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Demokratie und Konsens: Eine Theorie der sozialen Lebensform der Demokratie

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Partizipation und soziale Integration in heterogenen Gesellschaften

Part of the book series: Forschung ((FS,volume 186))

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Zusammenfassung

„Democracy, as I conceive it,“ sagt Wirth, „is not merely a form of government; it is a way of life“ (LW-P 58: 3). Demokratie kann deshalb nicht als Staats- oder Herrschaftsform auf die politischen Institutionen beschränkt werden; aus der soziologischen Perspektive ist sie ein gesellschaftspolitisches Gestaltungsprinzip und eine Lebensweise. Politische Staatsform und soziale Lebensweise stehen in einem sich gegenseitig bedingenden Verhältnis. Demokratische Politik, d.h. die gewählte Regierung, muß die Voraussetzung ihrer Existenz — die Möglichkeit der freien Selbstbestimmung aller Bürger — garantieren. Umgekehrt sind die Bürger aufgerufen an der Gestaltung demokratischer Lebensformen in ihrem Alltag aktiv zu partizipieren und die politischen Institutionen zu kontrollieren. Wenn Demokratie nicht über die Staatsform hinaus zugleich soziale Lebensform und gesellschaftliches Gestaltungsprinzip ist, dann ist sie, Wirth zufolge, auf Dauer nicht möglich.

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Literatur

  1. Man kann in dem Mangel an demokratischer Lebensweise, neben allen strukturellen politischen Problemen, einen Grund des Scheiterns der Weimarer Republik vermuten. Demokratie beschränkte sich im Deutschen Reich auf die demokratischen Institutionen des politischen Staats- und Parteienapparates. Ein demokratischer „Way of Life“ war nicht etabliert. Eine ähnliche Problematik findet man gegenwärtig auch in den im Aufbau befindlichen „Demokratien” des Ostens. Eine demokratische Kultur und Lebensweise besteht kaum, weshalb die Entwicklungen und politischen Prozesse bisweilen recht willkürlich verlaufen.

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  2. Gunnar Myrdal, so hebt Wirth hervor, habe mit seiner Arbeit: „The American Dilemma“ (1944) auf die Differenz proklamierter Werte und alltäglicher Praxis nachdrücklich hingewiesen und damit entscheidend zur Bewußtwerdung und Lösung der bestehenden Probleme beigetragen. „The very notion of the existence of minorities in our midst is incompatible with the basic values of American life” (LW 188: 401).

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  3. Die gewalttätigen rassistischen Ausschreitungen in Detroit im Jahre 1943 galten Wirth als Fortschritt, weil sie eine verstärkte Gründung von Organisationen, die sich mit den Minderheiten-und Rassenproblemen befaßten, zur Folge hatten. Ähnlich bewertet auch der Historiker Udo Sautter diesen Vorgang: „Betrachtet man die t?ntwicklung des Negerproblems insgesamt, so wird man nicht von Besserung sprechen können, wohl aber von neuen Ansätzen. Der Krieg entwickelte bei vielen Farbigen den festen Willen, sich die nonchalant oder zielstrebig betriebene Benachteiligung nicht mehr bieten zu lassen“ (Sautter 1991: 434).

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  4. Fs ist eine Charakteristik der Demokratie, so Wirth, „that it looks upon the people it has elected… as human beings subject to criticism and applause, to induction into and removal from office by the common will. We will not tolerate in our society the permanent holding of political power by any one group“ (I,W-l’ 58: 61).

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  5. Im Gegensatz zu der Aristotelischen Konzeption der Demokratie — der zufolge die Ökono mie von den demokratischen Institutionen vollständig getrennt zu bleiben hatte — ist ein Bestandteil moderner Demokratie die Verantwortlichkeit der Regierung für die Bedingungen der materiellen Reproduktion der Bürger. Bei Aristoteles ist die ‘Trennung von Staat und Ökonomie konstitutiv (vgl. Aristoteles 1973). Die polis befaßt sich nicht mit dem oikos, der Hauswirtschaft, die lediglich eine Bedingung ist. Der Begriff der Staatswirtschaft wäre ein Widerspruch in sich in der Aristotelischen Terminologie. Die Voraussetzung der Exklusion der Ökonomie aus dem Bereich des Politischen liegt darin, daß die Aristotelische „Demokratie“ auf dem gesicherten Fundament der Sklaverei beruhte und sich somit um die wirtschaftliche Existenz der Freien nicht zu bekümmern brauchte. Freiheit und Gleichheit waren keine Menschenrechte, sondern Vorrechte einer Elite. Demokratie war eine politische Herrschaftsform, aber keine Lebensweise. Soll Gleichheit und Freiheit in der modernen Gesellschaft für alle gelten, so kann sich die Demokratie nicht auf den Bereich der Politik beschränken. Der Rückgriff auf die Aristotelische polis als Ideal der Demokratie, wie ihn unter anderen auch Dolf Sternberger proklamiert hat (vgl. Sternberger 1984: 104), überläßt die Bürger damit für ihr materielles Wohlergehen ausschließlich den Gesetzen des Marktes und trägt so zur Reproduktion bestehender Ungleichheit bei.

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  6. Zwar war es für Aristoteles nicht die Aufgabe der Politik, sich mit den materiellen Reproduktionsbedingungen der Bürger zu befassen, dennoch galt schon bei ihm, „daß in einem gut eingerichteten Staat das Staatsvolk von der Sorge für das Lebensnotwendige frei sein muß“ (Aristoteles 1973: 1269a).

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  7. Wenn die Aufgabe und Funktion nationalstaatlicher Organisationen in der Sicherung des Friedens, der Ordnung und des Wohlstand der Bürger besteht, verloren die Nationalstaaten mit der Entwicklung globaler Beziehungen zunehmend ihre Souveränität. Im Rahmen internationaler Konflikte sind nationalstaatliche Institutionen letztlich nicht in der Lage, die Bürger zu sichern und, so Wirth, „if it cannot assure them of that, then it is not a sovereign power. That can be assured only on a scale of world interdependence and world government“ (LW-P 73: 390).

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  8. Zwar besaßen 1945 nur die Vereinigten Staaten von Amerika die Atombombe, es war Wirth aber klar, daß das technologische Wissen nicht lange exklusiv bleiben konnte.

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  9. Nachdem der Totalitarismus besiegt war, hatte man in den USA geglaubt, man könne sich wieder den nationalen Fragen und der Gestaltung der eigenen Demokratie zuwenden. Der Beginn des Kalten Krieges machte aber unmißverständlich deutlich, daß demokratische Lebensweise und die proklamierten Freiheiten sich nicht mehr im nationalen Rahmen realisieren ließen. Die Bedrohung war nur scheinbar beseitigt, denn, so formuliert Sautter: „das Ungeheuer war offenbar noch nicht tot. Für die verschiedenen abgehackten Häupter wuchsen andere nach, schier größer noch und bedrohlicher als die vorigen. Diese Erkenntnis war nicht nur ärgerlich für den Augenblick. Sie begann, eigentlich zum erstenmal in der amerikanischen Geschichte in profunder Weise, den Zweifel an der Möglichkeit einer Verwirklichung des Glückseligkeitszieles zu wecken“ (Sautter 1991: 453).

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  10. Gegenüber der UNESCO beklagte Wirth im Anschluß an eine Europareise im Jahre 1949 den Zustand der europäischen Sozialwissenschaften. Nicht nur, daß der Ansatz europäischer Wissenschaftler vornehmlich philosophisch sei, ihr Denken sei zudem weitgehend bestimmt durch „terms of the immediate political conflicts with which they are confronted“ (LW-P 85: 1). Daraus entstehe eine zunehmende Kluft zwischen den Wissenschaftlern des Westens und denen des Ostens, weil sie sich in die politischen Händel des Kalten Krieges verstricken. „No one seems to be building any bridges and intellectual bridge building seems to me to be the most urgent need of the times if relations are not to deteriorate further. The cold war certainly has noticeably affected the realm of science” (I,W-P 85: 3f). Wirth fordert darum die UNESCO auf, alle Anstrengungen zu unternehmen, um Diskussionsforen, Konferenzen, etc. zu initiieren, mit dem Ziel, die internationale wissenschaftliche Kommunikation in Gang zu bringen. „UNESCO should stimulate and promote research on all subjects which are considered relevant to the topic of international tensions, attitude formation and related problems“ (LW 158: 20f).

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  11. Die Arbeit des „Social Tension Projects“ war in vier Bereiche gegliedert: I) Untersuchun gen zum nationalen Charakter, 2) Untersuchungen der Technologie und der Spannungen vom Standpunkt der Bildung, Wissenschaft und Kultur, 3) Untersuchungen zu Spannungen, die aus Bevölkerungsproblemen entstehen, 4) Untersuchungen der Spannungen, die aufgrund der Kontakte rassischer und ethnischer Gruppen entstehen. Lin fünfter Bereich war mit Studien des Nationalcharakters von 16 ausgewählten Ländern befaßt, in dem unter der Überschrift „’Way of Life’ Studies” der historische und kulturelle Hintergrund, das Familien-und Bildungssystem, die politischen und wirtschaftlichen Institutionen und die Werte und Beziehungen zur übrigen Welt untersucht wurden. (vgl. UNESCO 1951/b: 6) Zahlreiche Arbeiten Wirths sind in direktem oder indirektem Zusammenhang mit diesem Projekt zwischen 1948 und 1950 entstanden. Vgl. LW 158, LW 160, LW 168, LW 169, LW 172, LW 178, LW 183, LW 193, LW-P 85.

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  12. Unter der Überschrift: „The Positive Role of Tensions“ führt Wirth aus: „International rivalry may be regarded as one of the ways in which the so-called backward parts of the world have acquired the appetite and the means for lifting themselves. We must expect, with the increasing integration of the world, to meet the claims of the disadvantaged peoples who are aspiring to rise to the level of the powerful and the prosperous and the free with greater resourcefulness than in the past” (LW 160: 52).

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  13. Im Jahre 1948 wurde im Auftrag der UNESCO ein Fragebogen über das Verständnis, die Bedeutung und die Vorstellungen von Demokratie an sechsundvierzig UNESCO-Mitgliedsstaaten in Ost und West versandt. Keine der befragten Personen, von der extremen Linken bis zur extremen Rechten, zeigte anti-demokratische Einstellungen. Richard P. McKeon, einer der Vorsitzenden des Komitees, das die Auswertung durchgeführt hat, formulierte: „Thus, for the first time in history, we have arrived at a position in which every outstanding state says that democracy is the highest form of political and social organization“ (McKeon in I.W-R”I 53: 3).

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  14. Von Desintegration kann, so Wirth, im eigentlichen Sinne hier keine Rede sein, sondern allenfalls von einer noch nicht geleisteten Integration: „The fact is that our world cannot very well disintegrate because it has never been integrated. It has never existed as an economic, social, and political entity. It has still to be built in the minds and hearts of men. The same is true of democracy“ (LW 179: 272).

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  15. Der Konsens sei im gesellschaftlichen Leben, so argumentierte Wirth angelehnt an Spencer, das Äquivalent ihr das Nervensystem im Organismus. „The only reasonable equivalent of `mind’ in the individual organism that we can think of as an essential in the social organism can be supplied through consensus… lt results from the interpenetration of views based upon mutual consent and upon feeling as well as thinking together“ (LW I 55: 4).

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  16. Die Aussendung internationaler Radioprogramme, wie der „Voice of America“ für die Bevölkerung der Sowjetunion, agiere jedenfalls so, „as if even their public opinion were of some importance” (LW 155: 5).

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  17. m Rahmen ausgeprägter Gesinnungsethik wird Opportunismus zumeist als Prinzipienlosigkeit und Überanpassung kritisiert. In den politischen und sozialen Bewegungen moderner Gesellschaften gewinnt der Opportunismus allerdings eine andere Dimension. Ian Kershaw beispielsweise hat den politischen Erfolg Hitlers als einen ausgeprägten Opportunismus gekennzeichnet (Kershaw 1998). Der politische Erfolg ist in Gesellschaften, in denen die politische Macht über demokratische Wahlen erlangt wird, an eine Anpassungsleistung der potentiellen Führer an die möglicherweise impliziten und gegebenenfalls auch irrationalen und widersprüchlichen Stimmungen, Interpretationen und Bedürfnisse der Bevölkerung gebunden, was von der Bewegungsforschung auch für den Erfolg sozialer Bewegungen reklamiert wird.

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  18. Wenn Führung ein soziales Verhältnis ist und die Eigenschaften des Führers weniger persönliche Qualitäten sind, als vielmehr eine soziale Beziehung darstellen, dann ist jede Führung eine Einheit des Führers mit seinem Publikum. Gesellschaftliche Führung ist dann ein komplexer Gegenstand, der nicht in seine Bestandteile, in Führer und Geführte zerlegt werden kann, ohne daß seine spezifische Qualität verlorengeht. Wendet man diesen Gedanken auf konkrete politisch-soziale Verhältnisse, beispielsweise das Deutschland der dreißiger und vierziger Jahre an, erscheint das „Genie“ Hitlers viel weniger eine persönliche Qualität einer Person gewesen zu sein, als vielmehr eine Entsprechung oder ein Verhältnis, das sich erst in der Wechselwirkung mit einem Großteil der Bevölkerung konstituiert hat.

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  19. Das Vertrauen in die Macht der Vernunft, Wahrheit und Tugend der Ideen sei, so Wirth, spätestens durch Hitler und Mussolini erschüttert worden, weil deutlich geworden ist, daß Ideen und Ideale keineswegs aus sich selbst heraus vernünftig oder gewaltfrei oder in einem allgemeinen Sinne gut sind satorischen Elemente zu Bestandteilen der Kultur und der Lebensweise werden. Das heißt, sie müssen in die Kultur integriert werden und sich den emotionalen und nicht-

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  20. Hier liegt eine fundamentale Differenz zu den Positionen der Frankfurter Schule, wie sie von Horkheimer etwa zur gleichen Zeit im New Yorker Exil formuliert worden sind. I Forkheimer konstatiert, wie auch Wirth, daß die technologische Rationalität und instrumentelle Vernunft zu sozial katastrophalen Ergebnissen geführt habe. Im Zuge der technischen Machbarkeit, so argumentiert Horkheimer, bestehe kein allgemeines Ziel und kein Gutes mehr. Die Menschen würden nur noch unter der Dominanz der Effektivität der Mittel agieren. Wirth betrachtet — in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus — diese Entwicklung allerdings nicht als die Dominanz subjektiver Vernunft, infolge des Verlustes einer objektiven Vernunft, wie es Horkheimer 1947 unter dem Titel „Eclipse of Reason“ dargestellt hat. Im Gegenteil gelten Wirth die sozial desintegrativen Entwicklungen vielmehr als ein Mangel an subjektiver Vernunft aufgrund fehlender interaktiver, diskursiver Prozesse und partizipativer Praxis. Allerdings würde Wirth, wie auch die Pragmatisten, eine Trennung von subjektiver und objektiver Vernunft von vornherein nicht gelten lassen (vgl. Dewey 1931/b, 1931/c). In einer radikal säkularisierten Welt verortet Wirth die Quelle der Kraft — die in der Terminologie Horkheimers „objektive Vernunft” heißt und eine die Realität und Lebensweisen der Menschen prägende Kraft darstellt — hei den Menschen selbst. Wenngleich es für Wirth nicht die einzelnen Individuen sind, denen diese Kraft innewohnt, so kann sie für Wirth nur Resultat kollektiven Handelns und möglichst umfassender sozialer Kommunikation sein. Die Vernünftigkeit der Zwecke besteht durch kollektive, konsensuelle Prozesse. Außerhalb des menschlichen Daseins und der konsensuellen Obereinkuntt existiert keine Vernunft und kein allgemeines Gutes. Erst der kollektive Gebrauch „subjektiver Vernunft“ in gleichberechtigter Kommunikation und Partizipation, der als radikale Aufklärung und Demokratisierung bezeichnet werden kann, bringt eine Vernunft hervor, die von den Individuen ausgeht, sich aber im Rahmen der Kultur gegenüber den Einzelnen verselbständigt. Das Konzept einer „objektiven Vernunft” hingegen bleibt an eine unabhängige, metaphysische Zentrale außerhalb sozialer Kollektive gebunden, wodurch Aufklärung tatsächlich beständig in Mythologie zurückfällt. Die Dualität von „objektiver“ und „subjektiver” Vernunft blockiert sich insofern selbst, als sie die Konstitution von allgemeinen Werten aus der subjektiven Praxis handelnder Akteure nicht wirklich zu denken vermag.

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Vortkamp, W. (2003). Demokratie und Konsens: Eine Theorie der sozialen Lebensform der Demokratie. In: Partizipation und soziale Integration in heterogenen Gesellschaften. Forschung Soziologie , vol 186. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11008-8_7

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-11008-8_7

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