Zusammenfassung
Seit der Antike ist die Frage nach dem Wesen der Geometrie ein entscheidendes Problem für die Erkenntnistheorie gewesen. Die Prinzipien der Geometrie, z. B. die euklidischen Axiome, scheinen zwei Eigenschaften zu besitzen, die nicht leicht miteinander vereinbar sind. Auf der einen Seite scheinen sie direkt einsichtig, und deshalb notwendig zu sein, auf der anderen Seite sind sie nicht rein logisch, sondern faktisch gültig. Terminologisch ausgedrückt heißt das, daß sie nicht analytisch, sondern synthetisch sind. Das geht aus der Tatsache hervor, daß auf Grund von gewissen Winkel- und Längenmessungen physikalischer Körper Resultate anderer Messungen vorhergesagt werden können. Kant nahm die Verknüpfung dieser beiden Eigenschaften einfach hin: Er schloß aus der scheinbar notwendigen Gültigkeit der geometrischen Prinzipien, daß ihre Erkenntnis a priori (d.h. unabhängig von der Erfahrung) sei, obgleich sie synthetisch sind. Als Mathematiker vor ungefähr hundert Jahren nichteuklidische Geometrien konstruierten, erhob sich eine Meinungsverschiedenheit über die Methode, mit der man feststellen soll, welches der Systeme — nämlich des einen euklidischen und der unendlich vielen nichteuklidischen — den physikalischen Raum beschreibt. Als erster schlug Gauß vor, diese Bestimmung mit Hilfe von physikalischen Messungen zu machen. Aber die überwältigende Mehrheit der Philosophen des vergangenen Jahrhunderts behielt die kantische Lehre bei, nach der die Geometrie unabhängig von der Erfahrung ist.
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Carnap, R. (1977). Einleitende Bemerkungen zur englischen Ausgabe der „Philosophie der Raum-Zeit-Lehre”. In: Kamlah, A., Reichenbach, M. (eds) Philosophie der Raum-Zeit-Lehre. Hans Reichenbach, vol 2. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-13988-1_1
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Publisher Name: Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden
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