Zusammenfassung
Spätestens seit der einflußreichen Arbeit von Jürgen Habermas über den Strukturwandel der Öffentlichkeit 1962 ist der Begriff Öffentlichkeit zu den Grundbegriffen der Kommunikationswissenschaft zu rechnen. Zugleich teilt er damit das Schicksal anderer zentraler Begriffe des Faches: Er zeichnet sich durch erhebliche Diffusität aus.1 Zwar taucht der Begriff nach Habermas in Deutschland erst Ende des 18. Jahrhunderts als eine Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft auf (41969, 12), gleichwohl wird vom Prinzip von Öffentlichkeit bereits in der griechischen Polis systematisch Gebrauch gemacht: „Im Licht der Öffentlichkeit kommt erst das, was ist, zur Erscheinung, wird allen alles sichtbar. Im Gespräch der Bürger miteinander kommen die Dinge zur Sprache und gewinnen Gestalt“ (ebd., 13).
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Literatur
Indikator dafür ist z.B. die nebeneinander bestehende Vielzahl von Definitionen. So hat Allport (1935) für den Begriff der Einstellung (attitude) 79 Definitionen festgestellt. Für den Kommunikationsbegriff lassen sich 160 und für den Begriff der Public Relations mehr als 472 Definitionen nachweisen (vgl. Merten 1977 bzw. Harlow 1976 ).
Typisch hierfür ist die Situation von Klatsch: Besteht eine Gruppe aus einander bekannten Personen, so klatschen stets n-1 über das jeweils abwesende Mitglied. Dieses Schicksal erleidet jedes Mitglied, so daß die Gruppe damit (mindestens!) n verschiedene Teilkonsense in n verschiedenen Situationen herstellt und damit insgesamt einen Konsens auf n Ebenen: Jeder weiß nun, was alle anderen über alle anderen wissen und meinen.
Das wirft die interessante Frage auf, ob Wissenschaft nicht auch als das Teilsystem von Öffentlichkeit zu definieren wäre, das über verbürgtes Wissen verfügt und dessen Konsentierung Expertenstatus zur Prüfung von Verbürgtheit — eben die Rolle des Wissenschaftlers — fordert (vgl. dazu auch Luhmann 1990).
Daß diese in jener Zeit an Bedeutung gewonnen hat, belegen z.B. die Feststellungen zeitgenössischer Politiker. So findet sich in den Parlamentsdebatten des englischen Unterhauses im Jahr 1819 der interessante Hinweis, die öffentliche Meinung besitze „now the tenfold force at the present comparing with former times“ (Shepard 1909, 57).
Diese Korrelation erklärt den häufig zu beobachtenden Befund, daß Analysen nominell oft Ober öffentliche Meinung handeln, de facto aber Strukturen und Funktionen von Öffentlichkeit beschreiben (vgl. statt anderer Noelle-Neumann 1980, 137ff).
Das setzt auch voraus, daß die Rezeption von Medien selbst sichergestellt wird, z.B. durch Einführung der Schulpflicht. Hierher gehören aber auch Überlegungen in der Ära Schmidt, das Heulen der Luftschutzsirenen umzufunktionieren, um im Bedarfsfall das Einschalten von Radio und Fernsehen anstelle des Aufsuchens von Luftschutzkellem sicherzustellen.
Bereits in schriftlosen Gesellschaften war dieses Problem bekannt: Das relevanteste Wissen — nämlich das Wissen über Gesetze, Regeln und die Dynastien eines Stammes — wurde in Afrika durch Ausbildung professioneller Rollen des Erinnerns gesichert und ausgewählten, besonders geschulten Personen (Erzählern) übertragen. Bei rituellen Anlässen mußte der jeweilige Erzähler z.B. den Stammbaum und die Geschichte von bis zu 30 Herrschern fehlerfrei wiedergeben können. Unterlief ihm dabei ein Irrtum, so verlor er sofort sein Amt und oft sogar sein Leben (vgl. hierzu Schott 1968 ).
Das Geständnis eines Angeklagten wird in den meisten Kulturen als strafmildernd bewertet, obwohl dies den inkriminierten Rechtsbruch niemals verändern kann. Aber: Der Konsens in Form des Mitwissens wird wieder hergestellt. Die gleiche Struktur liegt der Neugier zugrunde, die dem Privatleben prominenter Personen, vorzugsweise dem gekrönter Häupter, von der Öffentlichkeit entgegengebracht wird.
Damit soll nichts gegen die Definition von Zielgruppen als Verfahren zur Definition von relevanten Teilöffentlichkeiten gesagt werden. Ein Verfahren zur Definition kann aber nicht identisch mit der Definition selbst sein.
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Merten, K. (1999). Öffentlichkeit in systemtheoretischer Perspektive. In: Szyszka, P. (eds) Öffentlichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10931-0_4
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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