Zusammenfassung
Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Kriterien für die Durchführung empirischer Theorienvergleiche zusammengetragen und entwickelt wurden, stellt dieses Kapitel die beiden zum Vergleich herangezogenen Theorien dar. Dabei werden die Grundannahmen der beiden Theorien expliziert sowie die relevanten Hypothesen abgeleitet Die aus der Literatur (ergänzt durch eigene Überlegungen) entwickelte Methodologie empirischer Theorienvergleiche wird nun praktisch umgesetzt und angewandt. Zunächst erfolgt eine Kurzvorstellung der beiden Theorien, die dem Leser helfen soll, sich zu orientieren, und eine Einordnung der Theorien in die derzeitigen wissenschaftlichen Debatten ermöglichen soll. Im Anschluß daran wird im Abschnitt 3.1 die „Theory of Planned Behavior“ von Ajzen (1985, 1988, 1991), eine Version der Rational Choice Theorie sowie im Abschnitt 3.2 der persönlichkeitstheoretische Ansatz von Gottfredson und Hirschi (1990) „A General Theory of Crime“ ausführlich dargestellt. Die Theorien stellen zwei populäre und kontrovers diskutierte Ansätze zur Erklärung abweichenden Verhaltens dar (vgl. Cornish/Clark 1986, Tuck/Riley 1986, Beck/Ajzen 1991, Akers 1991, 1997, Tittle 1991, Nagin/Paternoster 1993, Niggli 1994).
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Literatur
Die „General Theory of Crime“ von Gottfredson und Hirschi (1990) ist alleine in fünf unterschiedlichen kriminologischen Zeitschriften besprochen worden (vgl. Akers 1991, Barlow 1991, Morrison 1991, Polk 1991, Tittle 1991) und hat zu einer Reihe von neueren empirischen Forschungsprojekten inspiriert. „This is an important book that already has begun to have a major impact on theoretical and methodological discourse in criminology” (Akers 1991: 201). „Indeed, this is one of the most important books in criminology in the past 20 years.… Nobody interested in crime and deviance can afford to ignore it” (Tittle 1991: 1610 f.).
Man spricht beim Rational Choice Ansatz auch vom „ökonomischen Programm“ (Opp 1978), von der Nutzentheorie, der Wert-Erwartungstheorie, dem entscheidungstheoretischen Modell oder SEU-Theorien (Subjective-Expected-Utility) u.ä. Diese Begriffe werden in dieser Studie synonym verwendet, obwohl es neben formaler Strukturähnlichkeit (vgl. Kunz 1997) auch durchaus konzeptionelle Unterschiede geben kann (vgl. Kühnel 1993).
Eine sehr exakte Beschreibung des SEU-Modells findet sich bei Friedrichs et al.: „Das Modell… geht davon aus, daß eine Person in einer Entscheidungssituation verschiedene Handlungsalternativen wahrnimmt. Von diesen Alternativen (oft einer Dichotomie) wird diejenige gewählt, deren Handlungskonsequenzen positiver bewertet und deren Eintreten mit höherer Wahrscheinlichkeit erwartet wird, also diejenige, die den höheren Nettonutzen hat. Für beide Handlungsalternativen (Ha, Hb) wird das Individuum eine Reihe von Handlungskonsequenzen kennen. Für jede der aus der Handlung folgenden Konsequenzen werden der Nutzen (Ui) und die Auftrittswahrscheinlichkeit (pi) der Handlungskonsequenzen vom Individuum ermittelt. Nutzen und Wahrscheinlichkeit jeder vorkommenden Handlungskonsequenz werden multipliziert und die einzelnen Produkte addiert. Die Produktsumme ist der Nettonutzen (NN) einer Handlungsalternative (Hj): NN (Hj) = Summe Pi * Ui. Von allen Handlungsalternativen (Hj) wird diejenige ausgeführt, die den höheren Nettonutzen hat,…“ (Friedrichs et al. 1993: 3 f.).
Ein weiterer Hinweis auf die Anwendbarkeit dieser Theorie auf den vorliegenden Erklärungsfall ergibt sich durch einen Blick auf die Untersuchungen von Schlegel et al. (1987, 1992), die die „Theory of Reasoned Action“ zur Vorhersage von „Problem drinking” anwenden. In ihren gesamten Ausführungen findet sich kein einziger Hinweis auf einen möglichen Einfluß des Alkoholkonsums auf die Informationsverarbeitungskapazität der einzelnen Befragten und damit auf die Anwendungsmöglichkeit der ausgewählten Theorie. Dies ist sehr verwunderlich, da diese Möglichkeit natürlich bei dem von ihnen ausgewähltem Verhalten sehr nahe liegt. Nun läßt sich aus der Nichtberücksichtigung dieses Problems bei Schlegel et al. nicht schließen, daß es kein Problem gibt, allerdings erschien den Gutachtern bei der Begutachtung der Manuskripte dieses Problem nicht so schwerwiegend zu sein, um diese Artikel in den jeweiligen Zeitschriften abzulehnen.
MacDonald/Zanna/Fong (1995) stellen in ihrer experimentellen Untersuchung, in der sie die TORA als theoretische Grundlage heranziehen, fest, daß Personen die Alkohol getrunken haben sich im Vergleich zu nüchternen Personen bei generellen Fragen nicht unterscheiden. Bei kontingenten Fragen (z.B. kürze Distanz) ergeben sich Unterschiede, allerdings nur in bezug auf die Einstellung, nicht jedoch auf die subjektive Norm und die verhaltensbezogenen „beliefs“.
Da die TOPB als eine Variante der RCT gilt, wird im Text nur bezug auf die Kritik an der RCT genommen (vgl. für eine spezifische Kritik an der TORA bzw. TOPB z.B. Jonas/Doll 1996, Schiefele 1990, Liska 1984 ).
Vgl. Beckert 1996 für eine Zusammenfassung der Diskussion, vgl. auch Aretz 1997.
Hartmut Esser listet die Anomalien auf: „Die Konfundierung von Erwartungen und Bewertungen, Umkehreffekte und Intransitivitäten bei den Präferenzen und Erwartungen, Besitztumseffekte, alle möglichen Urteilsverzerrung und logische Fehler, die Abhängigkeit der Urteile von Referenzpunkten, sunk-cost-Effekte, die Niedrigbewertung von Opportunitätskosten gegenüber unmittelbaren Kosten und Vorteilen, Sicherheitspräferenzen, die Verzerrung von großen und kleinen Wahrscheinlichkeiten, moralisches und altruistisches, an Nuitzenfolgen nicht orientiertes und emotionales Handeln, die Erzeugung von Präferenzen und Erwartungen durch das Handeln selbst, die Anpassung der Präferenzen an die Möglichkeiten und die Änderung von Präferenzen und Erwartungen nach Erfolg oder Mißerfolg unter anderem“ (Esser 1996: 2 ).
Irrationales Handeln ohne Bedauern weist die ökonomische Handlungstheorie als normative Entscheidungstheorie zurück. In diesem Fall nehmen Akteure freiwillig Kosten auf sich, und selbst nachdem sie über die Irrationalität ihres Handelns informiert worden sind, würden sie in zukünftigen Situationen genauso wieder handeln. Zur Auflösung dieses Dilemmas sei auf Beckert (1996: 134) verwiesen.
Auf die Debatte, ob es legitim ist in der wissenschaftlichen Forschung mit derart unrealistischen Annahmen zu operieren und ausschließlich auf die Prognosefähigkeit derartiger Modelle zu schauen, eine Position die besonders pointiert von Friedman (1953) formuliert wurde, und die an diese Annahme anschließende kritische Diskussion kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden (vgl. zur Diskussion z.B.: Musgrave 1981 und Kanazawa 1998).
Preisendörfer ist dabei folgendes aufgefallen: „Immerhin merkwürdig ist bei der Nutzentheorie folgendes: Auf der einen Seite wird nicht angenommen, daß die Abwägungsprozesse bewußt verlaufen, auf der anderen Seite werden zur Eruierung des Nettonutzens einer Handlungsalternative nur Handlungskonsequenzen berücksichtigt, die den Befragten bewußt sind“ (Preisendörfer 1985:. 68).
Ähnlich äußern sich auch Friedman und Hechter, die einen Überblick über die Grundzüge des Programms geben, zur Lösung des Tautologievorwurfs. „Rational choice models rely on conceptions as purposive and intentional. These actors are conceived to have given preferences, values or utilities. They act with the express purpose of attaining ends that are consistent with their hierarchy of preferences…. In any specific rational choice theory, however, actor’s ends (and the preferences implied by those ends) must be specified in advance. Without such prespecification of actor s ends, rational choice explanations are liable to be tautological“ (Friedman/Hechter 1988: 202 ).
It is meant to explain all crime, at all times, and, for that matter, many forms of behavior that are not sanctioned by the state“ (Gottfredson/Hirschi 1990: 117).
Für die Unterscheidung zwischen Vernunftnormen, Spielregeln und sozialen Normen sei auf Tugendhat (1995: 42 ff.) verwiesen.
Vgl. dazu auch Hopf (1987: 244) und Ziegler (1984: 439 ff.), die diese sanktionsorientierte Normdefinition in der Geiger-Popitz-wie in der Durkheim -Tradition verankert sehen.
Die Unterscheidung zwischen relativer und absoluter Fahruntüchtigkeit wird in dieser Studie nicht berücksichtigt (vgl. Bode/Winkler 1994).
Die Bezeichnung dieser Eigenschaften folgt dabei einem Vorschlag von Barlow (1991: 233) und Grasmick et al. (1993: 7 ff.).
After a century of research, crime theories remain inattentive to the fact that people differ in the likelihood that they will commit crimes and that these differences appear early and remain stable over much of the life course“ (Gottfredson/Hirschi 1990: 108).
The major „cause“ of low self-control thus appears to be ineffective child-rearing” (Gottfredson/Hirschi 1990: 97).
Aussagen zu unterschiedlichen Delinquenzraten unterschiedlicher Ethnien kommen über die bloße Deskription nicht hinaus und haben keinen Erklärungswert. Eine Erörterung der Argumente wird deshalb hier nicht erfolgen (vgl. Gottfredson und Hirschi 1990: 149 ff.). Der von Gottfredson und Hirschi (1990) benannte Zusammenhang zwischen dem Alter und der Delinquenzbelastung ebenso wie der Hinweis auf Geschlechtsunterschiede stellt jedoch auch nur einen deskriptiven Befund und keine Erklärung dar.
As a matter of fact, male-female differences in the use of force and fraud emerge early in life, well before differences in opportunity are possible, and persist into adulthood, where differences in supervision by agents of social control are minimal“ (Gottfredson/Hirschi 1990: 148).
Übrigens findet sich auch bei Lamnek, der die „General Theory of Crime“ von Gottfredson und Hirschi (1990) in sein Lehrbuch aufgenommen hat, außer zwei sehr allgemeinen Hinweisen auf den möglichen Einfluß von situativen Faktoren (Lamnek 1994: 143 und 157), keine Ausarbeitung und Berücksichtigung dieser für die „General Theory of Crime” zweiten wichtigen unabhängigen Variablen. Auch Akers (1991) erwähnt an keiner Stelle in seiner Besprechung der „General Theory of Crime“ von Gottfredson und Hirschi (1990) die unabhängige Variable „crime opportunity”.
Hirschi und Gottfredson (1994) reagieren auf den von Akers vorgebrachten Tautologievorwurf zunächst mit der Bemerkung: „In our view, the charge of tautology is in fact a compliment, an assertion that we followed the path of logic in producing an internally consistent result“ (1994: 8) Dann führen sie aber aus, daß Akers (1991) wohl das Konzept mißverstanden hat: „We do not see self-control as the propensity to commit crime, or as the motivating force underlying criminal acts. Rather, we see self-control as the barrier that stands between the actor and the obvious momentary benefits crime provides. We explicitly propose that the link between self-control and crimes is notdeterministic, but probabilistic, affected by opportunities and other constraints. If so, the problem with our conception is more likely to be that it is nonfalsifiable than that it merely definitional” (1994: 9, Kursiv im Original).
Auf den Kritikpunkt, wonach die „General Theory of Crime“ von Gottfredson und Hirschi (1990) zu allgemein sei und nicht alle Arten abweichenden Verhaltens gleichermaßen erklären kann, wird hier nicht weiter eingegangen. Vgl. dazu Benson und Moore 1992 sowie Reed und Yeager 1996, die sich beide mit der Frage befassen, ob die Theorie von Gottfredson und Hirschi (1990) in der Lage ist, „white-collar-crime” zu erklären.
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Seipel, C. (1999). Die zu untersuchenden Theorien. In: Strategien und Probleme des empirischen Theorienvergleichs in den Sozialwissenschaften. Forschung Soziologie, vol 35. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11544-1_3
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-8100-2486-2
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