Zusammenfassung
Peter Weiss’ 1961 veröffentlichter Prosatext Abschied von den Eltern trägt die Gattungsbezeichnung „Erzählung“. Der Prosatext Fluchtpunkt 30, der im folgenden Jahr erschien, wird als „Roman“ annonciert. Hans Magnus Enzensberger erhob sofort Einspruch gegen derlei Gattungsbezeichnungen. Fluchtpunk sei „[...] eine Autobiographie und durchaus nicht, wie der Verlag uns weismachen möchte, ein Roman.“31 Der Einspruch gilt ebenso für Abschied von den Eltern, denn die beiden Bücher wurden „mehr oder weniger in einer Schreibbewegung verfaßt[...]“32 Auch die Forschungsliteratur betont beinahe einhellig, daß „ein Großteil des literarischen, bildnerischen und filmischen Schaffens von Weiss tatsächlich in hohem Grade, mehr oder weniger vermittelt, eigenes Erleben wiedergibt.“33 Es liegt also nahe, die Prosatexte vom Beginn der sechziger Jahre einmal eingehend als autobiographische Texte zu lesen. Dies umso mehr, als die Ästhetik des Widerstands, das große Romanprojekt der siebziger Jahre — von Weiss mißverständlich, aber keineswegs versehentlich eine „Wunschautobiographie“34 genannt —, in ganz anderer Form und Perspektive Elemente der autobiographischen Schriften vom Anfang der sechziger Jahre wieder aufnimmt.
„Von der Verdunstung und von der Verdichtung des Ich. Darin steckt alles.“
Charles Baudelaire: Mein bloßgelegtes Herz.29
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Literatur
Charles Baudelaire: Mein bloßgelegtes Herz. In: Ders.: Schriften. Übersetzt von Max Bruns. Bd. 5/2. Dreieich 1981, S. 47. Der zitierte Satz ist der erste des Buchs.
Frankfurt am Main 1962
Hans Magnus Enzensberger: Peter Weiss Fluchtpunk. In: Der Spiegel, Nr. 49/ 1962, S. 116
Jochen Vogt: Peter Weiss. Reinbek bei Hamburg 1987 [= Rowohlts Bildmonographien, Bd. 367]
Manfred Haiduk: Dokument oder Fiktion. Zur autobiographischen Grundlage in Peter Weiss Romantriologie Die.4sthetik des Widerstands. In: Die Ästhetik des Widerstands. Hg. von Alexander Stephan. Frankfurt am Main 1983, S. 59
Rolf Michaelis: „Es ist eine Wunschautobiographie“. Peter Weiss über seinen politischen Gleichnisroman. In: Die Zeit vom 10.10.1975. Vgl. auch Manfred Haiduk: Gespräch mit Peter Weiss über den Roman Die Ästhetik des Widerstands: „Was ich hätte sein können und ich hätte sein wollen“. In: Volkstheater Rockock. Programmhefte 87 (1981/82). Wieder abgedruckt in: Peter Weiss im Gespräch. Hrsg. v Rainer Gerlach und Matthias Richter. Frankfurt am Main 1986
Peter Weiss: Notizbücher 1971–1980. Bd. 2. Frankfurt am Main 1981, S. 872f.
Ebd., S. 927
Burkhardt Lindner hat Weiss in anderem Zusammenhang mit diesem Bild konfrontiert. Siehe: Peter Weiss im Gespräch mit Burkhardt Lindner. In: Karl Heinz Götze und Klaus R.Scherpe: Die Ästhetik des Widerstands lesen. Berlin 1981, S. 172
Peter Weiss: Notizbücher 1971–1980. Bd. 1. Frankfurt am Main 1982, S. 40f.
Ebd., S. 47
Ebd., S. 96f.
Enzensberger: Fluchtpunkt. A.a.O., S. 116
Weiss, Notizbücher 1960–1971. A.a.O., S. 46f. (Hier und im folgenden alle Kursivsetzungen in den Zitaten aus Peter Weiss Werken von mir. K.H.G.)
Korrekturen an dem Buch, das bis jetzt TEXTUR hieß, und nun den Titel AB-SCHIED VON DEN ELTERN erhalten hat.“ Ebd., S. 34
Ebd.
Brockhaus-Enzyklopädie in 20 Bänden. 17. Aufl., Wiesbaden 1974
Vogt: Weiss. A.a.O., S. 73
Vgl. dazu Karl Heinz Götze: Der Ort der frühen Bilder. Peter Weiss und Bremen. Eine Spurensuche. In: Hinter jedem Wort die Gefahr des Verstummens. Sprachproblematik und literarische Tradition in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. Hrsg. v Hans Höller. Stuttgart 1988, S. 173–197
Peter Weiss im Gespräch mit Peter Roos: Der Kampf um meine Existenz als Maler. In: Der Maler Peter Weiss. Bilder, Zeichnungen, Collagen, Filme. Redaktion Peter Spielmann. Museum Bochum 1980. 2. Aufl., Berlin 1981, S. 11–45. Vgl. dort auch die ausfiihrliche Zeittafel zur Vita von Peter Weiss S. 81–94
Nur zu oft ergeben sich Gelegenheiten, bei denen das Kind zurückgesetzt wird oder sich wenigstens zurückgesetzt fühlt, wo es die volle Liebe der Eltern vermißt, besonders aber bedauert, sie mit anderen Geschwistern teilen zu müssen. Die Empfindung, daß die eigenen Neigungen nicht voll erwidert werden, macht sich dann in der aus frühen Kinderjahren oft bewußt erinnerten Idee Luft, man sei ein Stiefkind oder angenommenes Kind.“ Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker. In: Dem.: Studienausgabe. Hrsg. v A. Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. [Im folgenden zit. als StA] Bd. 4. Frankfurt am Main 1970, S. 223
Ein Foto des verschollenen Ölgemäldes findet sich im Katalog der Bochumer Ausstellung (a.a.O., S. 155) sowie in dem von Raimund Hoffmann herausgegebenen Band: Peter Weiss: Malerei, Zeichnungen, Collagen. A.a.O., S. 85
Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg und Westberlin 1977, S. 140
Ebd., S. 142
Ebd., S. 148f. Vgl. auch die Darstellung dieses Aspekts der Ideologietheorie Louis Althussers in: Projekt Ideologie-Theorie: Theorien über Ideologie (= ArgumentSonderband 40). Berlin (West) 1979, S. 119
Althusser: Ideologie. A.a.O., S. 144
Vgl. Marcelle Marini: Jacques Lacan. Paris 1986, S. 53
Klaus R. Scherpe: Kampf gegen die Selbstaufgabe. Ästhetischer Widerstand und künstlerische Authentizität in Peter Weiss Roman. In: Die Ästhetik des Widerstands lesen. A.a.O., S. 57
Der Säugling sondert noch nicht sein Ich von einer Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen.“ Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: StA. Bd.IX, S. 199
Jacques Lacan: Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je, telle quelle nous est relevée dans lexperience psychoanalytique. In: Ders.: Ecrits. Paris 1966, S. 93–100. VGL dazu auch Joel Dor: Introduction à la lecture de Lacan. Paris 1985, S. 99ff.
Der Volks-Brockhaus. 12. Aufl., Wiesbaden 1961, S. 176
Vgl. zur Bedeutung der beiden Bremer Wohnviertel für das Werk von Peter Weiss meine Untersuchung: Der Ort der frühen Bilder. Peter Weiss in Bremen. A.a.O.
Vgl. die Zeittafel in: Peter Weiss als Maler. A.a.O., S. 81f.
Während in „Abschied von den Eltern“ der Einmarsch der Wehrmacht noch sehr stark als purer Vorwand für die Zerstörung der von der Mutter gehaßten Bilder erscheint, rückt in der späteren Sicht die Bemühung um die Erhaltung des Hauses ganz in den Mittelpunkt der Suche nach den Motiven des mütterlichen Bildersturms: „Sie war in Panik, sie war allein, sie war umgeben vom Feind. Es ging ihr darum, ihre bürgerliche Welt zu behalten. Der Umzug des Hauses, alles, die Bücher, die Eßzimmermöbel, die Betten, alles waren Symbole fit. ihre Sicherheit […], die sie mitnehmen mußte.“ Peter Weiss im Gespräch mit Peter Roos. In: Der Maler Peter Weiss. A.a.O., S. 31
Ein Bild des Wohn-und Eßzimmers in der Marcusallee 45 aus dem Jahre 1922, das das beschriebene Szenario ausschnitthaft zeigt, findet sich in: Der Maler Peter Weiss. A.a.O., S. 12
Gaston Bachelard: Poetik des Raumes Frankfurt am Main/ Berlin/Wien 1975, S. 38 und 47
Der Einakter entstand 1948. Peter Weiss: Stücke I. Frankfurt am Main 1976, S. 7–35
Diesen Aspekt des Traums von der Bodenkammer betont Freud. Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. StA, Bd.2. Frankfurt am Main 1972, S. 322
Zit. nach Bachelard: Poetik des Raumes. A.a.O., S. 51
Gilles Deleuze und Felix Guattari: Anti-Ödipus Frankfurt am Main 1977
A.a.O., S. 12f.
Bachelard: Poetik des Raumes. A.a.O., S. 112
Freud: StA Bd.8, a.a.O., S. 125–233
Ebd., S. 167
Ebd., S. 171
Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. A.a.O., S. 362
Ebd., S. 360
Johann Wolfgang von Goethe: Poetische Werke. Gedichte und Singspiele I. Berliner Ausgabe. Berlin und Weimar 1976, S. 116
Ebd., S. 164
Vgl. die Zeichnung, die Freuds Text illustriert. Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. StA Bd. 8. A.a.O., S. 150
Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bde., Frankfurt am Main 1972. Hier Bd. 1, S. 246
Freud: Neurose. A.a.O., S. 203ff.
und auf einer roten Ziegelwand zitterte ein Schmetterling, mit ausgebreiteten, schwarz und gelb gezeichneten Flügeln, und eine Hand, die eine Nadel vorgestreckt in den Fingern hielt, näherte sich dem Schmetterling, und die Nadel durchbohrte ihn.“ (AE 35)
Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Ders.: StA, Bd. 5. Frankfurt am Main 1972. vgl. bes. S. 134 ff.
Ebd., S. 98
Freud: Unbehagen in der Kultur. A.a.O., S. 245ff.
Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Ders.: StA Bd.7. Frankfurt am Main 1970, S. 243ff.
Ebd., S. 268
Im sechsten Kapitel seines Buches über Die Traumdeutung weicht Freud vom vorherrschenden strukturexplikativen Paradigma seiner Traumanalysen ab und gibt — methodisch sehr zweifelhaft — eine Auflistung von Traumsymbolen und ihrer Bedeutung (die viel zur Banalisierung und Vulgarisierung der Psychoanalyse beigetragen hat). Dort heißt es über Treppenträume: „Stiegen, Leitern, Treppen, respektive das Steigen auf ihnen, und zwar sowohl aufwärts als auch abwärts, sind symbolische Darstellungen des Geschlechtsakts.“ Sigmund Freud: Die Traumdeutung. StA, Bd. 2. A.a.O., S. 345ff.
Freud: Neurose. A.a.O., S. 159
Der Löwe. Das Starke. Das Wilde. Das Eingekerkerte. Das Erschlagne. — Löwe! Ich werde dich wiedererwecken! Löwe! Komm heraus!“ Peter Weiss: Der Turm. A.a.O., S. 17
Freud: Das Unheimliche. A.a.O., S. 255
Freud: Totem und Tabu. A.a.O., S. 439
Marini: Lacan. A.a.O., S. 52f.
Vgl. die Kritik von Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1984, S. 400ff.
Vgl. unten in Kap. II.2 die ausführliche Deutung der Flugträume
vielleicht war ich wirklich krank, geisteskrank […]“. (AE 122)
Vgl. die Kritik der Kritischen Psychologie am Persönlichkeits-und Motivationskonzept der Psychoanalyse. In: Ute Holzkamp-Osterkamp: Motivationsforschung 2. Die Besonderheiten der menschlichen Bedürfnisse — Problematik und Erkenntnisgehalt der Psychoanalyse: Frankfurt am Main 1976, S. 184ff.
Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt. Dieses Prinzip beherrscht die Leistung des seelischen Apparats von Anfang an; an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt, mit dem Makrokosmos ebensowohl wie mit dem Mikrokosmos. Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widersprechen ihm; man möchte sagen: die Absicht, daB der Mensch `glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten.“ Freud: Unbehagen in der Kultur. A.a.O., S. 208
Auf dem Hintergrund der psychoanalytischen Theoriegeschichte gesehen, wäre die Position von Peter Weiss, die er Anfang der sechziger Jahre bezogen hatte, weniger die Freuds oder gar die Lacans als die Wilhelm Reichs und die seines Freundes und Mentors Max Hodann. Das erweist auch die oben untersuchte Darstellung der „Ödipalen“ Schlafzimmersequenz. Das Grauen entsteht dort ja nicht durch die ödipale Konstellation allein, sondern durch das begleitende Onanie-verbot („Gebieterisch drückte sie meine Hände auf die Decke nieder. Die Hände mußten draußen im Kalten liegen, gespenstischen Angriffen ausgesetzt.“ [AE 49]) Vgl. dazu die Darstellung, die Wilhelm Reich vom ödipalen Konflikt gibt und auf die folgende Weise resümiert: „Die Verdrängung der frühen sexuellen Regungen wird qualitativ und quantitativ entscheidend von der sexuellen Denkungsart der Eltern bestimmt. Es hängt viel davon ab, ob sie mit mehr oder weniger Strenge erfolgt, ob sie die Onanie mit betrifft, u.a.m.“ Wilhelm Reich: Die sexuelle Revolution. Frankfurt am Main 1966, S. 110
Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde., Frankfurt am Main 1978
Laplanche/Pontalis: Vokabular der Psychoanalyse. Bd.l., a.a.O., S. 80
Der Kampf um meine Existenz als Maler. Peter Weiss im Gespräch mit Peter Roos. In: Der Maler Peter Weiss. A.a.O., S. 11ff.
Ebd., S. 28
AE 57f., vgl. oben den Beginn dieses Kapitels
Der Maler Peter Weiss. A.a.O., S. 96
Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als `Gewissen gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis.“ Freud: Unbehagen in der Kultur. A.a.O., S. 250. Bekanntlich legiert Freud in dieser Schrift zwei Theeorien über die Entstehung des Schuldbewußt-seins: die schon aus der Zeit von Totem und Tabu stammende, die das Schuldbewußtsein als Erbschaft aus der Zeit der Tötung des Urvaters sieht und die oben zitierte triebökonomische.
Hermann Hesse: Gesammelte Briefe. Bd. 3, 1936–1948. Frankfurt am Main 1982, S. 537
Laplanche/Pontalis: Vokabular der Psychoanalyse. A.a.O., S. 244
Freud: Neurose. A.a.O., S. 193
Das Bild des Urwalds durchzieht das Werk von Peter Weiss. So beginnt noch die Bremen-Passage in Die Ästhetik des Widerstands mit der sprachlichen Evozierung einer Urwaldlandschaft. (A.a.O., Bd. 1, S. 98) Er sah die Situation seiner Familie später versinnbildlicht im Bild einer Pygmäenfamilie, die ungeben war von feindlichem Urwald. Das Bild (aus dem Focke-Museum in Bremen) findet sich in „Notizbücher 1971–1980“, Bd. 1. A.a.O., S. 21
Vgl. z.B. die Eingangspassage zum dritten Band der Ästhetik des Widerstands
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Götze, K.H. (1995). Grundmuster der Kunst von Peter Weiss, ermittelt anhand von Abschied von den Eltern . In: Poetik des Abgrunds und Kunst des Widerstands. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-12314-9_2
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