Zusammenfassung
Zu Beginn der 80er Jahre bürgerte sich in der Bundesrepublik, zunächst im wissenschaftlichen, dann auch im Sprachgebrauch der Bewegungsakteure, der Begriff ‘Neue soziale Bewegungen’ (NSB) ein. Gemeint war damit die rasche Entstehung einer breiten, heterogenen Bewegungsszene in den späten 70er und frühen 80er Jahren, die im Anti-AKW-Protest, in der Umwelt-, der neuen Frauen- und Friedensbewegung, in den Projekten und Netzwerken des städtischen Alternativmilieus, in der Hausbesetzerbewegung, in der Kampagne gegen die Volkszählung u.a.m. ihre Brennpunkte fand und zunächst in lokalen und regionalen Listen, dann aber auch bundesweit als Partei Die Grünen die parlamentarische Bühne betrat. Die Rede von den ‘neuen sozialen Bewegungen’ suggerierte dabei nicht nur wesentliche Gemeinsamkeiten dieser heterogenen Protestszene, sondern auch die Herausbildung einer qualitativ neuen Bewegungsformation, die sich deutlich von ‘alten’ Bewegungen, insbesondere von der Arbeiterbewegung, abheben sollte.
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Anmerkungen
Rothgang kommt z.B. aufgrund eines Vergleichs der Umwelt-und Friedensbewegung in Großbritannien mit dem NSB-Konzept zu dem Ergebnis, daß die in diesem Konzept postulierten „gemeinsamen Eigenschaften, die es erlauben, von einem speziellen, neuen Typus zu sprechen, dort nicht vorliegen“ (1988: 196). Somit sei es geboten, vom Konzept der ‘neuen sozialen Bewegungen’ Abschied zu nehmen.
Einen der überzeugendsten Neuansätze stellte in dieser Hinsicht Claus Offes Reformulierung der Marxschen Klassentheorie dar, die durch eine systemtheoretisch konzipierte “politische Krisentheorie” ersetzt wird (Offe 1969, 1972, 1976). Diese spürt den Herrschaftscharakter spätkapitalistischer Gesellschaften in der spezifischen Selektivität pluralistisch-repräsentativer Formen der Interessenvertretung auf und macht zugleich die Überlagerung der alten Klassenungleichheiten durch neue ‘horizontale Disparitäten’ sichtbar.
Rucht (1994: 152f.) begreift die Studentenbewegung und die Neue Linke allerdings nicht als genuinen Teil der neuen sozialen Bewegungen sondern als historisches ‘Binde-glied’ zwischen der Arbeiterbewegung und den ‘neuen’ Bewegungen. Die ‘proletarische Wende’ bietet den diversen Nachfolgeorganisationen der Studentenbewegung m.E. aber nur eine ideologische Identifikationshülse, die dem revolutionären Selbst(miß)verständnis dieser Gruppen den Schein einer ‘objektiven’ Basis verleiht.
So versucht die Hannoveraner Forschungsgruppe um Michael Vester (Vester u.a. 1993) in einer an Bourdieu orientierten Perspektive die Konstitution der neuen Bewegungsmilieus im Gesamtzusammenhang der Neustrukturierung der sozialen Beziehungsgefüge in den Nachkriegsjahrzehnten zu rekonstruieren. Dabei rücken die Sozialisationseffekte der unterschiedlichen Herkunftsmilieus stärker ins Blickfeld, die in den Ab-und Ausgrenzungen, in den internen Spannungen und Differenzierungen der neuen Milieus in ‘modernisierter Form’ weiterwirken.
Unter ‘Zeitgeist’ verstehe ich dabei eine spezifische, in einer bestimmten Phase vorherrschende kulturelle Gestalt des Denkens und Fühlens, des ästhetischen Empfindens und moralischen Urteilens; eine spezifische Konfiguration von Ängsten und Hoffnungen, von Zukunftserwartungen oder Befürchtungen, von Sicherheits-oder Krisengefühlen, von Optimismus oder Pessimismus.
Dieses Gesellschaftsmodell wird — in ähnlicher Weise — im Rahmen der Regulationstheorie als ‘fordistisches’ Modell beschrieben, vgl. Hirsch/Roth 1986.
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Brand, KW. (1998). Humanistischer Mittelklassen-Radikalismus. In: Hellmann, KU., Koopmans, R. (eds) Paradigmen der Bewegungsforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10990-7_2
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