hague 1970.
Die Stufen des Organischen und der Mensch: Einleitung in die philosophische Anthropologie«, Berlin und Leipzig 1928, insbes. Kap. 2: »Der cartesianische Einwand und die Problemstellung«.
Dieses Problem der »Intersubjektivität« fand seine schärfste Formulierung in Edmund Husserls »Cartesianische Meditationen«, Den Haag 1963 (2); einige der bekanntesten Lösungsversuche hat Alfred Schütz dargestellt und kritisiert, siehe seine »Gesammelte Aufsätze«, Den Haag 1971, Bd. 1, Teil 2 und Bd. 3, S. 86–126.
Stufen des Organischen«, S. 38–79, werden im folgenden zitiert.
Diese Plessnerschen Ausführungen erinnern stark an die des späten Husserl in der »Krisis« (E. Husserl,»Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie«, Den Haag 1962 (2), insbes. Teil II.). Eine entscheidende Differenz, so scheint mir, sollte jedoch hervorgehoben werden. Husserl sieht die gesamte Problematik bereits auf dem Hintergrund der galileischen Physik in der Entgegensetzung von mathematisiertem Ideenkleid und Lebenswelt. Plessner stellt sich das Problem enger: Für ihn ist es nicht die Einführung von Zählung und Messung an sich, sondern erst die mit der cartesianischen Geometrie der Koordinatensysteme geforderte Äquivalenz von Ausdehnung und Meßbarkeit (oder: von Punkt und Zahl), die zur Fundamentalisierung des cartesianischen Alternativprinzips führt.
Zum Beispiel erinnere man sich an die Folgediskussionen um Dahrendorfs »Homo Sociologi- cus«, in denen die hier angesprochenen Scheinprobleme von allen Seiten aufgebaut wurden.
Erving Go f f man hat seiner Entwicklung des Rollenbegriffs eine gute, knappe Skizze des »klassischen Rollenkonzepts« vorangestellt, um sich von ihr absetzen zu können: »Role Distance« in: »Encounters«, New York 1961, S. 85–91. Ich selbst folge hier Goffmans Vorlage, unter ganz anderen Gesichtspunkten.
Vgl. die Konstanzer Dissertation (1971) von Uri Rapp: »Handeln und Zuschauen: Untersudiungen über den theatersoziologischen Aspekt in der menschlichen Interaktion«.
Ein Vergleich der »logischen Typen« (Bertrand Russell), die in cartesianischen Handlungstheorien auftreten, mit »sozialen Typen« nicht-cartesianischer Prägung, etwa bei Edmund Husserl,würde diese Grenzziehung jedes polemischen Verdachts entheben. Dieser Vergleich kann jetzt noch nicht vorgelegt werden. Er wird verdeutlichen, daß unsere Überlegungen mit dem polemischen, ja ätzenden Anticartesianismus etwa von Gilbert Ryle (»The Concept of Mind«, New York 1949) nichts gemeinsam haben.
Der Leser vergegenwärtigt sich die Existenz von »einseitigen Flächen« am besten selbst, indem er zwei lange, rechteckige Streifen Papier an den Stirnseiten, den ersten »normal«, aber den anderen Streifen einmal »verdreht« zusammenheftet. Der »normale« Streifen gibt einen flachen Zylinder mit Innen-und Außenwand, der »verdrehte« ein Moebius-Band, auf dem jede beliebige zwei Punkte durch eine ununterbrochene Linie — also ohne Sprung von »innen« nach »außen« — verbunden werden können.
Günter Dux hat das cartesianische Deutungsschema besonders unter diesem Aspekt untersucht. Vgl. seine Interpretation der Plessnerschen Arbeiten in seinem Nachwort zu: Helmuth Plessner, »Philosophische Anthropologie«, Frankfurt 1970, insbes. S. 279–285. Von seiner Meinung, Plessners Ansatz bedürfe »überhaupt keines Anfangs mehr; erlaubt ihn auch nicht…« (S. 285), weiche ich hier ab.
Am bekanntesten sind die tierpsychologischen Studien von Wolfgang Köhler über das Intelligenzverhalten der Menschenaffen. Vor diesen Arbeiten veröffentlichte er »Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen« (Zeitschrift für Psychologie, 66, 1913, S. 55–81), eine Kritik der cartesianisdien Empfindungstheorie, die von Plessner zwar nicht zitiert wurde, aber in der späteren Kritik an der behavioristischen Stimulus-Response-Theorie einen zentralen Platz bekam. Vgl. dazu Aron Gurwitsch,»The Field of Consciousness«, Pittsburgh 1964, S. 87 ff. und M. Merleau-Ponty,»Phenomenology of Perception«, New York 1962, S. 7 ff. Diese Arbeit Köhlers wird hier referiert.
Wer weiß, welcher Bruchteil derjenigen neuen Tatsachen, die unsere Wissenschaft in den nächsten Jahrzehnten finden wird, an sich schon heute entdeckt sein könnte,… weil… die gewohnten Gesetze solche Tatsachen nicht erwarten lassen…. Jede Wissenschaft hat eine Art Rumpelkammer, in welche die Dinge fast automatisch geschoben werden, die man vorläufig nicht brauchen kann….« Köhler,»Unbemerkte Empfindungen«, S. 68.
Insbesondere an drei Orten finden sich die wichtigsten frühen Arbeiten von Peirce über den Cartesianismus: 1. Die Vorlesungen am Lowell Institute von 1866, teilweise in den »Collected Papers« publiziert; 2. die Aufsätze von 1867 in »Proc. of the Americ. Acad. of Arts and Sciences«; 3. die Essay-Reihe von 1868/69 im » Journal of Speculative Philosophy«, die unter den Titeln: »Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen, die man für den Menschen in Anspruch nimmt«; »Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen«; »Die Grundlagen der Gültigkeit der Gesetze der Logik: weitere Konsequenzen aus vier Unvermögen« von K. O. Apel (übersetzt von G. Wartenberg) herausgegeben wurde (Charles S. Peirce,»Schriften I«, Frankfurt 1967). Ich beziehe mich durchgehend auf die ursprüngliche Ausgabe der »Collected Papers« (8 Bände, Harvard Univ. Press, 1931–1958), wobei zur weiteren Orientierung der Cross-Reference-Index und die Bibliographie am Schluß des achten Bandes unerläßlich sind, da in den »Collected Papers« alle Arbeiten aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang geschnitten und unter recht fragwürdigen Gesichtspunkten über alle Bände verstreut »geordnet« wurden.
Coll. Pap., Band 7, Par. 591. Die übliche Zitierweise (7.591) wird hier beibehalten.
Vgl. dazu die frühe Arbeit von G. H. Mead,»What Social Objects must Psychology Presuppose?« Journal of Philosophy, 7, 1910, S. 174–180. Eine Untersuchung des Einflusses von Peirce auf Mead steht ebenso noch aus, wie etwa ein Vergleich mit den wissenssoziologischen Arbeiten von Max Scheler,der sich unter dem Titel »Faktum der Sympathie« im obigen Peirce-Zitat geradezu aufdrängt. Einem solchen Thema steht natürlich die horrende Fehlrezeption des Pragmatismus bei Scheler etwas im Wege. Vgl. die Studie »Erkenntnis und Arbeit«, in: »Die Wissensformen und die Gesellschaft«, Bern—München 1960, S. 191 ff.
Dieses Zitat — in ihm wird das sogenannte »Thomas Axiom« bereits skizziert — aus Coll. Pap. 5.268. Sonstige Verweise: 5.244–5.247, 5.265–5.268, 7.581. Weitere Verweise zu abduktiven Prozessen siehe »Structure of Social Inconsistencies«, op. cit., S. 34–44.
Dieses Zitat in 5.265, sonstige Stellen 5.213, 5.238, 7.648. — Auffällig sind die Berührungspunkte mit der Husserlschen Theorie der Erfahrung, einerseits dem Horizontcharakter aller Erfahrung, nach dem alles Erkennen in einem Horizont typischer lebensweltlicher Vertrautheit geschieht, zum anderen der Zeitstruktur der Erfahrung im protentiv-retentiven Verbund alles Wahrnehmens. Vgl. E. Husserl, »Erfahrung und Urteil«, Hamburg 1964.
Dieses Zitat aus 5.314 (zu dessen Interpretation vgl. Peirce’ Scheidung von »is« und »would-be«). Weiterhin zu diesem Abschnitt 1.558, 1.588, 5.250–253, 5.309, 5.395–5.400.
So bei C. Wright Mills; folgenschwerer allerdings noch in der Linguistik. Vgl. meine Rezension in Social Research, 34, 1967, S. 387 ff.
Diese berühmte Stelle aus 5.311 bereitet der Obersetzung außerordentliche Schwierigkeiten, solange es keine gefestigte Rezeption des Pragmatismus gibt, die auch die Differenz von »is« und »would-be« deutlich hält. (Vgl. in ähnlichem Sinn Apels Einführung zu »Schriften I«, op. cit., S. 145). Ferner zu diesem Abschnitt: 5.254–258, 5.310–317, 6.419; umfassender auch noch: Richard J. Bernstein, »Perspectives an Peirce«, Yale Univ. Press, 1965.
E. Goffman,»Stigma«, Englewood Cliffs 1963, S. 2 f. — Ähnlich in seiner Definition von »role distance« in: »Encounters«, op. cit., S. 107.
Vgl. Jan Szczepanski »Die biographische Methode« in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, R. König (Hrsg.), 1. Bd., Stuttgart 1962, S. 551–569, dessen kurze und vorzügliche Darstellung hier herangezogen werden kann.
Ausführlicher in »Structure of Social Inconsistencies«, S. 105.
Eine interessante Studie, da weniger unmittelbar einsichtig, bieten die Cartesianismen der Alltagssprache, auf denen sich das obige Deutungsschema stützt und die es letztendlich auch legitimieren. Dazu gehören Redeweisen wie: »Betrachten wir nun einmal die andere Seite der Medaille«; »Von diesem Standpunkt aus gesehen…«; »Man muß das festmachen…«; »Subjektiv trifft das zu, aber objektiv betrachtet…«; usf. Zum wissenssoziologischen Zusammenhang derartiger Legitimationsschemata vgl. Berger und Luckmann,op. cit., S. 85–96.
Coll. Pap., op. cit., 6. 417–418 (1877).
erschien der erste Band der »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie«, Den Haag 1950. Siehe unter »Intentionalität« das Sachregister von Band 1. — Ferner die Aufsätze von Gurwitsch, Kockelmans und Cairns zu diesem Thema in dem Reader: »Phenomenology, The Philosophy of Edmund Husserl and its Interpretation«, hrsg. von J. J. Kockelmans, New York 1967 (Doubleday Paperback). — Vgl. auch Alfred Schütz, »Einige Grundbegriffe der Phänomenologie«, in: »Gesammelte Aufsätze«, Bd. 1, insbes. S. 116–119.
Vgl. James Street Fulton,»The Cartesianism of Phenomenology«, Philosophical Review, 49, 1940, und die Rezension von A. Gurwitsch dazu in: Philosophy and Phenomenological Research, 2, 1940/41, S. 557 f. — Den in unserem Zusammenhang wichtigsten Nachweis des Husserlschen Cartesianismus führte A. Gurwitsch,als er Husserl die Übernahme der Köhlerschen Konstanzhypothesen nachwies: Siehe »The Field of Consciousness«, op. cit., S. 90.
Insbesondere in seinen »Cartesianiscen Meditationen«; vgl. dazu die obige Fußnote 5.
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Grathoff, R. (1974). Grenze und Übergang: Frage nach den Bestimmungen einer cartesianischen Sozialwissenschaft. In: Dux, G., Luckmann, T. (eds) Sachlichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14323-9_14
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