Zusammenfassung
Was passiert, wenn ‘Fremde’ in eine Gesellschaft immigrieren? Diese Frage hatte und hat nicht nur akademischen Rang und wird offen gestellt, sondern ihr skeptischer Tenor schuldet sich gemeinhin einem mehr oder minder explizit formulierten Zielwert. Fremde, so die logische Konsequenz von Gesellschaftsmodellen, die von einer normativen und kulturellen Homogenität gesellschaftlicher Einheiten wie ‘Volk’ oder ‘Nation’ ausgehen, heben tendenziell gesellschaftlichen Zusammenhalt auf und können auf Dauer nur dann akzeptiert werden, wenn sie sich in die bestehende Kultur des Einwanderungslandes integrieren. Andernfalls drohe, so auch die verbreitete Ansicht in Politik und Alltag, gesellschaftlicher Zerfall. Diese Argumentationen basieren auf cthnisch-kulturalistisch orientierten Staats- und Gesellschaftsideen, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert mit der Genese der Nationalstaaten entstanden sind (vgl. Heckmann 1991, 1992). In diesem Zeitraum formieren sich die zerfallenden spätfeudalen Strukturen in Europa neu unter dem Label der ‘Nation’ als „Ersatzreligion“ (Wehler 1989), und das Konzept der ‘Kultur’ als Gesamtausdruck der wertebezogenen Charakteristik eines ‘Volkes’, einer ‘Nation’ oder selbst globaler Kontexte wie ‘Europa’, der ‘westlichen Welt’ usw. macht eine beispiellose Karriere. In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts, nachdem die Ost-West-Differenz als politische Ordnungskategorie transnationaler Zusammenhänge fast schlagartig bedeutungslos wird, erlebt ‘Kultur’ noch einmal einen Bedeutungsaufschwung, indem auf der verwaisten Bühne des Ost-West-Konflikts nun der ‘Kampf der Kulturen’ (Fukuyama 1992) inszeniert wird. In einer sich globalisierenden und nationale Differenzen übergreifenden Weltgesellschaft, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts z.B. in ökonomischer, medialer und konsumkultureller Hinsicht ausbildet, gewinnen ab den 80er und 90er Jahren scheinbar paradoxerweise wieder klassische, ‘vormoderne’ Kategorien wie Nation, Ethnie, Rasse, Kultur und Religion an Bedeutung. Und darüber geraten nicht nur Wanderungsbewegungen wieder zunehmend in ein Spannungsfeld internationaler Beziehungen und nationaler Systeme, das ethnisch, kulturell und religiös aufgeladen ist. Auch binnengesellschaftliche Gruppen in verschiedenen Staaten orientieren sich (wieder) an ethnischen Identitäten. Dieses Faktum konterkariert diejenigen Gesellschaftstheorien, die sich lediglich um historische Erklärungsversuche von Rassismus oder Nationalismus bemühen bzw. die, wie etwa die Luhmannsche Systemtheorie, Hautfarbe, Herkunft oder Ethnizität lange Zeit in den theoretisch marginalisierten Bereich sekundärer Differenzierungsformen einordnen (vgl. hierzu: Esser 1988). Erst mit der weltweiten Renaissance ethnisch-kultureller Kategorien in den achtziger Jahren, mit der Zunahme politischer Strategien und sozialer Bewegungen, die sich auf historische Ursprünge und Rechte, auf eine ethnisch-nationale Kultur diesseits oder jenseits staatlicher Einheiten oder auf Religion als konstitutive Identifikationsmuster von Personen, Personengruppen und staatlichen Einheiten berufen, mußte sich die sozialwissenschaftliche Theoriebildung umorientieren. Daß in dieser erzwungenen Renaissance ethnischer Theoriekonzepte die alten Migrationstheorien kaum mehr hinreichende Erklärungsfolien abgeben, möchten wir in diesem Artikel erläutern.
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Meister, D.M., Sander, U. (1998). Migration und Generation. In: Ecarius, J. (eds) Was will die jüngere mit der älteren Generation?. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11816-9_9
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