Zusammenfassung
Die Jahre nach der Vereinigung haben in Ostdeutschland ein Phänomen hervorgebracht, das immer wieder Verwunderung auslöst und der Analyse und Erklärung harrt. Je größer die zeitliche Distanz zu dem vergangenen und die alltägliche Nähe zum gegenwärtigen Gesellschaftssystem wird, desto intensiver bildet sich eine diffuse DDR-Identifikation heraus. Kern dieser Identitätszuschreibung ist die Definition eines spezifisch ostdeutschen Werte-und Mentalitätskanons der Mitbürgerlichkeit. Danach werden die sozialen Beziehungen der untergegangenen Gesellschaft durch Gerechtigkeitsverständnis, Gleichheitsanspruch und Gemeinschaftssinn charakterisiert, die sie gegenüber der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft überlegen erscheinen lassen. (Berliner Zeitung vom 1.8.97; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.5.1999; Hessel et al., 1997; Spiegel vom 17.5.1999; Die Zeit vom 20.5. 1999). Vielleicht resultiert dieses Identitätsstreben aus dem Wunsch nach sozialer Geborgenheit, der in der Gegenwart nicht erfüllt und nun in die Vergangenheit hineinprojiziert wird, vielleicht wehrt sich das Individuum auch gegen Verletzungen und Verunsicherungen und konstruiert sich in einer „psychisch entlastenden, selbsttherapeutischen Laienpraxis“ (Ahbe, 1999: 90) einen Mythos, vielleicht reflektieren die Individuen mit zeitlichem Abstand auch reale Unterschiede in den Lebensweisen. Den sozialen Beziehungen in den Arbeitskollektiven — der Begriff Kollektiv oder Kollektivität wird in Diskussionen aus einer instinktiven Scheu vor Ideologielastigkeit oft gemieden — werden in einem solchen Selbstverständnis ein mitfühlendes Interesse am anderen zugeschrieben, ein Bemühen um gegenseitiges Verstehen und Verständnis oder die Hilfsbereitschaft füreinander. Für die informellen Gemeinschaften in Wohnhäusern, Garagen, Kleingärten oder Vereinen wird auf die Solidarität, den Vorteilsverzicht oder den spontanen Altruismus verwiesen, die aus einer undefinierten Verantwortung für den anderen resultierten. Zwischen den Mitgliedern der einzelnen Gemeinschaften, aber auch in der Öffentlichkeit herrschte in diesem Selbstverständnis eine bestimmte Offenheit und ein nichtreflektiertes Vertrauen — oft auch Vertrauensseligkeit -, die den einzelnen zwar leichter durchschau-und beherrschbar machten, ihm aber auch das Gefühl der Zu-und Zusammengehörigkeit gaben. Solchen retrospektiven Realitätswahrnehmungen stehen — zwischen Gegenwart und Vergangenheit ähnlich dichotomisierend — Muster entgegen wie die von der erzwungenen oder verordneten Kollektivität, der gleichmachenden Disziplinierung im Kollektiv, der kollektivierenden Vergesellschaftung oder der instrumentellen Beziehungsgemeinschaft einer Mangelwirtschaft (vgl. dazu Ahbe, 1999; Gibas, 1999; Wolle, 1998; Süddeutsche Zeitung vom 24/25.7. 1999). Kollektiv und Kollektivierung sind zu normativen Kampfbegriffen geworden, wobei eine historische Sprachanalyse sicher sehr bald ergeben würde, daß sie es schon immer waren und in beiden deutschen Systemen zur Abgrenzung und Denunziation benutzt wurden.
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Literatur
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Kirchhöfer, D. (2000). Der ostdeutsche Gemeinschaftssinn — Mythos oder Realität ?. In: Kuhn, HP., Uhlendorff, H., Krappmann, L. (eds) Sozialisation zur Mitbürgerlichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11425-3_9
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