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Materialistische Ansätze in der Analyse politischer Ideen

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Part of the book series: Politische Vierteljahresschrift Sonderhefte ((PVS,volume 15))

Zusammenfassung

Nach 1572, dem Jahr der Bartholomäusnacht, hat Jean Bodin seine bis dahin vertretene politische Theorie revidiert. An die Stelle der noch im Methodus enthaltenen Begründung für die im Mittelalter gültige Theorie einer Beschränkung der Königsherrschaft trat nun diejenige der absoluten Souveränität monarchischer Gewalt.1 Das hat ihn ebensowenig wie Thomas Hobbes, dessen Vertragstheorie durch die Bürgerkriegssituation des ausgehenden 17. Jahrhunderts veranlaßt wurde, dazu geführt, über materielle Konstitutionszusammenhänge der Theorieproduktion zu reflektieren. Auch Platon, zwischen dessen unterschiedlichen theoretischen Begründungen des Staates in der Politeia und den Nomoi seine Erfahrungen der Diktatur in Syrakus lagen, sah dazu keine Veranlassung. Die Vorstellung, daß Ideen unabhängig von materiellen Reproduktionszusammenhängen entstehen und, einmal entstanden und verbreitet, die Ursache materieller Entwicklungen bilden, prägte, von vereinzelten materialistischen Ansätzen in der Antike abgesehen, das Bewußtsein von Theorieproduzenten bis gut ins 17. Jahrhundert hinein. Daß selbst solche Voraussetzungen des Denkens, wie sie in den angeführten Beispielen eines Einflusses dramatischer politischer Ereignisse vorlagen oder beispielsweise auch für die Arbeit des Marsilius von Padua, dessen Theorie, daß menschliche Gemeinschaft nicht erst durch die Einheit der Christenheit konstituiert werde, sondern vor und deshalb in gewisser Weise unabhängig von deren kirchlichen Herstellung existiere, ohne den Aufstieg vor allem der französischen Königsherrschaft ebensowenig hätte „gedacht“ werden können wie die Vorstellung, den weltlichen Fürsten falle auf Erden die Aufgabe der Friedenssicherung zu — ist nicht auf Fehler dieser Theoretiker zurückzuführen und nicht als Irrtum der damals zur Verfügung stehenden Erklärungsansätze zu interpretieren, sondern als das Resultat einer materiell bedingten Schranke ihrer Erkenntnis: weil „Ideen“ in allen vorkapitalistischen Gesellschaften tatsächlich einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert hatten als in den seither entwickelten, mußte auch das Verständnis von Theorieproduktion ein anderes sein. So sehr sich diese Gesellschaften voneinander unterscheiden, sie stimmen überein in der Tatsache, daß die Organisation der materiellen Reproduktion in ihnen nicht von den übrigen Lebensvollzügen getrennt ist. Wer vorkapitalistische Gesellschaften betrachtet, nimmt als deren Organisationsprinzipien deshalb verwandtschaftliche (im Sinne des jeweils gültigen, von unserem heutigen verschiedenen, Verwandtschaftsbegriffes), religiöse oder personen-„rechtliche“ (wie im Feudalismus) wahr. In allen Gesellschaften, in denen aber die Organisation der materiellen Reproduktion und diejenige der übrigen Lebensvollzüge eine Einheit bilden, müssen notwendigerweise die „symbolischen“ Formen der „Gesellschaft“, ihre zur Organisation gewordene Sinnproduktion also, als die determinierenden Momente des Lebensvollzuges erscheinen. Erst im Nachhinein, seitdem wir vor Augen haben, daß Produktion getrennt von Familienstrukturen und religiösen Verpflichtungen, ja sogar abgesondert in Fabriken mit Zäunen darumherum, stattfinden kann, ist uns die Entzifferung der materiellen Reproduktionszusammenhänge solcher Gesellschaften in systematischer Weise möglich geworden. Daß das beileibe nicht heißen kann, die an kapitalistisch produzierenden Gesellschaften gewonnenen Raster der Analyse unkritisch zurückzutransponieren, ist hier nur am Rande zu vermerken.

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Anmerkungen

  1. Für Hinweise und Kritik zu diesem Beitrag bedanke ich mich bei Franz Dröge, Friedrich Gerstenberger und Helgard Mahrdt.

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  2. Hinweise zu diesen Zusammenhängen finden sich in mehreren Beiträgen des von Horst Denzer edierten Bandes der Bodin-Tagung in München: Horst benzer (Hrsg.), Jean Bodin. Verhandlungen der internationalen Bodin-Tagung, München 1973.

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  8. Vgl. etwa Helmut Reichelt/Reinhold Zech (Hrsg.): Produktivkräfte und Produktionsverhältnis, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1983.

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  9. Eine derartige Fragestellung ist in Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976 sehr wohl enthalten. Seine Arbeit diskutierte ich nachfolgend dennoch nicht, weil deren m. E. erforderliche Kritik eine materialistische Analyse seiner Rezeptionsweise ¡ª welche die Produktion einer neuen Theorie zum Ergebnis hat ¡ª voraussetzen würde, die in diesem Rahmen undurchführbar ist.

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  10. Angestrebt war also weder ein einigermaßen vollständiger, noch auch nur ein repräsentativer Oberblick. Die Gliederung der nachfolgenden Darstellung orientiert sich an jeweiligen methodischen Verfahrensweisen, sie wird jedoch ¡ª diese Darstellungsproblematik ist nicht zu umgehen ¡ª gelegentlich durchkreuzt von der Erörterung mehrerer Gesichtspunkte anhand einer Arbeit.

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  22. Vgl. Heide Gerstenberner: Der revolutionäre Konservatismus. Ein Beitrag zur Analyse des Liberalismus, Berlin 1969. Ich schließe mich damit der bereits 1968 formulierten Kritik meines inzwischen verstorbenen Lehrers Bruno Seidel an, dessen ich mich nicht zuletzt deshalb mit dankbarer Achtung erinnere, weil er tolerant genug war, uns unsere eigenen Fehler zuzugestehen.

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  29. Die materialistische Aufnahme wissenssoziologischer Fragestellungen findet sich derzeit am ehesten bei Sozialhistorikern (vgl. auch in diesem Zusammenhang Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Frankfurt/M. 1979). Methodisch sind sie mehrfach bei Bourdieu diskutiert. (Vgl. insbesondere Pierre Bourdieu: Les sciences sociales et la philosophie, in: Actes de la recherche en sciences sociales Nr. 47, 48/1983).

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  33. Vgl. dazu ausführlicher meinen Versuch zur Analyse der Konstitutionslogik des amerikanischen Traumes: Heide Gerstenberger: Zur politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft. Die historischen Bedingungen ihrer Konstitution in den USA, Frankfurt/M. 1973.

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  34. Oskar Negt (Hrsg.): Abram Deborin, Nicolai Bucharin, Kontroversen über dialektischen und mechanischen Materialismus, Frankfurt/M. 1969, S. 10.

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  35. Dieser Frage ist auch Rudi Dutschke nicht nachgegangen, dessen „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“ (Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Ober den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Lenin, Lukâcs und die Dritte Internationale, Berlin 1974), ein seltenes, wenn auch im Resultat kritisch zu diskutierendes, Beispiel materialistischer Analyse sozialistischer Theorien darstellt.

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  36. Antonio Negri: Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1981.

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  37. Pierre Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt/M. 1975.

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  38. Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer, a.a.O.

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  39. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Darmstadt/Neuwied 111980.

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Gerstenberger, H. (1984). Materialistische Ansätze in der Analyse politischer Ideen. In: Bermbach, U. (eds) Politische Theoriengeschichte. Politische Vierteljahresschrift Sonderhefte, vol 15. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11103-0_7

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