Zusammenfassung
Militärische Erziehung in der Bundeswehr ist Charakterbildung. Der nur gut ausgebildete, funktions- und einsatzfähige, kampf- und kriegstüchtige Soldat ist — nach offizieller Lesart — noch kein guter Soldat; er bedarf der Erziehung. Die Legitimation der Erziehung in der Bundeswehr gründet in diesem Fehl der Ausbildung , in der Differenz von gut ausgebildeten und charakterlich gut gebildeten, d.h. kriegstüchtigen Soldaten. Erst der gute Soldat mit (Charakter-)Bildung ist bereit und willens, für Recht und Freiheit des deutschen Volkes, für die Bundesrepublik Deutschland und deren Verfassung (die Demokratie) einzutreten, tapfer zu kämpfen und äußerstenfalls sein Leben einzusetzen; aber auch Staatsbürger genug, daß er den Primat der Politik anerkennt und fur sinnvoll hält, daß er die Integration von Bundeswehr und Gesellschaft fördert und mehrt, indem er sich politisch bildet und seine Rechte — auch innerhalb der Armee — wahrnimmt. In dem fair unsere Streitkräfte in der Demokratie entwickelten Konzept der Inneren Führung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform wird diese Einheit von Bürger und Soldat, einzelnem und Gesellschaft, von Können und Wollen (Bereitschaft), Fähigkeit und Motivation vorgestellt und repräsentiert gedacht.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Anmerkungen
Vgl. HDv 100/100, Führung im Gefecht (TF/G), v. Sept. 1973, Nr. 701.
Vgl. z.B. FüAkBw, Kdr, Az 33–02–3/64 v. 22.11.1983: Lehrplan Funktionslehrgang Fortbildungsstufe C Lehrstabsoffizier (Didaktik), Katalognummer Lehr KatSK 120–C–135 und Anweisung für die Truppenausbildung, Nr. 2, Die Vollausbildung im Heer. 04410 Panzergrenadierkompanie. August 1977, Teil A, Gemeinsame Bestim–mungen, Anl. 6.
In dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform werden durchaus widersprüchliche Eigenschaften vereint und als Erziehungsziele gefordert: Selbständigkeit und Ge-horsam, Initiative und Disziplin, Kreativität und Ordnung, Toleranz und Konflikt-bereitschaft sind Eigenschaftspaare, die miteinander im Widerstreit liegen, und zu deren Vermittlung entgegengesetzte Wege eingeschlagen werden müßten.
Zum Gegensatz von Selbständigkeit und Gehorsam vgl. Hoffmann, Gisbert: Der Streit um die Erziehung in der Stabsoffizierausbildung, in: Die Neuordnung von Bildung und Ausbildung in der Bundeswehr, hrsg. von K.-E. Schulz, Baden-Baden 1982, S. 162. — Zum Gegensatz von Initiative und Disziplin vgl. Bigler, Rolf R.: Der einsame Soldat, Frauenfeld 1963, S. 168ff., bes. 178ff.; ferner Marshall, S.L.A.: Soldaten im Feuer, Frauenfeld 1951, S. 20f. u. 178 und Janowitz, Morris/Little, Roger W.: Militär und Gesellschaft, Boppard 1965 ( Orig. 1959 ), S. 62f.
Z.B. werden in der Beurteilungsvorschrift (ZDv 20/6, Personelle Auswahlmittel für Soldaten der Bundeswehr, v. Febr. 1974 ) keineswegs, wie man erwarten könnte, alle diejenigen Eigenschaften aufgelistet und als beurteilungsrelevant eingeführt; die in den anderen Vorschriften und im Soldatengesetz gefordert werden. Überdies stellt diese Vorschrift fachfremd den Persönlichkeitsmerkmalen Eignungs-und Lei-stungsmerkmale gegenüber. Sodann unterscheidet sie Merkmale, die einander ähneln, wie sie umgekehrt Eigenschaften in ein Merkmal versammelt, die man eher trennen möchte: So ist es sicherlich nicht leicht, zwischen dem charakterlichen Merkmal,Wille/Entschlußkraft` einerseits und den Eignungsmerkmalen,Einsatzbereitschaft` und,Durchsetzungsvermögen` andererseits, die sich auch in der Erläuterung (Anl. 9/2b) ähneln, zu unterscheiden. Wiederum läßt sich durchaus jemand vorstellen, der z.B. beharrlich, aber schwunglos ist (Begriffssammlung Anl. 10/1 Ia; Merkmal,Wille/ Entschlußkraft` ). Letztlich werden in der Begriffssammlung Eigenschaften z.T. anders als umgangssprachlich gewertet (I B,impulsiv` gilt als negativ).
Ich denke u.a. an: Rothacker, Erich: Die Schichten der Persönlichkeit, 6. erw. Aufl., Bonn 1967 (1. Aufl. München 1938); an Lersch, Philipp: Aufbau der Person, 10. Aufl., München 1962 (1. Aufl. München 1938); an Wellek, Albert: Die Polarität im Aufbau des Charakters, 3. Aufl., Berlin/München 1966 (1. Aufl. 1950 ).
Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse, Ges. Werke, Bd. XIII, S. 71ff.
Benutzt wird die Gesamtausgabe von Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Chrono-logisch geordnet. Bd. I - XVIII, Frankfurt: verschiedene Auflagen: insbes. „Das Ich und das Es“, Bd. XIII, S. 235ff. — „Jenseits des Lustprinzips”, Bd. XIII, S. 1ff. — „Abriß der Psychoanalyse“, Bd. XVIII, S. 63ff. — „Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse”, Bd. XV, S. lff. — „Das Unbehagen in der Kultur“, Bd. XIV, S. 419ff.
Zur Vielfalt der Erziehungsziele in der Bundeswehr vgl. u.a. die Tugendkataloge bei Portner, Dieter: Soldatische Tugenden und militärische Ausbildung heute, WK 1980, S. 615 und Wiesendahl, Elmar: Demokratischer Wertewandel und militärische Sub-kultur; in: Streitkräfte im gesellschaftlichen Wandel, hrsg. v. K.-E. Schulz, Bonn 1980, S. 110. — Die Vorschriften und die Hefte der Schriftenreihe Innere Führung, in denen sich viele unterschiedliche Charaktereigenschaften finden, werden hier nicht gesondert aufgeführt.
Beispiele sind den Jahresberichten des Wehrbeauftragen zu entnehmen, die als Bundestagsdrucksachen erscheinen.
ZDv 10/5: Der Innendienst, v. Aug. 1974, Nr. 105.
Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Ges. Werke, Bd. XIV, S. 451ff.; Ders.: Charakter und Analerotik. Ges. Werke, Bd. VII, S. 201ff.
Vgl. das anschauliche Konzept der Normenfalle bei Treiber, Hubert: Wie man Soldaten macht, Düsseldorf 1973, S. 51.
Vgl. z.B. den Jahresbericht 1981 des Wehrbeauftragten v. 3.3.19$3, Deutscher Bun-destag, 9. Wahlperiode, Drucksache 9/1406, S. 8 und Christian Schulze, in: Ganser, Helmut W.: Technokraten in Uniform, Reinbek b. Hamburg 1980, S. 85.
Zu den Abwehrmöglichkeiten vgl. Freud, Anna: Das Ich und die Abwehrmechanismen, München (Kindler Tb 2001 ).
Vgl. Wiesendahl, Elmar: Demokratischer Wertewandel ..., a.a.O., S. 104ff.
In der Phase des Heranwachsens (18–21 Jahre) begriffen, mag das Ich des Soldaten bei geglückter Sozialisation zwar gut ausgebildet sein, es ist mit Sicherheit noch nicht gefestigt.
Jahresbericht 1980 des Wehrbeauftragten v. 17.3.1981. Deutscher Bundestag, 9. Wahlperiode, Drucksache 9/240, S. 8: „Bruch zwischen zwei Welten“; Becker/Leist: Militarismus in der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1981, S. 99 und „Die ersten Tage”, in: ZIF, S. 53.
Vgl. Becker/Leist: ebd.
Häufiges Attribut der Rekruten im kritischen und offiziösen Schrifttum; vgl. Becker/ Leist, a.a.O., S. 98; Ganser, a.a.O., S. 84, S. 108, 120, 151 u.ö.; Steinert/Treiber: Erziehungsziel: Soldat, in: Klöss/Grossmann (Hrsg.): Unternehmen Bundeswehr, Frankfurt 1974, S. 107f., ferner; „Die ersten Stunden“, in: SIF, H.9/1980, S. 14; Kontakte, Erarb. v. H.-D. Bastian, Bonn 1979, S. 19, 103; „Die ersten Tage”, ZIF, S. 3, 13, 83.
Führungsfähigkeit und Entscheidungsverantwortung in den Streitkräften. Bericht der Kommission des Bundesministers der Verteidigung zur Stärkung der Führungs-fähigkeit und Entscheidungsverantwortung in der Bundeswehr v. 31.10. 1979, Zif. 29, S. 26.
Entschlossenheit: HDv 100/100 Führung im Gefecht (TF/G), Nr. 604, 1006; vgl. HDv 100/1 Truppenführung (TF), Nr. 38 u. 46, ferner ZDv 20/6 Anl. 10/1 Ia. Initiative: TF/G, Nr. 1007, HDv 100/200 Führungssystem des Heeres (TF/S), Nr. 207, ZDv 20/6 Anl. 9/1 Ba u. 9/4 IVa; ferner Eigeninitiative — Führungsfähigkeit.. a.a.O., Zif. 2, S. 3, Engagement: Führungsfähigkeit... a.a.O., Zif, 8, S. 12.
Kühnheit: TF, Nr. 39; Wagemut: TF, Nr. 41; wagen: TF/G, Nr. 1008 und TF, Nr. 66. Kampfwille: TF, Nr. 39.
freie schöpferische Tätigkeit“ TF, Nr. 64;kreatives Handeln: Führungsfähigkeit .. a.a.O., Zif. 8, S. 12; einfallsreich: TF/G, Nr. 603; vorausdenken: TF/G, Nr. 60, 603 u. TF, Nr. 46.
Tatkraft: TF/G 1007 und 1010, TF, Nr. 46, ZDv 20/6 Anl. 9/4 IVa und 10/1 Ia. Energieentfaltung: ZDv 20/6 Anl. 9/4 IVe; energisch: ZDv 20/6 Anl. 10/1 Ia.
Vgl. Führungsfähigkeit und ..., a.a.O., Zif. 22, S’20 (Kontroll-und Absicherungs-maßnahmen); Zif. 45, S. 40 (Absicherungsdenken); Empfehlung Nr. 34, S. 41 (kleinliches Absichern).
Seit dem Weißbuch 1973/74: „Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr“ braucht die Bundeswehr kein Feindbild mehr (Zif. 75, S. 51).
Zu dem Topos, Gruppenkohäsion als Kampfmotiv’ vgl. insbes. Moskos, Charles: Eigeninteresse, Primärgruppe und Ideologie, in: KZSS, Sonderheft 12/1968: Mili-tärsoziologie, S. 199–220.
Vgl. Terheggen, Michael: Gefühl: Sand im Getriebe? Offizierbrief 16. Offenbach/ Main, S. 13.
Vgl. Martini, Winfried: Freiheit auf Abruf, 3. Aufl., Köln/Berlin 1960, S. 328ff.
Vgl. Führungsfähigkeit und..., a.a.O., Nr. 29, S. 26.
Ebd.
Häufige Klage der Rekruten: vgl. z.B. Christian Schulze (S. 84) und Gerd Gerdes (S. 112), in: H. Ganser (Hrsg.): Technokraten ..., a.a.O.; ferner den Jahresbericht 1980 des Wehrbeauftragten, a.a.O., S. 9 und „Seit drei Wochen ...“, in: SIF, H. 1/84, S. 10, 14 u.ö.
Vgl. z.B. „Seit drei Wochen ...“, in: SIF, H. 1/84, S. 15ff.
Selbst wenn man rechtens bestimmte militärische Kampfgruppen als Primärgruppen anspricht, gerade weil sie ein starkes Wir-Gefühl entwickelt haben, also dem Kriterium der Intimität genügen, bleibt diese Bezeichnung eine empirische, die sich an der Faktizität orientiert. Sie schließt andere Gruppen aus, weil und solange sie diese Intimität nicht ausgebildet haben. Sie kommt meist unter besonderen (z.B. Kriegs-) Bedingungen zustande, die nicht beliebig verfügbar oder konstruierbar sind und nicht ohne weiteres auf andere Situationen (Frieden) übertragbar sind.
Vgl. Freud, Sigmund: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Werke, Bd. XIII, S. 101ff.
Zum Gegensatz von Humanität und Funktionalität vgl. Portner/Schulz/Driftmann/ Wullich: Grundlagen der Allgemeinen Wehrpädagogik, Regensburg 1977, S. 24, 58ff., 159.
Vgl. Selbständigkeit TF/G, Nr. 605 und TF, Nr. 37, 46–48. Wider die Bevormundung HDv 100/200, Nr. 203, Zur Verantwortung: GF/G, Nr. 606; TF, Nr. 37, 48 und HDv 100/200, Nr. 202.
Vgl. Anweisung für die Truppenausbildung, Nr. 2: Die Vollausbildung im Heer, Teil B: Gesamtausbildungsplan, a.a.O., S. 75ff.
Z.B. bei Hildebrandt, Horst: Führen in modernen Landstreitkräften: Kampftruppen/ Kampfunterstützungstruppen, H. 2, 1979, 49f. und Wörner, Manfred: Politik der Friedenssicherung im Atlantischen Bündnis, in: SEF, H. 1/1983, S. 40–51; vgl. aber auch die Anweisungen für die Truppenausbildung, Nr. 2, Teil A I 3, S. 11.
Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Werke Bd. XV, S. 86.
Vgl. TF/G, Nr. 1007 und TF, Nr. 68.
Bei der Panik kommt immer wieder der Augenblick, da die Realangst, die Angst vor der faktischen Bedrohung, durch die Triebangst verstärkt wird. Gerade die nicht ausgelebten Triebe sind es, die angstbereit und kopflos machen. Ausgelebte Triebe aber stärken das Ich und setzen es instand, der realen Situation realistisch zu begegnen.
Siehe Anm. 36.
Vgl. die Äuflerung Christian Schulzes in: H. Ganser (Hrsg.): Technokraten ..., a.a. O., S. 91.
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 1988 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Hoffmann, G. (1988). ICH-Stärkung unerwünscht? Über die Folgen der Über-Ich-Dominanz und der Es-Unterdrückung im Militär. In: Vogt, W.R. (eds) Militär als Lebenswelt. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10803-0_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-10803-0_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-8100-0532-8
Online ISBN: 978-3-663-10803-0
eBook Packages: Springer Book Archive