Zusammenfassung
Welcher theoretische Ausgangspunkt ist zur Behandlung des aufgeworfenen Forschungsproblems bzw. zu einer allgemeinen Erklärung des Wanderungsverhaltens geeignet? Diese Frage wird in diesem Kapitel durch einen Oberblick über die Entwicklung der Wanderungsforschung zu beantworten versucht. Das Bemühen, dabei ein auch nur ansatzweise vollständiges Bild zu vermitteln, ist jedoch — wie man sehr schnell erfahren wird — von vornherein zum Scheitern verurteilt: Der Literaturbestand erweist sich als faktisch undurchschaubar. Obwohl dieser Eindruck auch bei der Beschäftigung mit anderen sozialwissenschaftlichen Themen entstehen mag, scheint die Vielfalt in bezug auf das Wanderungsverhalten besonders ausgeprägt zu sein. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sich das Thema ‚Migration‘ — bedingt durch die große gesellschaftspolitische Bedeutung, die mit den Folgen verbunden ist — von jeher als ein höchst interdisziplinärer Gegenstand präsentiert hat. Beiträge auf dem Gebiet der Migrationsforschung sind u.a. in der Soziologie, der Ökonomie, der Demographie, der Geographie, der Politologie, der Ethnologie und der (Sozial-)Psychologie zu finden — mit teilweise ähnlichen, teilweise aber auch sehr unterschiedlichen Interessen und Methoden.
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Literatur
Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, daß das Kriterium der,Wahrheit` hier und im folgenden immer durch das in Poppers Falsifikationismus (Popper 1976) zentrale Prinzip der,Bewährung` zu ersetzen ist.
Beispiele wären etwa die Formulierungen:,Wenn jeder zehnte Einwohner die Wohnung gewechselt hat, dann beträgt die Umzugsquote 10%’ oder:,Wenn eine Person den Wohnort verläßt, dann geschieht dies aus beruflichen oder aus anderen Gründen’.
Betrachtet man die zu Beginn dieser Arbeit aufgeführten Binnenwanderungsziffem, so ist die Allgemeingültigkeit des Gesetzes,In allen Ländern wechseln jährlich 5,5% der Wohnbevölkerung den Wohnort` schon mit dem Verweis auf das Jahr 1992, in dem die entsprechende Quote in der Bundesrepublik nur 5,2% betrug (vgl. Wirtschaft und Statistik 12/93: 772*), widerlegt. Formuliert man die Aussage aber in der Form,Wenn es sich um die Bundesrepublik Deutschland und das Jahr 1993 handelt, dann beträgt die Quote an Ortswechseln in diesem Land 5,5%`, so hat man ein formal allgemeingültiges, empirisch bewährtes Gesetz. Im Extremfall könnte man die Prämisse sogar falsch setzen und somit einen tautologischen Zusammenhang erhalten.
Das in Fußnote 6 aufgeführte Gesetz mit erweiterter Prämisse läßt sich nur an einem einzi-gen Fall, nämlich am Fall der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1993, potentiell falsifizieren. Der Informationsgehalt ist also nur minimal.
Dies bedeutet nicht, daß eine deduktiv-nomologische Erklärung eines Einzelfalls unmög-lich ist, wie das Prinzip der genetischen Erklärung (vgl. Stegmüller 1969: 352–360) zeigt.
Eine Nachfolgearbeit aus dem Jahr 1889 trägt den gleichen Titel und wird gelegentlich als,The Laws of Migration II` zitiert.
Interessanterweise kann also schon bei Ravenstein festgestellt werden, daß er als impliziten wanderungsauslösenden Mechanismus ein rationales Verhalten von Individuen unterstellt.
Zur Messung der Distanz werden sehr verschiedene Indikatoren benutzt. Zipf (1946: 680) legt die kürzeste Eisenbahnentfernung zwischen zwei Städten, Dodd (1950: 288) die Autobahnentfernung zugrunde.
Beispielsweise kann die Distanz (wie beim physikalischen Gravitationsgesetz) auch quadratisch berücksichtigt werden. In den gravitationstheoretischen Wanderungsmodellen wird der Exponent der Distanz im Nenner oft als Variable dargestellt, die wie die,Migrationskonstante k empirisch zu bestimmen ist (vgl. Speare et al. 1975: 165); ein Vergleich der Exponenten 1 und 2 ist bei Anderson (1955) zu finden.
Insbesondere zeigt sich, daß das Modell um so unangemessener ist, je feiner die zugrunde-liegende Untergliederung der Gebiete ist. „It must be admitted that the gravity model and its elaborations appear to lose explanatory power with each successive census. When flows are disaggregated, the need becomes greater selectively to determine unique weights for areas and unique distance functions for subgroups of in-and out-migrants“ (Wolpert 1965: 159).
Deshalb ist auch eine Rekonstruktion des Gravitationsmodells durch ein mikroökonomisches Modell nicht schwierig, wie beispielsweise von NiedercornBechdolt (1969) gezeigt wird.
Andere Versuche, eine theoretische Fundierung für den Zusammenhang zwischen Distanz und Wanderungen zu finden, stammen von Anderson (1979), Choukroun (1975), Sheppard (1978) und Smith (1975).
Dieses Modell der Intervening opportunities wurde nicht nur von Anderson (1955) und von Stouffer selbst getestet, sondern außerdem z.B. noch von Bright/Thomas (1941), Isbell (1944) und Strodtbeck (1949; 1950). Einen guten Überblick über die Ergebnisse der empirischen Überprüfung der Distanzmodelle bietet Langenheder ( 1968: 53–62 ).
Bezüglich der allgemeineren Formel von Dodd wäre noch hinzuzufügen: bei jeweils gleichen Aktivitätsniveaus.
Wir legen hier die mathematische Vorstellung und Begrifflichkeit zugrunde, daß ein Strom (Vektor) durch Länge, Richtung und Orientierung eindeutig bestimmt ist.
Die hier als,Stouffer (1962a)` bzw.,Stouffer (1962b)` zitierten Arbeiten sind Wiederabdrucke von Aufsätzen aus den Jahren 1940 bzw. 1960.
Vgl. dazu auch die ökologische Theorie (siehe unten 2.2.4).
Nach Sly ( 1972: 160 ist dabei mit dem Begriff,Bevölkerung` vor allem deren Standort, Größe, Zusammensetzung und räumliche Verteilung gemeint.,Organisation` heißt vor allem: Versorgungsorganisation, insbesondere interessieren die zur Versorgung notwendigen Aktivitäten.,Umwelt` umschließt alle externen Kräfte, vor allem aber auch andere Populationen.,Technologie` bezieht sich schließlich auf Menge, Vielfalt und Effizienz der eingesetzten Werkzeuge und Techniken.
Für die Binnenwanderungen in der Bundesrepublik überprüfen dies beispielsweise Birg et al. (1993: 85–103).
Daß bei solchen Korrekturen im Prinzip genau nach dem individualistischen Erklärungsschema verfahren wird, deckt sich auch mit der Beobachtung anderer Autoren: „The models are,modified` in the sense that the variables of the basic gravity model are given behavioral content, and additional variables that are expected to importantly influence the decision to migrate are included in the estimated relationships. The additional variables are typically suggested as proxies for various arguments of individual utility functions“ (Greenwood 1975: 398).
Um anfänglich vereinfachende Annahmen in sinnvoller Weise realistischer zu machen, ist eine Art von Heuristik notwendig, die die Richtung der Vertiefung vorschlägt. Solche Heuristiken werden durch geeignete Handlungstheorien in besonderer Weise zur Verfügung gestellt (siehe unten 3.2) — die Notwendigkeit eines kurzen Rückgriffs auf eine solche Handlungstheorie wird somit leicht verständlich.
Abweichungen von dieser einfachen Aggregationsregel können sich beispielsweise durch Einwanderungsquoten ergeben, die der Summe der Einzelentscheidungen eine feste Obergrenze setzen.
Für eine Zusammenstellung der wichtigsten Kosten-und Nutzenterme im mikroökonomischen Modell siehe auch Rothenberg (1977).
Interessanterweise ist die Arbeit von Lewin auch ein wesentlicher Ansatzpunkt bei Langenheder (1968), der die handlungstheoretische Umorientierung in der deutschsprachigen Migrationssoziologie markiert, ohne aber auf Wolpert Bezug zu nehmen.
Vgl. allgemein Esser (1991: 55) und für das Wanderungsverhalten beispielsweise Chemers et al. (1978: 43), De Jong/Fawcett (1981: 47), Friedrichs et al. (1993: 4), Kalter (1993a: 130); die Notationen weichen teilweise von den hier gebrauchten ab.
Eine siebte Kategorie, Gesundheit, wäre hinzuzufügen (vgl. etwa Speare 1971: 119).
Die Integration individueller und struktureller Faktoren ist eine oft erhobene Forderung in der Migrationssoziologie (Taylor 1969) und wird immer noch eher zu selten vorgenommen (Findley 1987: 163).
Although the action space is unique for each individual, still there is likely to be a good deal of convergence into a limited number of broad classes. The congruity and interdependence of the effects of race, family income, education, and occupation are likely to result in subgroups of individuals with rather homogeneous action spaces“ (Wolpert 1965: 165).
Weitere Spezifikationen bilden beispielsweise das Habit-Modell (4.2.2), das Diskriminationsmodell von Lindenberg (4.4.1.1), das Framing-Modell von Esser (4.4.1.2), das lexikographische Entscheidungsmodell (4.4.1.3), die Theory of reasoned action und die Theory of planned behavior (6.2.1 bzw. 6.2).
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Kalter, F. (1997). Wanderungstheorien: Von Ravenstein zum SEU-Modell der Wanderung. In: Wohnortwechsel in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11886-2_2
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