Zusammenfassung
Der historisch erste Fall der Nachahmung einer Gewaltdarstellung im Sinne des Anstiftungseffektes liegt über 200 Jahre zurück. Im Jahr 1774 veröffentliche der 25jährige Johann Wolfgang von Goethe sein Jugendwerk „Die Leiden des jungen Werther“, in dem der unglücklich verliebte Held schließlich Selbstmord begeht. Der Roman löste eine so hohe Zahl von Nachahmungstaten aus, daß er in verschiedenen Regionen des In- und Auslandes (Leipzig, Kopenhagen, Mailand) verboten wurde. Die Nachahmungstäter kleideten sich wie ihr Vorbild im blauen „Wertherfrack“ mit gelben Hosen, imitierten die Art seines Selbstmordes (Pistolenschuß) und starben zum Teil mit dem Roman in der Jackentasche.64 „Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer“, schrieb Goethe 1813 rückblickend und verglich es mit einem „geringen Zündkraut“, das eine „gewaltige Mine“ zur Explosion brachte: „So verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln (...) und sich allenfalls selbst erschiessen: und was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im grossen Publicum“.65 Über die Rolle der Nachahmung bei Selbstmorden schrieb der Vorsitzende des britischen Verwaltungsamtes für Geburten und Todesfälle, William Farr, im Jahr 1841: „No fact is better established in science than that suicide (and murder may perhaps be added) is often committed from imitation“ (Phelps, 1911). Der seitdem bekannte Werther-Effekt wurde zur damaligen Zeit noch nicht mit quantitativen sozialwissenschaftlichen Methoden belegt.
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Literatur
Rothmann (1971), Phillips (1974, 1988).
Zitiert nach Gräf ( 1902, S. 630 ft)
Zur Ermittlung des Erwartungswerts addierte Phillips die beiden Selbstmordzahlen des Novembers 1964 (1.639) und des Novembers 1966 (1.665) und dividierte diese Summe durch zwei.
Da Phillips keine Tages-, sondern nur Monatsdaten zur Verfügung standen, mußte er ausgeschließen, daß ein Teil des Anstiegs der Selbstmordhäufigkeit im Experimentalmonat vor der Berichterstattung über den prominenten Suizid fiel und nicht nachher. Er stellte fest, daß Selbstmordberichte vor dem 15. eines Monats einen ungleich stärkeren Anstieg der Selbstmordhäufigkeit im Experimentalmonat verursachen, während Berichte nach der Monatsmitte erst im Folgemonat ihre prägnante Wirkung erreichen. Daher untersuchte er bei allen Selbstmorden, über die nach dem 23. berichtet wurde, den Folgemonat auf eine Nachahmungswirkung hin. Dieses Verfahren ist in anderen Studien übernommen worden (z.B. Stack, 1987a ).
Bollen & Phillips (1982), Phillips & Bollen (1985), Stack (1987b), Phillips & Carstensen (1986), Wasserman (1984), Littman (1985), Ishii (1991).
Mit dem Identifikationszusammenhang zwischen Handlungsvorbild (die in den Medien dargestellten Person) und Nachahmer hat sich ausführlich Stack (1990, 1991 ) beschäftigt. Danach spielen Alter, Geschlecht und sozialer Status eine zentrale Rolle für die Selbstmordnachahmung.
Keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Berichterstattung und einer Selbstmordepidemie konnte Littmann (1985) nachweisen, der U-Bahn-Selbstmorde in Toronto zwischen 1968 und 1973 untersuchte.
Auch hier war die Zahl der Nachfolgetaten drei Tage nach intensiver Berichterstattung am höchsten; vgl. Phillips (1977, 1978, 1979, 1980 ), Bollen & Phillips (1981).
Es würde zu weit führen, die methodische Argumentation hier en detail darzustellen. Es sei auf die Originalfundstelle verwiesen.
Die Befunde lassen sich besser im Sinne einer allgemeinen Erregungsübertragung (vgl. Tannenbaum & Zillmann, 1975) interpretieren.
So Koppel in einer Diskussion über “Terrorism and the media” in Harper’s,Oktober 1984, S. 49.
Bei dem Versuch, die Geiseln zu befreien, starben ein bayrischer Polizist und fünf Terroristen. Alle israelischen Geiseln wurden ermordet, die Olympischen Spiele für einen Tag unterbrochen.
vgl. Bell (1978); Weimann (1983); Weimann & Winn (1993).
Alexander (1973, 1977, 1978a, b), Alexander, Carlton & Wilkinson (1979), Alexander & Gleason (1981), Clutterbruck (1975, 1977, 1981), Hacker (1981), Heyman (1980), Heyman & Mickolus (1981), Laquer (1987), Miller (1982), Midlarski, Crenshaw & Yoshida (1980), Schmid & de Graf (1982), Tan ( 1988, 1989 ).
Holden unterscheidet zwischen Flugzeugentführungen, um sich als Geiselnehmer an einen bestimmten Ort bringen zu lassen (transportation hijackings) und Flugzeugentführungen, um finanzielle oder politische Forderungen wie die Freilassung von Gefangenen zu erpressen (extortion hijackings). Erfolgreiche Entführungen der ersten Art führten in den folgenden 60,6 Tagen zu 0,76 Nachahmungstaten. Damit ließen sich 53% aller untersuchten “transportation hijackings” erklären.
Siehe in diesem Zusammenhang auch Weimann (1983, 1987) sowie Weimann & Brosius (1989b).
Mazur verglich lediglich die beiden Zeitreihen (Anzahl der Presseartikel und Anzahl der Bombendrohung) in einem Kurvendiagramm, ohne daß mathematische Berechnungen erfolgen. Dem Augenschein nach geht die Berichterstattung (vor allem über Gefahren und Atomunfälle) einem Anstieg der Bombendrohungen zeitlich voraus.
Goffman & Newill (1964), McCord & Howard (1968), Li & Thompson (1975), Kepplinger (1981).
Vgl. Tan (1989, S. 192). Auf die “Gefahr” ungerechtfertigter, einseitiger Schuldzuweisungen an die Medien weist eindringlich Picard (1986) hin. In seinem Übersichtsbeitrag kommt er, ohne dies empirisch belegen zu können, zu dem Schluß, daß die Medienberichterstattung das Auftreten von Terroranschlägen kaum beeinflußt.
Die offizielle Bezeichung dieses Fernsehbanns lautete “Directive by Home Secretary of 19 October 1988 under Broadcast Act 1981 §29.3 (heute §10 des 1990 Act) and Clause 13.4 of the BBC Charter’; vgl. Robertson & Nicol (1992, S. 26 ff, 624 ff).
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Brosius, HB., Esser, F. (1995). Bisherige Befunde zur Imitation von Gewalt durch Massenmedien. In: Eskalation durch Berichterstattung?. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-12097-1_5
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