Zusammenfassung
Die für das neuzeitliche Selbstverständnis maßgeblichen Prozesse der Säkularisierung der Welt und der Physikalisierung der Natur stellten die praktische Philosophie vor ein großes verbindlichkeitstheoretisches Problem. Mit dem Verblassen des theologischen Absolutismus und beginnender humaner Selbstbehauptung zum einen, der Ablösung des teleologischen Naturkonzepts durch den mathematischen Naturbegriff der neuen Naturwissenschaften zum anderen gingen die traditionellen Geltungsgründe verloren. Daher mußte Verbindlichkeit neu konzipiert, neu erfunden werden; und die praktische Philosophie sah es als ihre Aufgabe an, diese neue verbindlichkeitstheoretische Grammatik zu entwickeln und mit den neu entstandenen Selbst—, Fremd—und Weltverhältnissen des modernen Menschen abzustimmen.—Überblickt man die Versuche, die die neuzeitliche praktische Philosophie unternommen hat, um die gesellschaftliche Rechtfertigungspraxis auf einen neuen verbindlichkeitstheoretischen Sockel zu stellen, lassen sich drei Konzeptionen unterscheiden: da ist zum einen die Hobbessche Konzeption des kontraktuali—stischen Voluntarismus, da ist zum anderen die Humesche Konzeption der Naturalisierung der Moral und der Soziologisierung des Rechts, und da ist zum dritten die Kantische Konzeption der vernunftgegebenen Freiheitsgesetze.
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Referenzen
Vgl. David Hume, Enquiries Concerning Human Understanding and Qoncerning the Principles of Morals, hrsg. von L.A. Selby-Bigge, Oxford 1894, 21902. »With text revised and notes«, hrsg. v. P.H. Nidditch, Oxford: Clarendon Press 31975.
Vgl. Il Contratto Sociale Nella Filosofia Politica Moderna, a cura di Giuseppe Duso, Milano 1993; Wolfgang Kersting (1994), Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt.
Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. v. Richard Tuck, Cambridge 1996, S. 9f.
Man and Citizen. Thomas Hobbes’;s De Homine and De Cive, edited with an Introduction by Bernard Gert, Humanities Press 1972, Kap. X, § 5, S. 40/1.
Hobbes, Leviathan, a.a.O., Kap. XXI, S. 150.
Vgl. auch Wolfgang Kersting (1998), »Rechtsverbindlichkeit und Gerechtigkeit bei Thomas Hobbes«, in: Archiv ßr Rechts- und Sozialphilosophie, 84, S. 354–376; ders. (2000), »Vertrag und Souveränität bei Hobbes«, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Der Leviathan, Baden-Baden (im Erscheinen).
Vgl. David Hume, A Treatise of Human Nature, ed. by L.A. Selby-Bigge, Oxord 1988, HI, ii, § 5.
Vgl. Wolfgang Kersting (1994), Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt, Kap. II: Metakontraktualistische Betrachtungen.
Betrachtet man die Kantische Moralphilosophie unter der Perspektive der Begründung von Verbindlichkeit überhaupt, dann wird deutlich, daß es eine Verkürzung darstellt, wenn man sie als normative Ethik versteht. Sie ist philosophische Ethik und als solche vor allem Metaethik, d.h. an dem Versuch interessiert, der Verbindlichkeitssprache überhaupt ein semantisches Fundament zu verschaffen. Während normative Ethiken normalerweise voraussetzen, daß die Unterscheidungen der Moralsprache fest etabliert sind, verlangt die philosophische Radikalität von Kant, der Frage nachzugehen, wie es in einer entgöt-terten, entfinalisierten und enttraditionalisierten Welt, in einer Welt der transzendentalphilosophisch vermessenen Tatsächlichkeit überhaupt so etwas wie Verbindlichkeit geben kann. Mit einem Wort: die Konzeption der reinen Vernunftgesetzgebung wird unterbestimmt, betrachtet man die Vernunft allein als Quelle von Normen; sie ist vielmehr und vor allem eine Quelle von Normativität überhaupt.
Vgl. Wolfgang Kersting (1998), Niccolö Machiavellu 2. Aufl., München, S. 30ff.
Kant, »Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte«, Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, S. Ulf.
Ebd.
Kant, Reflexionen, AA, Bd. XIX, S. 280.
Ebd., S. 289.
Vgl. Wolfgang Kersting (1993), Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt a.M.,S. 112fT.
Kant, Reflexionen, AA, Bd. XIX.
Ebd., R 6795.
Kant, Metaphysik der Sitten, AA, Bd. VI, S. 418.
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA, Bd. V, S. 20.
Ebd., S. 29.
Ebd., S. 19.
Eine ausführliche Darstellung der Kantischen Rechtsphilosophie findet sich in W. Kersting (1993), Wohlgeordnete Freiheit.
Kant, Metaphysik der Sitten, AA, Bd. VI, S. 230.
Ebd., S. 231.
Ebd., S. 232.
Kant, Reflexionen, AA, Bd. XVII, S. 582.
Kant, Metaphysik der Sitten, AA, Bd. VI, S. 231.
Ebd., S. 405.
Kant, Zum ewigen Frieden, AA, Bd. VIII, S. 366.
Kant, Metaphysik der Sitten, AA, Bd. VI, S. 239.
Kant, Nachlaßschriften, AA, Bd. XVm, S. 406.
Kant, Reflexionen, AA XIX, Refl. 7006.
Kant, Metaphysik der Sitten, AA, Bd. VI, S. 237.
Kant, AA, Bd. XX, S. 94.
Kant, AA, Bd. XXIH, S. 341.
Kant, Metaphysik der Sitten, AA, Bd. VI, S. 237.
Kant, Reflexionen, AA, Bd. XIX, Refl.7738.
Ebd., Refl. 7734.
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Kersting, W. (2001). Der Geltungsgrund von Moral und Recht bei Kant. In: Dux, G., Welz, F. (eds) Moral und Recht im Diskurs der Moderne. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10841-2_9
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