Zusammenfassung
In der neueren Organisationssoziologie wird im Anschluß an Lawrence und Lorsch häufig von „Kontingenz-Theorie“ gesprochen (1)*. Gemeint ist damit, daß Unterschiede in den Strukturen der Organisationen abhängen von Unterschieden der für sie relevanten Umwelt. Auch unabhängig von der Bezeichnung als „Kontingenz-Theorie” ist diese Vorstellung weit verbreitet (2). Versuche einer direkten Verwendung dieser Theorie in der empirischen Forschung sind jedoch auf beträchtliche Schwierigkeiten gestoßen. Dies gilt besonders für die Frage, wie weit Ergebnisse für spezifische Variablenkonstellationen nun eine allgemeine Kontingenz-Theorie bestätigen (3). Das normale Schicksal anspruchsvoller Generalisierungen zeichnet sich bereits ab: Sie werden wieder aufgegeben, weil die empirische Forschung zu unübersichtlichen, unvergleichbaren oder gar widerspruchsvollen Resultaten führt. Es kommt zu einem Oszillieren zwischen Ansprüchen und Enttäuschungen. Theorien werden zu „self-defeating prophecies“ — vielleicht einfach deshalb, weil allgemeine theoretische Konzepte zu direkt in empirische Forschung übersetzt werden.
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Anmerkungen
Siehe Paul R. Lawrence/Jay W. Lorsch,Organization and Environment: Managing Differentiation and Integration, Boston 1967.
Vgl. nur William R. Dill,Environment as an Influence on Managerial Autonomy, Administrative Science Quarterly 2 (1958),S. 409–443; ders.,The Impact of Environment on Organizational Development, in: Sidney Mailick/Edward H. Van Ness (Hrsg.), Concepts and Issues in Administrative Behavior, Englewood Cliffs 1962, S. 94–109; Tom Burns/G. M Stalker,The Management of Innovation, London 1961; A. K. Rice,The Enterprise and its Environment: A System Theory of Management Organization, London 1963; James D. Thompson,Organizations in Action, New York 1967; Dieter Grunow/Friedhart Hegner,Überlegungen zur System-Umwelt-Problematik anhand der Analyse des Verhältnisses zwischen Organisation und Publikum, Zeitschrift für Soziologie 1 (1972), S. 209–224. John H. Freeman,Environment, Technology and the Administrative Intensity of Manufacturing Organizations, American Sociological Review 38 (1973), S. 750763; Ray Jurkovich,A Core Typology of Organizational Environments, Administrative Science Quarterly 19 (1974), S. 380–394.
Vgl. z. B. C. R. Hinings/D. J. Hickson/J. M. Pennings/R. E. Schneck, Structural Conditions of Intraorganizational Power, Administrative Science Quarterly 19 (1974), S. 22–44; Johannes M. Pennings, The Structural Contingency Model and its Relevance for Organizational Effectiveness (Ms.). Siehe ferner Henry Tosi/Ramon Aldag/Ronald Storey, On the Measurement of the Environment: An Assessment of the Lawrence and Lorsch Environmental Uncertainty Questionnaire, Administrative Science Quarterly 18 (1973), S. 27–36.
Auf diese Möglichkeit, die mancherlei Rücksichten begriffstechnischer Art erfordert, kann im folgenden Referat nicht näher eingegangen werden. Siehe dazu Niklas Luhmann,Interaktion, Organisation, Gesellschaft: Anwendungen der Systemtheorie, in diesem Bande, S. 9ff.
Dieser Unsicherheitsaspekt von Kontingenz ist einerseits in der Theorie rationalen Entscheidens, andererseits in der Organisationssoziologie vor allem im Hinblick auf Machtverteilungen behandelt worden. Zu letzterem z. B. Michel Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1963, insb. S. 193 ff.; J. MPennings/D. J. Hickson/C. R. Hinnings/C. A. Lee/R. E. Schneck, Uncertainty and Power in Organizations: A Strategic Contingencies’ Model of Sub-Unit Functioning, Mens en Maatsehappij 44 (1969), S. 418–433.
Duns Scotus,Ordinatio I dist. 39 n. 10, Opera Omnia Bd. VI, Civitas Vaticana 1963, S. 411.
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann,Funktionen und Folgen formaler Organisation, 2. Aufl. Berlin 1972.
Daß diese scharfe Logik des Entweder/Oder in der Realität nicht durchgehalten werden kann, versteht sich von selbst und ist durch organisationssoziologische Forschungen über informale Organisation und abweichendes Verhalten in Organisationen vielfältig belegt. Trotzdem läuft, das sollten gerade Soziologen nicht verkennen, das Verhalten in Organisationen im großen und ganzen regelorientiert ab; zumindest stehen Regeln immer in Reserve zur Verfügung, so daß man sie bei Bedarf zitieren, sich auf sie zurückziehen, sie ändern kann, wenn Probleme aktuell werden, die dies nahelegen.
Zu letzterem Albert O. Hirschman,Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations, and States, Cambridge Mass. 1970.
Siehe z. B. Robert E. Cole,Functional Alternatives and Economic Development: An Empirical Example of Permanent Employment in Japan, American Sociological Review 38 (1973), S. 424438. In der aktuellen deutschen Diskussion über Lebenszeitbeschäftigung tritt dieses Argument der politischen Disponibilität zurück. Die Lebenszeitbeschäftigung wird eher durch Hinweis auf die erforderliche „Unabhängigkeit“ der Beamten begründet — ein Argument, das sich auch gegen die politische Führung ausspielen läßt. Vgl. den Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts, Baden-Baden 1973, S. 149 ff.
Übrigens auch bereits mit einer Andeutung der Dimensionen von munus als ministerium, zu dem man berufen wird (professio, vocatio, functio), als mandatum, das in einem hierarchischen Verfahren aufgetragen und organisatorisch lokalisiert ist, und als officium, das den Verpflichtungsinhalt, also die Aufgabe selbst (z. B. cura animarum) betrifft. Die terminologischen Konturen verschwimmen freilich in einer Überfülle von Begriffen, weil die juristische Argumentation auf Beachtung dieser Differenzierungen nicht angewiesen ist. Vgl. für Einzelheiten z. B. Donald Edward Heintschel,The Mediaeval Concept of an Ecclesiastical Office in the Major Sources and Printed Commentaries from 1140–1300, Washington 1956; Ralf Dreier,Das kirchliche Amt: Eine kirchenrechtstheoretische Studie, München 1972, insb. S. 115 ff.
Dies gilt vor allem für eine gewisse Schichtabhängigkeit des Rekrutierungsprozesses, während die internen Bewegungsvorgänge (Karrieren) in Organisationen bereits in hohem Maße schichtunabhängig erfolgen auf der Basis einer systemeigenen Erfahrungs-und Bewährungsgeschichte (siehe für den deutschen öffentlichen Dienst z. B. Niklas Luhmann/Renate Mayntz, Personal im öffentlichen Dienst: Eintritt und Karrieren, Baden-Baden 1973, S. 140 ).
Philip Selznick,Leadership in Administration: A Sociological Interpretation, Evanston Ill. — White Plains N. Y. 1957, hatte mit Bezug auf dieses Problem die Funktion der Führung gesehen als Befreiung von (und momentanes Sicherheitsäquivalent fir) Systemgeschichte. Dabei wird nicht genügend berücksichtigt, daß mit der Systemgeschichte auch die Rationalitätsgrundlagen für strukturelle Umdispositionen entfallen; ein solcher Führer müßte also nicht nur in seinem „appeal“, sondern auch in seinem „Kalkül” außerhalb der Rationalität wirken. Vgl. hierzu auch Sir Geoffrey Vickers,The Art of Judgment: A Study of Policy Making, London 1965.
Diese Generalisierungsleistung, die es ermöglicht, Personal mit anderen Strukturen auf einen formalen Nenner zu bringen, ist vor allem Herbert Simon zu danken. Zur theoretischen Entwicklung siehe: Herbert A. Simon/Donald W. Smithburg/Victor A. Thompson, Public Administration, New York 1950, S. 57 ff.; Herbert A. Simon, A. ministrative Behavior: A Study of Decision-Making Processes in Administrative Organization, 2. Aufl., New York 1957, S. XXX f.; ders., Administrative Decision Making, Public Administration Review 25 (1965), S. 31–37 ).
Der Abstand zwischen wissenschaftlichen Möglichkeiten und praktischen Erfordernissen ist hier so groß, daß er wohl nur in enger Zusammenarbeit mit dem in den Organisationen selbst bestehendem Personalbeurteilungswesen verringert werden kann. Die Personalbeurteilung müßte dann zugleich für das Entwickeln und Testen wissenschaftlicher Instrumente zur Verfügung gestellt werden und hierfür eine gewisse Experimentierfreiheit erhalten.
Vgl. Torstein Eckhoff/Knut Dahl Jacobson,Rationality and Responsibility in Administrative and Judicial Decision-making, Kopenhagen 1960; Niklas Luhmann,Lob der Routine, in: ders.,Politische Planung, Opladen 1971, S. 113–142; ders.,Zweckbegriff und Systemrationalität: Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Neudruck Frankfurt 1973, insb. S. 101 ff. Kritisch dazu Walter Schmidt,Die Programmierung von Verwaltungsentscheidungen, Archiv des öffentlichen Rechts 96 (1971), S. 321–354.
Vgl. hierzu David Braybrooke/Cbarles E. Lindblom,A Strategy of Decision: Policy Evaluation as a Social Process, New York 1963, S. 158 ff.
Siehe z. B. George Strauss,Some Notes on Power-Equalization, in: Harold J. Leavitt (Hrsg.), The Social Science of Organizations: Four Perspectives, Englewood Cliffs N. J. 1963, S. 39–84 (71 ff.).
Darauf deuten die Ergebnisse von Robert B. Zajonc,The Process of Cognitive Tuning in Communication, The Journal of Abnormal and Social Psychology 61 (1960), S. 159–167 hin, die allerdings, soweit ich sehe, nie überprüft und weiterentwickelt worden sind.
Siehe für Programme z. B. James G. March/Herbert A. Simon, Organizations, New York/London 1958, S. 143: „The greater the programming of individual activities, the greater the predictability of those activities.“
So deuten die von Peter M Blau,Decentralization in Bureaucracies, in: Mayer N. Zald (Hrsg.),Power in Organizations, NashvilleTenn. 1970, S. 150–174 und Peter M Blau/Richard A. Schoenherr,The Structure of Organizations, New York/London 1971, S. 115 ff. berichteten Befunde darauf hin, daß eine zentralisierte, standardisierte Personalauslese eine Delegation und relative Offenheit der Programmfestlegungen ermöglicht. Das Umgekehrte wird ebenfalls gelten und unter anderen Umweltbedingungen ebenfalls sinnvoll sein.
Vgl. hierzu den immer wieder bemerkenswerten Beitrag von Pitirim A. Sorokin,The Principle of Limits Applied to Problems of Causal or Functional Relationship between Societal Variables and of the Direction of Social Processes, in: Social Process: Papers Presented to the 26th Annual Meeting of the American Sociological Society Washington 1932, Chicago 1933, S. 19–27.
Diese These war auch fir den älteren „Holismus“ zentral. Siehe z. B. Andras Angyal,The Structure of Wholes, Philosophy of Science 6 (1939), S. 25–37.
Zur Konzeption generalisierter Medien allgemein: Talcott Parsons,Politics and Social Structure, New York 1969, S. 352 ff., 405 ff., 439 ff. Niklas Luhmann,Einfihrende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in diesem Bande, S. 170–192; ders.: Macht, Stuttgart 1975. Vgl. ferner die Ergebnisse bei Lawrence und Lorsch a.a.O., daß interne reziproke Machtsteigerungen die produktiveren Organisationen bei kontingenteren Umwelten auszeichnen.
Vgl. insb. Crozier a.a.O., S. 259 f., 291 ff., 360 f., u. ö.; Karl W. Deutsch,Politics and Government: How People Decide Their Fate, Boston 1970, S. 52 ff.; Mauk Mulder et al., An Organization in Crisis and Non-crisis Situations, Human Relations 24 (1971), S. 19–41 (insb. zum Zusammenhang mit situationsbedingten Machtsteigerungen).
Siehe etwa: Howard H. Vollmer/Jack A. Kinney,Age, Education and Job Satisfaction, Personnel 32 (1955), S. 38–43; S. M. Klein/J. R. Maher, Education Level and Satisfaction with Pay, Personnel Psychology 19 (1966), S. 195–208; Elmar Lange/Niklas Luhmann,Abiturienten ohne Studium im öffentlichen Dienst: Einige Zusammenhänge zwischen Ausbildung und Karrieren, Die Verwaltung 8 (1975), S. 230–251 (236 ff.).
Sehr prinzipielle und methodenbewußte Ausführungen dazu auch bei Pierre Bourdieu/Jean Claude Passeron,Die Illusion der Chancengleichheit: Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, dt. Übers. Stuttgart 1971, insb. S. 131 ff.
So z. B. Alvin Gouldner, The Coming Crisis of Western Sociology, London 1971.
Dieser Ansatz verbindet sich zumeist, obwohl keineswegs zwangsläufig, mit einer Präferenz für interaktionistische Forschungen. Siehe nur David Silverman, The Theory of Organisations, London 1970.
Vgl. dazu im vergleichenden Horizont der Wirtschaftsethnologie Jochen Röpke, Neuere Richtungen und theoretische Probleme der Wirtschaftsethnologie, in: Hermann Trimborn (Hrsg.), Lehrbuch der Völkerkunde, 4. Aufl. Stuttgart 1971, S. 446–457.
Einige dieser und der im Vorangehenden behandelten Aspekte betont Theodore Caplow,Principles of Organization, New York 1964, S. 1, wenn er definiert: „an organization is a social system that has an unequi vocal collective identity, an exact roster of members a program of activity, and procedures for replacing members“.
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Luhmann, N. (2005). Allgemeine Theorie organisierter Sozialsysteme. In: Soziologische Aufklärung 2. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11447-5_3
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