Zusammenfassung
Die bürgerliche Gesellschaft hat wissenschaftliches Wissen in den beiden Formen von Ordnungsdenken und Befreiungsdenken hervorgebracht. Und sie hat das auf drei großen Gebieten getan, die bis dahin weniger entwickelt waren:
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Am wichtigsten war wohl die politische Ökonomie mit der zugehörigen Theorie von Staat und Verwaltung. Hier wurde der Markt samt seiner „unsichtbaren Hand“ als Prinzip der Organisation und Steuerung von Wirtschaft zugleich mit Demokratie als dem politischen Markt konzipiert. Die „Staatsmerkwürdigkeiten“ und „Polizey-Wissenschaften“ entwickelten sich ein Stück weit unabhängig davon aus der Kameralistik, den Kreislauf-Statistiken und den zynischen Regierungslehren schon von Merkantilismus und Absolutismus, waren aber nötig, um den Markt mit „unsichtbarer Hand“ zu organisieren. Die Nationalökonomie und die Staats- und Verwaltungstheorie nehmen als komplementäre Wissenschaften hier ihren Ausgang.
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Das Wissen über Gesellschaft und Individuum war die notwendige Ergänzung dazu. Hier wurde ein Bereich unabhängig von politischer Herrschaft behauptet und erstmals als beachtlich wahrgenommen, von dem aus diese Herrschaft kritisiert, kontrolliert, auf ihre Nützlichkeit überprüft werden konnte. Grundlage dieses Wissens war wieder der Markt, auf dem die gleichberechtigten und individualisierten Käufer und Verkäufer konkurrieren mußten; zum Prinzip wurde aber die Disziplin der geschlossenen Anstalt (vor allem der Fabrik) als Voraussetzung dafür, daß man so teilnehmen konnte. Soziologie und Psychologie nehmen sich bis heute dieses Wissens an.
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Der dritte Bereich wurde lange nicht als eigenständiger Bereich zur Kenntnis genommen: das Wissen und die Wissenschaften von der sozialen Ausschließung. Bürgerliche Gesellschaft hatte ihre Grenzziehungen in der Vernunft und Disziplin, die sie zur Teilnahme voraussetzte — der Wahnsinn und die Liederlichkeit mußten geduldig umgelenkt und — wenn das nicht ging — eliminiert werden. Die Wissensbestände, die unmittelbar auf die Notwendigkeit von Abgrenzung und Ausschließung zielten, entstanden in den Rasse-Lehren, in der Psychiatrie und in der Kriminologie, säkularisiert und emanzipiert von ihren religiösen Vorläufern im Wissen über Hexen, Teufelspakte, Dämonen und Besessenheiten. Die Idee von „Rasse“ und „Selektion“ ist die sehr offensichtliche Umsetzung der Erfahrung von bürgerlichen Vererbungsgemeinschaften (also Familien und Betrieben, in denen es ein „Vermögen“ weiterzugeben gilt) und Ausschluß-Konkurrenz zwischen ihnen zunächst in die Biologie. Von dort kam das Denkmodell zu „Naturwissenschaft“ und „Materialismus“ geadelt als Sozialdarwinismus wieder zurück in die Gesellschaft.
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Cremer-Schäfer, H., Steinert, H. (2000). Soziale Ausschließung und Ausschließungs-Theorien: Schwierige Verhältnisse. In: Peters, H. (eds) Soziale Kontrolle. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11405-5_4
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