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‘Patch-Work’

Kollektive Identitäten neuer sozialer Bewegungen

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Zusammenfassung

Identitätsorientierung und neue soziale Bewegungen werden besonders in der Wahrnehmung der dominierenden US-Bewegungsforschung häufig gleichgesetzt. ‘Identität’ steht dabei für die ‘alteuropäisch’ anmutende Suche nach dem ‘Wesen’ zeitgenössischer Bewegungen, die sich von gesellschaftlichen Großtheorien und epochalen Zeitdiagnosen leiten läßt. Noch zu Beginn der 90er Jahre erntete, wer den Begriff ‘kollektive Identität’ im Munde führte, in einer pragmatisch gestimmten US-Protest- und Bewegungsforschung meist verständnisloses Kopfschütteln. Die Situation hat sich inzwischen verändert. Vor allem im Gefolge des Framing-Ansatzes hat der Identitätsbegriff Einzug in die internationale Debatte gehalten — allerdings verbunden mit den unterschiedlichsten Vorstellungen und zumeist völlig abgelöst von den Ambitionen und Konzepten, die einmal von den Vorreitern der westeuropäischen Bewegungsforschung damit verknüpft wurden. Diese Differenz wird deutlich, wenn wir auf den vergleichenden Beitrag von Jean L. Cohen mit dem Titel ‘Strategy or Identity’ (1985) zurückgreifen, der für die Gleichsetzung des Identitätsansatzes mit dem Konzept neue soziale Bewegungen zentral wurde. Die Titel-Alternative, mit der die Differenz zwischen US-amerikanischen und westeuropäischen Ansätzen in der Bewegungsforschung — vor allem dem Ressourcenmobilisierungsansatz — markiert wurde, beruhte nicht auf einer Zusammenfassung von empirischen Kenntnissen, die zu diesem Zeitpunkt über die jeweiligen Bewegungen vorlagen, sondern auf einem ‘hermeneutischen Ansatz’. Untersuchungsgegenstand waren „theories for and within movements“ (Cohen 1985: 666), die als mehr oder weniger authentischer Ausdruck des Selbstverständnisses dieser Bewegungen betrachtet wurden. Indem Cohen für die Konstruktion des ‘identitätsorientierten Paradigmas’ vor allem auf theoretische Arbeiten von Alain Touraine und Jürgen Haber-mas zurückgriff, führte sie noch einmal selbst vor, wie groß die Distanz zur empirisch orientierten US-Bewegungsforschung zu diesem Zeitpunkt war.

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Anmerkungen

  1. Vgl. Bader 1991: „Potentielle Konfliktgruppen werden zu aktuellen Konfliktgruppen und sozialen Bewegungen erst dann, wenn sie eine kollektive Identität entwickeln“ (104).

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  2. Vgl. Bader 1991: „Kollektive wie individuelle Identitäten sind nichts Natürliches, Unveränderliches, Statisches, Ein-für-allemal Gegebenes. Sie sind das Resultat von Prozessen sozialer Definition und Identifikation und Ausgrenzung. Kollektive Identität ist aber deshalb nicht einfach willkürlich und beliebig definierbar und veränderbar“ (105).

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  3. Aus der Fülle der Literatur sei exemplarisch auf die ausgezeichnete Studie von Linden-berger 1995 zum Berliner Straßenprotest zu Beginn des Jahrhunderts verwiesen. Eindrucksvolle Einzelstudien zu den Ambivalenzen von Arbeiterkulturen in Deutschland in diesem Jahrhundert haben z.B. Lidtke 1985 und Lüdtke 1989 vorgelegt.

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  4. Die Geschichte der Massenpsychologie haben u.a. Moscovici 1984 und König 1992 aufbereitet.

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  5. Einen Einblick in die recht junge Geschichte des Identitätsbegriffs und seine politisch-intellektuellen Nutzanwendungen bietet Niethammer 1994. Dort findet sich auch die Warnung: „Identität ist heute geradezu das Leitbeispiel jener Plastikwörter’, die Uwe Pörksen als das Wechselgeld der Medien-und Expertengesellschaft analysiert hat. Sie entziehen den Sachen und Erfahrungen ihren spezifischen Sinn und suchen ihn auf einer abgehobenen, der Steuerung und dem interfraktionellen Verkehr, den Expertenkonferenzen, Talkshows und Zeitungskommentaren zugänglichen Ebene wieder neu zu stiften. Es gibt nur weniges, was heute nicht unter den Identitätsbegriff gepackt werden kann: vor allem natürlich die Biografie, fast alle Lebenskrisen, aber auch das Design, das ein multinationales Unternehmen wiedererkennbar machen soll; nicht nur die Zugehörigkeit zu allen möglichen Kollektiven und Institutionen, sondern auch diese selbst, von der lokalen über die regionale und nationale bis zur kontinentalen Ebene“ (378).

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  6. In einer Analyse von ‘frames’, die die politische Berichterstattung in den US-Medien dominieren, wird deutlich, wie voraussetzungsvoll kollektive Identitäten sind. Sie entstehen erst, wenn ein ‘aggregate trame’ überwunden wird, der das ‘Wir’ als bloße Ansammlung von Individuen faßt, die allein durch persönliches Verhalten etwas bewirken können. Dieser Blockierung kollektiver Handlungsfähigkeit arbeitet ein ausgeprägter Individualismus in der Deutung sozialer Probleme zu (Gamson 1992: 85f.).

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  7. Identitäten sozialer Bewegungen „are constructed, reinforced, and transformed by the interactions between and among movement participants and outsiders“ (Hunt/Benford 1994: 489).

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  8. Diese Konstellation wird durch einen Spruch verdeutlicht, der auf Strassendemonstrationen der 60er und 70er Jahre häufiger zu hören war: „Bürger laßt das Gaffen sein, kommt herunter, reiht euch ein!“

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  9. Diese Beobachtung stand schon unter dem Stichwort ‘rebellische Subjektivität’ im Zentrum der Beiträge von Herbert Marcuse über die Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre; vgl. Roth 1985.

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  10. Zu diesen mit Blick auf nationale Identitäten entwickelten Unterscheidungen siehe Giesen 1993.

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  11. Lediglich Balistier (1996: 263) widmet dem Thema ‘Identität’ ein eigenes Kapitel, allerdings ohne auf die von Touraine und Melucci entwickelten Konzepte und die internationale Debatte näher einzugehen.

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  12. Sie prägte auch die erste Runde der Kontroversen, die in der Rubrik ‘Bewegungswissenschaft in der Diskussion’ des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen seit Heft 4/1988 ausgetragen wurden.

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  13. Weitergehende Hinweise finden sich bei Roth 1983 und Rucht 1991, zur internationalen Rezeption vgl. Dubet/Wieviorka 1995.

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  14. Vgl. die einleitende Zwischenbilanz der Herausgeber in Roth/Rucht 1991.

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  15. Eine Gesamtwürdigung der Arbeiten Touraines und seiner Forschungsgruppe steht noch aus. Genauere Informationen und Kritiken bieten u.a. Amiot 1980, Roth 1983, Rüdig/Lowe 1984, Rucht 1991a.

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  16. Rainer Paris (1989) hat diese Beobachtung zur These verdichtet, neue soziale Bewegungen seien „situative Bewegungen“, „die bei aller Schärfe der Auseinandersetzungen kaum dauerhafte Identitifikationsmuster generieren” (326).

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  17. Neuere Ländervergleiche (Rucht 1994; Kriesi et al. 1995) haben dafür sensibilisiert, daß die Konturen neuer sozialer Bewegungen und ihr Gewicht innerhalb des nationalen Protestsektors durchaus unterschiedlich ausfallen. Für Italien wäre zu bedenken, daß kulturelle Alternativen aufgrund des großen Gewichts klassenkämpferischer Traditionen (’Arbeitermilitanz’) erst vergleichsweise spät in den Protestmilieus an Gewicht gewannen und dann als jugendbewegter Bruch in der zweiten Hälfte der 70er Jahre artikuliert wurden (Tarrow 1989; Lumley 1990). Möglicherweise ist dies eine Ursache für die geringe protestpolitische Aufladung der Alternativszenen und ihre überwiegend kulturelle Orientierung zu Beginn der 80er Jahre.

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  18. Ohne auf die Einzelbefunde einzugehen, die sich meist kollektiven Forschungen verdanken, verdient vor allem Castells analytische Unterscheidung von drei kollektiven Identitätsformen weiteres Interesse:

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  19. ’Legitimizing identity’ gründet sich auf den herrschenden Institutionen einer Gesellschaft und schafft jene Sphäre, die in der Tradition von Antonio Gramsci mit ‘civil so-ciety’ bezeichnet wird.

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  20. ’Resistance identity’ ist dagegen auf Widerspruch gegen spezifische Formen des sozialen Ausschlusses gegründet und mündet in der Bildung von Gemeinschaften der Ausgeschlossenen, die gesellschaftliche Werturteile umkehren (‘gay pride’ etc.).

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  21. ’Project identity’ entsteht dann, wenn Akteure nach neuen Identitäten streben, die eine Transformation zentraler politischer und gesellschaftlicher Institutionen voraussetzen bzw. zum Ziel haben (Castells 1997: 8ff.).

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  22. Die Bewertung dieser Entwicklung fällt unterschiedlich aus, wobei Castells für eine äußerst optimistische Lesart steht, da diese vielfältige Identitätspolitik kein Zeichen der Schwäche sei, sondern im Gegenteil Ausdruck ihrer Stärke. Indem z.B. die feministischen Bewegungen in ihren Praxisformen und Diskursen weibliche Identitäten in vielen Sphären de/re/konstruieren und damit den geschlechtsspezifischen Zuschnitt gesellschaftlicher Institutionen aufbrechen, praktizieren sie Gegenmacht im „world wide web of life experiences“ (1997: 202).

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  23. Wie z.B. im Wyhl-Konflikt, wo es um die Balance zwischen einer städtischen, teilweise linksradikal orientierten Bewegungsszene in Freiburg mit einem eher bodenständigen und mittelständischen Protest am Kaiserstuhl ging; vgl. Poppenhusen 1990.

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  24. Politische Identitäten neuer sozialer Bewegungen erscheinen einerseits sehr heterogen — sie sind für die zumindest in ihren Anfängen bewegungsnahen Grünen gut untersucht (Raschke 1993), aber verglichen mit anderen Parteien wirken sie wiederum relativ homogen, wie etwa eine Studie zu rot-grünen Bündnissen auf lokaler Ebene zutage förderte, in der die SPD die zerrissenere Partei war (Zeuner/Wischermann 1995).

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  25. Für die neue Friedensbewegung der 80er Jahre hat Schmitt (1990) die Amalgamierung verschiedener Motive der neuen sozialen Bewegungen mit dem Thema Frieden herausgearbeitet.

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  26. In der ‘klassischen’ Definition von Raschke: „Geringer Grad organisatorischer Verfestigung, Bürokratisierung und Zentralisierung in Verbindung mit Führerfeindlichkeit“ (1985: 412).

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  27. Kenner der ‘autonomen Szene’ gehen z.B. von einer durchschnittlichen Verweildauer von zwei Jahren aus.

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  28. Ein gutes Beispiel ist die Studie von Hunt/Benford 1994.

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Kai-Uwe Hellmann Ruud Koopmans

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© 1998 Springer Fachmedien Wiesbaden

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Roth, R. (1998). ‘Patch-Work’. In: Hellmann, KU., Koopmans, R. (eds) Paradigmen der Bewegungsforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10990-7_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-10990-7_3

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